Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Genau der jetzige Augenblick kann der Beginn eines neuen Lebens sein. (1. Februar)[1]
Wenn du morgens den Bus nimmst oder dich ins Auto setzt, während es noch dunkel ist, dann beginn gar nicht erst damit, dir Sorgen über den kommenden Tag zu machen. Achte nur auf den Augenblick, wenn das Licht aus der Dunkelheit steigt: «Mir wird ein neuer Tag gegeben. (…) Welche Haltung sollte ich diesem Tag entgegenbringen? Wofür ist es Zeit? Zeit, sich zu erheben und zu leuchten.» (2. Februar)[2]
Die liebevolle Antwort auf die Aufforderung eines jeden Augenblicks befreit uns aus der Tretmühle der Uhrzeit und öffnet eine Tür ins Jetzt. (6. Februar)[3]
Wir leben im Jetzt, indem wir uns auf den Ruf eines jeden Augenblicks einstimmen, indem wir hören, was jede Stunde und jede Situation von uns verlangt, und indem wir darauf antworten. (9. Februar)[4]
Unser wahres Glück, unser unverlierbares Glück besteht darin, im gegebenen Augenblick völlig da zu sein. «Zum Augenblicke möcht ich sagen, verweile doch, du bist so schön», so hat Goethe das im Faust formuliert, weil eben wahres Glück nur da ist, wenn wir im Augenblick sind. (13. Februar)[5]
Wenn wir nach innen schauen, sehen wir: Das Glück ist nicht irgendwo vor uns, es ist schon da. Dem Glück nachjagen, das ist so wie wenn jemand seinem eigenen Schatten nachjagen wollte. Im Augenblick, wo wir stehen bleiben, bleibt auch der Schatten stehen. Die Freude ist unser eigentliches Wesen. Sie ist immer da, nur wir sind nicht da. (14. Februar)[6]
Das Gegenteil von Freude ist nicht die Traurigkeit, sondern die Faulheit, welche die Mühe scheut, auf den geschenkten Augenblick voll und ganz zu antworten, und die Trübsinnigkeit, die der Faulheit entspringt. (17. Februar)[7]
Die meisten von uns leben sehr hastige, sehr unruhige und volle Tagesläufe. Wir müssen in diese Tagesläufe irgendwo kleine Augenblicke des Innehaltens einfügen. (10. Juli)[8]
Was in jedem Augenblick von uns verlangt wird, ist doch ganz einfach. Wir lernen es schon als Kinder beim Überqueren der Straße:
Nur wer still hält, sieht, was zu tun ist ‒ hier und jetzt ‒ und nur wer klar sieht, kann hilfreich handeln. (24. Februar)[9]
In Augenblicken glühendster Lebendigkeit wird uns bewusst, dass wir inmitten allen Wandels etwas in uns kennen, das Bestand hat: Wir haben Anteil am Sein. In solchen Augenblicken wird uns klar, dass unser eigenes Sein am Einen, Schönen, Guten und Wahren Anteil hat und daher unzerstörbar ist, so wie diese höchsten Werte es sind. (10. März)[10]
Wenn wir uns bewusst sind, auf wie viele unzählige Arten und Weisen wir im Leben gesegnet sind, dann sind wir wie ein Vermögender, der großzügig ist, ohne Angst zu haben, dass ihm die Mittel je ausgehen werden.
