Film, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

augenblicke wach im jetzt titelCopyright © - Norbert Kopf

(Film 27:53-30:18) «Für mich gilt immer noch, was auch für mich als junger Mensch und sicher auch für dich gilt: Wenn wir uns fragen, was sollen wir jetzt weiter machen, kommt immer zuerst die Frage:

Was würde mich wirklich freuen? Das ist das Wichtigste. Das mache ich immer noch. Was soll ich morgen machen? ‒

Was würde mich wirklich freuen?

Aber es ist halt schon mehr Gewohnheit geworden, ich brauche das nicht ausdrücklich zu fragen.

Das zweite ist:

Kann ich es?

Wir wünschen uns manchmal etwas, möchten etwas machen, das wir gar nicht können. Fallschirmspringen oder sonst irgendetwas.

Und die dritte Frage, und die ist die Wichtigste, ist:

Wozu bietet mir jetzt das Leben Gelegenheit,
auf das hinzugehen, was mich am meisten freut?

Und dieses Hinhören, dieses Hinhorchen ist ganz etwas Wichtiges.

Ich habe einmal eine Geschichte gelesen ‒ wenn sie nicht wahr ist, ist sie gut erfunden ‒, dass jemand gesagt hat: ‹Also, was ich mir am meisten wünschen würde, ist, am Meer zu sitzen, zu lesen und sonst nicht viel zu tun zu haben.›
Die Frage ist: Was bietet mir jetzt das Leben als nächste Gelegenheit, dorthin zu kommen? Nachdem er die Annoncen für Berufe in Zeitungen gelesen hat, ist er dann Leuchtturmwächter geworden.»

Olivia: «Ein kreativer Umgang mit den Wünschen.»

Bruder David: «Es sind die kleinen Dinge, die man beachten muss, so kleine Schritte auf das hin, was einen am meisten freut.»[1]

Junge Menschen zur Zeit ihrer Berufswahl fragen mich oft:

«Wie kann ich der Welt am besten dienen?»

Ihr hohes Streben macht mir Freude und ich möchte eine Antwort geben, die ihnen wirklich bei ihrer Entscheidung hilft. Da kann ich nichts Besseres tun, als eine Antwort zu wiederholen, die nicht von mir stammt. Als ein Student Howard Thurman (1899-1981) die dringende Frage stellte: «Was kann ich nur tun, um der Welt zu helfen?» Da antwortete dieser weise Meister: «Tu’, was dir am meisten Freude macht. Die Welt braucht nichts dringender als Menschen, die alles, was sie tun, mit Freude tun.»

Der große Interpret des Heldenmythos, Joseph Campbell (1904-1987), gibt auf seine Weise den gleichen Rat, wenn er sagt:

«Follow your bliss!»

was so viel bedeutet wie «Lass’ dich von deiner Begeisterung leiten.»

Dabei ist freilich Begeisterung mehr als Nervenkitzel. Was uns Freude schenkt, ist nicht einfach das, was uns Spaß macht. Unser echtes Begehren sitzt tiefer als unsre Begierden.

Um herauszufinden, was wirklich dein tiefstes Begehren ist, wirst du einen Ort brauchen, an dem du ungestört allein sein und dir Zeit lassen kannst, um ganz still zu werden. Um innere Klarheit zu finden, ist Stille notwendig ‒ in uns und um uns herum.

Ein oft gebrauchtes Bild dafür ist trübes, aufgewirbeltes Wasser im Teich. In Stille wird es von selber klar. Du musst nichts tun, als zu warten, bis der Schlamm sich senkt, dann kannst du bis tief auf den Grund sehen. Stille ist auch unerlässlich, um die zarte Stimme des Herzens zu hören ‒ die Stimme unsres tiefsten Begehrens. Sie wird immer wieder übertönt vom lauten Schreien unsrer Begierden, verstummt aber doch nie ganz.

Begierden kommen und gehen. Um das bleibende Begehren unsres Herzens kennenzulernen, können wir uns also fragen: Wonach würde ich immer noch begehren, wenn all meine Begierden gestillt wären?

Die Antwort darauf wird uns zugleich auch klarmachen, was uns bleibend begeistert. Begeisterung im Sinne Campbells führt uns auf den Pfad des Helden, von dem der Mythos berichtet, dass er durch Todesschrecken gehen muss, um das begeisternde Ziel seines Begehrens zu erreichen.

Nur was uns zum Äußersten bereit macht, ist unsre wahre Begeisterung; von ihr dürfen wir uns leiten lassen.

Die zweite Frage, die uns helfen kann, unsre Berufung zu erkennen, betrifft unsre Begabung.

Was hat das Leben mir gegeben, um es zielstrebig zu nutzen?

