Text von Br. David Steindl-Rast OSB

augenblicke wach im jetzt titelCopyright © - Norbert Kopf

Aber nur wenige Worte aus unserem Sprachgebrauch werden so sehr missverstanden wie das Wort Muße.

Das wird sofort deutlich, wenn wir von Arbeit und Muße als einem Gegensatzpaar sprechen. Heißen die beiden Pole aller Aktivität wirklich Arbeit und Muße? Wenn dem so wäre, wie könnten wir dann von einem Arbeiten in Muße sprechen? Das wäre ein offensichtlicher Widerspruch. Und doch wissen wir, dass es ganz und gar kein Widerspruch ist. Tatsächlich ist es so, dass jede befriedigende Arbeit mit Muße verrichtet werden will.

Was also ist nun das Gegenteil von Arbeit, wenn es nicht Muße ist? Es ist das Spiel. Arbeit und Spiel ‒ das sind die beiden Pole aller Aktivität. Und was wir über Zweck und Sinn gelernt haben, wird uns hier helfen, dies klarer zu erkennen.

Wann immer du arbeitest, dann tust du das, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Gäbe es diesen Zweck nicht, dann hättest du etwas besseres zu tun. Arbeit und Zweck sind so eng miteinander verknüpft, dass deine Arbeit endet, sobald dein Zweck erreicht ist. Oder willst du dein Auto weiter reparieren, wenn es bereits wieder läuft? Das mag weniger offensichtlich sein, wenn du den Boden fegst. Ist es nicht möglich, den Boden weiter zu fegen, selbst dann, wenn sich kein Staubkörnchen mehr findet? Nun, du kannst natürlich mit dem Besen weiterfegen, wenn es dir Spaß macht, aber dein Zweck ist längst erreicht, und damit endete die Arbeit als solche. Früher oder später wird dich sicherlich jemand fragen, warum du noch immer mit dem Besen herumspielst. Was einmal Zweck hatte und Arbeit war, ist jetzt eben zum Spiel geworden.

Beim Spiel liegt die gesamte Betonung auf dem Sinn der Aktivität. Sagst du deinen Freunden, dass es dir außerordentlich sinnvoll erscheint, an einem Freitagabend mit einem Besen herumzutanzen, dann mögen sie dich zwar verwundert anschauen, ernsthaft widersprechen können sie hingegen kaum. Spiel braucht kein Ziel. Darum kann das Spielen immer weitergehen, solange die Spieler es für sinnvoll halten. Schließlich tanzen wir ja nicht, um irgendwo hinzukommen. Wir tanzen im Kreis.

Eine Symphonie endet nicht, wenn sie ihren Zweck erfüllt hat. Genau genommen hat sie keinen Zweck. Es ist spielerische Sinnentfaltung, die sich in jedem ihrer Rhythmen, in jedem Satz und jedem Thema offenbart: Sinn zu feiern, darum geht es.

Menzlers Kanon ist eine der großartigen Überflüssigkeiten des Lebens. Wann immer ich ihm zuhöre, erkenne ich aufs Neue, dass einige der überflüssigsten Dinge die notwendigsten für uns sind, weil sie unserem menschlichen Leben Sinn verleihen.

Wir sollten darauf achten, dass wir nicht Muße und Arbeit gegeneinander ausspielen. Muße ist die Ausgewogenheit von Arbeit und Spiel. Muße wird beiden gerecht.

Aber selbst das könnte missverstanden werden. Zu hastig könnte jemand sagen: «Jawohl, wenn Spiel, dann Spiel; wenn Arbeit, dann Arbeit. Jedes zu seiner Zeit. Eine perfekte Balance, nicht wahr?» Nicht besonders perfekt, wie mir scheint. Geht mir perfekte Arbeit nicht auch spielerisch von der Hand? Menschen, die ihre Arbeit mit nichts als ihrem Ziel vor Augen verbringen, wissen kaum mehr, was spielen heißt, wenn ihre Freizeit schließlich anfängt.[1]

(Film 34:54) «Wenn wir Hausarbeit wirklich mit offenem Herzen tun, dann wird das Aufkehren, das Abstauben, das Zusammenräumen eine Art Liebkosung unserer Wohnung.

Wenn wir mit wirklich offenem Herzen das Geschirr berühren, während wir es abwaschen, dann wird uns auch das zu einem ganz tiefen Erlebnis. Bei der Teezeremonie zum Beispiel in Japan werden schwere Geräte aufgehoben wie wenn sie ganz leicht wären und leichte Geräte als ob sie ganz schwer wären. Wenn wir das einmal beim Geschirrabwaschen versuchen, einen kleinen Teelöffel aufzuheben als wäre er ganz schwer ‒ einen schweren Kessel aufzuheben als wäre er ganz leicht, dann wird uns auch das zu einem neuen Erlebnis. Wir sind dann vielleicht ganz anders darauf eingestimmt, dass das warme Wasser wirklich warm ist und das kalte Wasser wirklich kalt. Durch alle diese Erlebnisse spricht uns die Wirklichkeit an und das kann zu einem viel tieferen Bewusstsein führen.»[2]

«Nur wenn wir im Einklang mit dem Leben handeln, fließt die Kraft des Lebens durch uns.

«Ganz gleich, ob wir im Garten arbeiten, ein Buch lesen, ein Hemd bügeln oder an einer Telefonkonferenz teilnehmen, ‹gute Arbeit› ist wie ein kosmisches Ballspiel, ‹wie ein heiliger Tanz.›»[3]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-3]

[Ergänzend:

1. Schlüsselwort ‹Arbeit/Spiel›, in: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 165 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 166]:

«Menschliches Handeln ist von zweierlei Art: Arbeit und Spiel. Wir arbeiten, um einen nützlichen Zweck zu erfüllen. Aber wir spielen aus sinnvollem Vergnügen. Spiel ist in sich selbst sinnvoll. Wir können in unserer Arbeit dermaßen zweckorientiert werden, dass wir selbst nach der Arbeit nicht länger spielen können; bestenfalls können wir uns eine weitere Runde Arbeit verschaffen. Nützlichkeit verdrängt unser Vergnügen. Welch eine Zeitverschwendung! Aber wir können Arbeit davor schützen, zu bloßer Plackerei zu werden. Wir können lernen, spielerisch zu arbeiten. Das aber bedeutet, unsere Arbeit nicht nur im Blick auf ihre brauchbaren Resultate zu verrichten, sondern auch wegen des Vergnügens, das wir dabei empfinden, wenn wir sie aufmerksam und dankbar verrichten. Dankbare Arbeit ist spielerische, gelassene Arbeit. Nur gelassene Arbeit ist auf lange Sicht fruchtbar. Nur wenn wir spielerisch arbeiten, sind wir wirklich lebendig.»

2. Sterben lernen (2005); siehe auch Muße:

«Diese innere Einstellung, sich selbst hinzugeben, ein Gehenlassen von Augenblick zu Augenblick ist es, was uns so besonders schwer fällt, doch kann man es anwenden auf beinahe jedem Gebiet unserer Erfahrung.

Wir haben zum Beispiel die Zeit erwähnt. Da ist das ganze Problem der Freizeit, wie wir sie nennen, der Entspannung und Muße.

Wir denken uns als ein Privileg derer, die es sich leisten können, sich Zeit zu nehmen (dieses ewige ‹Nehmen›!), während sie in Wirklichkeit überhaupt kein Privileg ist. Muße ist eine Tugend, und zwar eine, die jeder sich leisten kann. Es geht hier nicht darum, sich Zeit zu nehmen, sondern Zeit zu geben, ‹sich Zeit zu lassen›.

Muße ist die Tugend derjenigen, die sich Zeit nehmen für was immer es ist, das Zeit braucht ‒ dieser Angelegenheit so viel Zeit schenken, wie sie benötigt. Das ist der Grund, warum Muße für uns beinahe unerreichbar ist. Zu sehr sind wir ausgerichtet auf Nehmen, auf Aneignen. Und so gibt es mehr und mehr freie Zeit ‒ und immer weniger Muße. In früheren Jahrhunderten, als für alle viel weniger freie Zeit zur Verfügung stand und es keine ‹Ferien› gab, da entspannten sich die Leute während der Arbeit. Heute arbeiten sie hart, um sich zu entspannen.