So nüchtern wie möglich sollten wir das erwägen. Es kann ja vorkommen, dass wir einem bewunderten Vorbild nachstreben, das ganz anders begabt ist als wir selber. Auf unsre eigene Begabung aber kommt es an; auch sie ist einzigartig. Es fällt uns vielleicht schwer, an unsre Einzigartigkeit zu glauben. Aber selbst unsre Fingerabdrücke haben nicht ihresgleichen unter all den Milliarden von Mitmenschen, wie viel mehr muss das gelten für das vielfältige Gemisch all dessen, was unsre Begabung ausmacht.

Dazu gehören auch Antrieb, Ausdauer und alles, was wir benötigen, um unsre Talente durch Übung zu verbessern. Ja, sogar unsre Mängel sind ein wichtiger Teil unsrer Begabung. Sie können zum Ansporn werden, sie auszugleichen oder zu überwinden, und diese Bemühung entwickelt in uns eine moralische Kraft, die andren fehlt, weil sie sich nie so anstrengen mussten.

Auch Körperbehinderungen können auf ähnliche Weise zum Ansporn werden, gehören also auch zu dem, womit wir vom Leben beschenkt ‒ begabt ‒ wurden. Wäre Helen Keller (1880-1968) nicht blind und taub gewesen, sie wäre wohl nie die große Schriftstellerin, Aktivistin und von Millionen dankbar bewunderte Ratgeberin geworden.

Ganz gleich wie begabt du bist, es wird Mühe und Ausdauer kosten, aus deinen Talenten etwas zu machen. Mit Fleiß und Geduld kannst du auch gering erscheinende Talente zum Blühen bringen, und sie werden eine reiche Ernte tragen ‒ für dich und für die ganze Welt. Im großen Chor ist jede Stimme unentbehrlich; im großen Tanz ist jede Tänzerin, jeder Tänzer unersetzlich.

Auf unsre dritte Frage können wir erst antworten, wenn wir die beiden ersten beantwortet haben. Wir ahnen dann zumindest die Richtung unsres bleibenden Begehrens, in die unsre tiefste Begeisterung uns führen will. Und wir kennen unsre Stärken und Schwächen, die uns auf dem Weg dahin helfen oder hindern können.

Das sind Voraussetzungen, um weiter zu fragen:

Welche Gelegenheiten bietet mir das Leben,
meinem Ziel näher zu kommen?

In groben Umrissen werden wir diese Gelegenheiten vielleicht voraussehen können, während wir uns in Stille Zeit nehmen zu planen und Überblick über unsre Lage zu gewinnen. Wichtiger aber wird es sein, diese Frage immer wieder neu zu stellen. Das Leben bietet uns jeden Tag und jede Stunde unzählige Gelegenheiten zur Auswahl an.

Da heißt es, unser Begehren und unsre Begabung im Auge zu behalten. Nur im Hinblick auf sie werden wir Gelegenheiten erspähen, die wir sonst vielleicht übersehen hätten, jetzt aber unter den gegebenen Möglichkeiten auswählen.

Alles kommt darauf an, auch unsre kleinsten Entscheidungen von unsrer großen Ausrichtung bestimmen zu lassen. Der Weg zum Ziel besteht ja wie bei einer Wanderung aus vielen kleinen Schritten.

Für die allgemeine Richtung dürfen wir die Kompasslesung nicht vergessen, unser nächster Schritt aber muss dem Terrain an genau dieser Stelle angepasst sein. Was das Leben uns bringt, entspricht dem Terrain ‒ jeden Augenblick ein wenig verändert. Das fordert Achtsamkeit.

Mit Hilfe dieser drei Fragen eine Berufslaufbahn wählen zu können, ist freilich nur einem kleinen Prozentsatz junger Menschen geschenkt. Während diese sich oft überwältigt fühlen von der Überfülle der ihnen gebotenen Auswahl, haben weltweit die meisten überhaupt keine Wahl und müssen froh sein, wenn sie irgendeine Arbeit zum Lebensunterhalt finden. Wir müssen alles daransetzen, eine ungerechte Gesellschaftsordnung zu ändern, die auf diese Weise gegen die Menschenwürde verstößt.

Und was können wir jungen Menschen sagen, die gar keine Chance der Berufswahl haben?

Wenn wir ihre Lage ernst nehmen, dann zeigt sich: Das Entscheidende an unsrer Berufung sind nicht die äußeren Umstände, sondern unsre innere Haltung.

Unsre eigentliche Berufung ist nicht, was wir tun. Darüber können wir nur in begrenztem Ausmaß entscheiden. Aber wie wir es tun, das steht uns frei. Nicht auf unsren Platz im Kreis der Tanzenden kommt es an, sondern darauf, wie wir tanzen ‒ auf Achtsamkeit und Respekt für alle andren, besonders für die neben uns Tanzenden.