Es gibt Leute, die arbeiten von morgens um neun bis abends um fünf mit der Einstellung: Lasst es uns erledigen, lasst uns die Sache an die Hand nehmen. Sie sind vollkommen zweckorientiert, und wenn es endlich fünf Uhr ist, sind sie so erschöpft, dass sie keine Zeit mehr haben für richtige Muße. Wer nicht entspannt arbeitet, kann auch nicht entspannt spielen. So kommt es zum Zusammenbruch, oder die Leute nehmen ihren Tennis- oder Golfschläger und fahren fort mit der Arbeit, die dann ‹Freizeittätigkeit› genannt wird.»

3. Der Mönch in uns (1978) [dieser Text findet sich, übersetzt von Bernard Schellenberger, weitgehend auch im Buch Auf dem Weg der Stille (2023): Kapitel 3: ‹Der Mystiker in uns allen›, 43-63]; siehe auch Einfach leben ‒ dankbar leben: 365 Inspirationen (2014): Kernsätze zum 9. und 10. Mai:

«Arbeit ist diese besondere Art von Aktivität, die auf einen bestimmten Zweck ausgerichtet ist, und wenn dieser erreicht ist, hört die Arbeit auf.»

«Gewöhnlich denken wir, dass das Gegenteil von Arbeit Muße ist. Muße ist nicht das Gegenteil von Arbeit. Spiel ist das Gegenteil von Arbeit, wenn du einen Gegensatz haben willst. Und die Muße überbrückt die Lücke zwischen Arbeit und Spiel. Muße ist, seine Arbeit in der Haltung des Spielens zu tun.»

4. Im Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-14, geht Bruder David ausführlich ein auf den Zusammenhang von Sinn und Zweck, Arbeit Spiel und Muße, Kontrolle und Hingabe, Sinn und Feier, Sterben und Wandlung ein:

«Beachten Sie, dass wir Sinn und Zweck nicht gegeneinander ausspielen. Es geht uns nicht um ein Entweder-Oder, sondern um ein Sowohl-Als-auch. Wir müssen unterscheiden, aber wir dürfen nicht trennen. Das gilt auch von den Begriffen Arbeit und Spiel. Die beiden sind miteinander verbunden in dem Begriff von Muße. Muße ist freilich ein oft missverstandener Begriff. Verwechseln wir nicht allzuoft Muße mit Müßiggang? Muße ist aber keineswegs Untätigkeit. Wie könnten wir sonst mit Muße arbeiten? Und wir wissen doch, dass die beste Arbeit in Muße geleistet wird. Diese echte Muße ist aber die Ausgewogenheit zwischen Arbeit und Spiel.

Nun missverstehen wir das oft so, dass wir meinen, man müsse zuerst arbeiten und nichts als arbeiten, um dann endlich zum Lohn spielen zu können. Wenn man aber nicht schon spielerisch arbeitet, dann kann man auch nachher nicht spielen. Kennen wir nicht Leute, die während der Arbeitszeit wie wild arbeiten und dann nachher entweder erschöpft zusammenbrechen oder während der Freizeit einfach weiterarbeiten, nur jetzt mit Spielzeug als Werkzeug? Sie kommen aus der Zwangsjacke der Zweckgerichtetheit einfach nicht heraus. Wenn man nicht schon mit Muße arbeitet, kann man auch nicht mit Muße seine Freizeit gestalten.

Heute gibt es mehr und mehr Freizeit und weniger und weniger Feierabend und Muße. Aber warum fallt es uns so schwer, uns der Muße und Feier hinzugeben?»]

___________

[1] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 67-69 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 66f.

[2] Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription; siehe auch Tasten, berühren, behüten: Ergänzend: 1.

[3] Orientierung finden (2021): ‹Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens›, 108f.; siehe auch Fließweg



Quellenangaben

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