Fernstenliebe ist so viel bequemer als Nächstenliebe. Sie verlangt ja nichts Konkretes von uns. Nur durch unsre Nächsten, unsre Nachbarn im Tanzkreis, die wir an den Händen fassen, sind wir mit allen andren verbunden.[2]

Dein Leben ist untrennbar verbunden mit dem Leben aller andren ‒ dem ganzen Universum. Das allumfassende Leben wird dir schon zeigen, was du mit deinem Anteil am Ganzen tun sollst. Darauf darfst du dich vertrauensvoll verlassen.[3]

Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister,
und bauen dich, du hohes Mittelschiff.
Und manchmal kommt ein ernster Hergereister,
geht wie ein Glanz durch unsre hundert Geister
und zeigt uns zitternd einen neuen Griff.

Wir steigen in die wiegenden Gerüste,
in unsern Händen hängt der Hammer schwer,
bis eine Stunde uns die Stirnen küsste,
die strahlend und als ob sie Alles wüsste
von dir kommt, wie der Wind vom Meer.

Dann ist ein Hallen von dem vielen Hämmern
und durch die Berge geht es Stoß um Stoß.
Erst wenn es dunkelt lassen wir dich los:
Und deine kommenden Konturen dämmern.

Gott, du bist groß.
[4]

Sagen wir es noch einmal, denn es verdient oft wiederholt zu werden: Wir dürfen dem Leben vertrauen, dürfen uns dem Geheimnis, das uns darin «entgegenwartet»[5], anvertrauen.

Die Antwort auf jede Berufung wird einem Dreischritt folgen: still werden, sonst können wir nicht horchen; hinhorchen, sonst können wir nicht hören, wozu das Leben uns ruft; und antworten auf den gehörten Ruf ‒ innehalten, innewerden und tun. Das gilt für Berufung im Großen, will aber Augenblick für Augenblick im Kleinen geübt werden. Wir nennen diese Übung: Stop ‒ Look ‒ Go.[6]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-3, 6]

[Ergänzend:

1. Weitere Auszüge aus ‹Berufung ‒ ‹Folge deinem Stern›!› im Buch Orientierung finden (2021), 90f., in Berufung ‒ Folge deinem Stern (2022); 100f. und 95f., in Treue; 97, in Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 3.1.; 99-101, in Dem Leben vertrauen

2. Fünf Schritte, wie du zu deiner Berufung findest (2015)

3. Audios zu ‹Berufung ‒ dem Leben antworten›

Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 1 ‒ Vormittag:
‹Drei Grundfragen … und Gespräch:
(45:00) Wissen und Weisheit ‒ Intuition, ein inneres Sehen ‒ Weise Menschen sind Herzmenschen / (52:29) Freiheit als Antwort auf die Frage, die das Leben mir in diesem Augenblick stellt / (58:30) Gibt es falsche Antworten? Mit Situationen umgehen, in denen wir versagten oder die Gelegenheit versäumten: Sich erinnern, den Fehler eingestehen, aber keine Energie verschwenden mit Schuldgefühlen / (01:12:35) Das Aufschieben der Bedürfnisbefriedigung in der Erziehung von Kindern
Tag 2 ‒ Nachmittag:
‹Im Selbst sein und im Jetzt sein ist identisch›:
(38:11) Das Selbst spielt in jedem Ich eine einzigartige Rolle ‒ der Vergleich mit dem Kasperltheater ‒ Unsere Rollen sind uns weit mehr aufgegeben als wir meinen ‒ Mir ist eine Rolle aufgegeben: Wie kann ich sie gut spielen? ‒ Freiheit ist ein Wesenszug von allem, was es gibt / (42:00) Wir sind zu einem gewissen Grad frei, uns dem Leben hinzugeben oder uns gegen das Leben zu sträuben: Immer wieder ins Jetzt kommen und das Leben durch uns fließen lassen. Im Jetzt sein heißt, sich der Frage, der Aufgabe stellen, die das Leben uns jetzt stellt: ‹Es gibt nichts Gutes, außer man tut es› / (45:19) ‹To live in tune with the world› ‒ ‹Alles ist Schwingung, alles ist Klang›: Im Einklang mit dem Leben tanzen ‒ tanzend arbeiten]

________________

[1] Interview mit Bruder David im Film Der Sinn des Lebens und die Dankbarkeit (2024)

[2] Orientierung finden (2021): ‹Berufung ‒ ‹Folge deinem Stern!›, 91-95

[3] Ebd. 100

[4] R. M. Rilke, Das Stunden-Buch, in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 73f.

[5] Sinne und Kind werden, Anm. 7:

Das Wort ‹entgegenwarten› stammt von Rilke: Nach aller Kunst wieder einmal Natur. Nach dem vielen das eine, nach dem Suchen diesen einen großen und unerschöpflichen Fund, in welchem tief innen noch unberührte Künste einer leisen Erlösung entgegenwarten. (R. M. Rilke, Das Florenzer Tagebuch)

[6] Orientierung finden (2021): ‹Berufung ‒ ‹Folge deinem Stern!›, 100f.



Quellenangaben

logo bibliothek

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.