Wenn wir, wenn auch nur einige Augenblicke lang, immer wieder üben, auf unseren Atem zu achten, dann können wir bewusst erleben: Jeder Atemzug fließt als Segen in uns hinein; jeder Atemzug fließt als ein Weitergeben dieses Segens wieder hinaus. (15. August)[11]
Einfach einige Augenblicke lang innehalten und sich der Macht der Liebe öffnen, die das Universum in Gang hält. Ihr Wesen ist still sein und segnen, innehalten und danken. Halte also ein und segne. Halte ein und danke. (11. April)[12]
Wahre Freude und Selbstvergessenheit gehen Hand in Hand. Das Glück kommt daher, dass wir uns nicht auf uns selbst verlassen, dass wir uns auf das uns in jedem Augenblick neu geschenkte Leben verlassen. Wir verlassen uns, da wir nicht völlig auf uns selber eingestellt sind, auf das Leben, auf die anderen, auf die Güte, nicht nur Gottes, sondern des Göttlichen, das uns durch alles zukommt. Wir verlassen uns auf das Leben. (5. Oktober)[13]
Die Quelle des Lebens ist letztlich das, was Menschen, die das Wort «Gott» richtig verwenden «Gott» nennen. Also das ES, das alles gibt, ist das unergründliche Geheimnis, aus dem jeden Augenblick Alles hervorkommt. (30. Juli)[14]
Das «Gekreuzigt» im Credo heißt, dass es nichts im Leben oder im Tod geben kann, in das wir nicht mit Gottvertrauen hineingehen können, kein Unrecht, kein Leid, keine Katastrophen, in denen wir Gott nicht finden können. Im Augenblick seiner äußersten augenscheinlichen Abwesenheit ist Gott gegenwärtig. (18. April)[15]
In Augenblicken, in denen uns unsere tiefste Zugehörigkeit ‒ und somit GOTT ‒ bewusst wird, quillt gläubiges Vertrauen ganz spontan auf. Abraham Maslow spricht da von Gipfelerlebnissen. (21. Juni)[16]
Gelegenheit macht kreativ. Und zwar kreativ in Beziehung. Das ist so ungeheuer wichtig, weil wir hinhorchen auf das Gegebene oder auf den Menschen, der uns da gegenüber steht ‒ jetzt, als gegeben in diesem Augenblick. Und dann werden wir kreativ in unseren Beziehungen zu den anderen Menschen. (14. September)[17]
Je älter man wird, umso mehr wird einem bewusst, wie vergänglich alles ist. Und wenn wir die Vergänglichkeit von jedem Augenblick ‒ von all dem, was uns in einem Augenblick geschenkt wird ‒ wahrnehmen, dann wird es umso wertvoller. (10. April)[18]
Wir beten: Jetzt und in der Stunde unseres Todes. T.S. Eliot, der große englische Dichter, sagt: Die Stunde des Todes ist jeder Augenblick.[19] Denn in jedem Augenblick kommt die Zeit zu Ende und das Jetzt bleibt. Wenn wir also im Jetzt dankbar leben, dann gibt uns das eine ungeheure Freiheit. (8. April)[20]
Wir befürchten, dass der Tod uns wie ein Dieb in der Nacht überfällt, bevor wir überhaupt Gelegenheit hatten zu leben. Diese Furcht ist dann am größten, wenn wir nicht im Augenblick leben. (2. November)[21]
Wir brauchen uns nicht länger darüber Sorgen zu machen, dass unsere Zeit unaufhaltsam abläuft. Die Zeit, die so abläuft, ist für uns schon im Jetzt aufgehoben, sie ist außer Kraft gesetzt, abgeschafft. Aber gerade deshalb dürfen wir jeden Augenblick als Gabe und Aufgabe voll ausschöpfen. (11. November)[22]
[Obige Texte sind dem Buch Einfach leben ‒ dankbar leben: 365 Inspirationen (2014) entnommen, siehe die Quellenangaben in Anm. 1-22]
[Ergänzend:
2. Audios
2.1. So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(48:06) Schlusswort von P. Nathanael: Er dankt Bruder David und schließt mit den Zeilen des Gedichtes von Andreas Gryphius ‹Betrachtung der Zeit›:
‹Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen;
Mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen;
Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in acht,
So ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht.
Wenn wir das nicht jetzt erleben, kommt es auch in Zukunft nicht! Nur im Augenblick gelingt das Leben.›
2.2. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Viertes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(02:05) Sei allem Abschied voran (Rilke, Sonette an Orpheus 2. Teil, XIII) – Der Augenblick:
(14:37) Bruder David: «‹Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige, sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug›:
Das Glas klingt und zerbricht.
In diesem Augenblick klingen und zu diesem Augenblick sterben, damit wir frei sind und lebendig sind für den nächsten Augenblick.»
(21:00) Teilnehmer: «Wer das Geheimnis des Augenblickes kennt, kennt das ganze Geheimnis des Lebens.»
Bruder David: «Weil das Leben aus Augenblicken besteht.»
(22:24) Bruder David: «Wir kommen mit dem Leben nicht aus, wenn wir nicht das Leben Augenblick zu Augenblick nehmen. Wenn wir immer die ganze Last der Vergangenheit und die die ganze Unsicherheit der Zukunft mittragen müssen.»
(22:59) Bruder David: «‹Zu diesen ‒ Vergangenheit und Zukunft ‒ ‹unsäglichen Summen zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl›: das ist der Augenblick.»
(24:05) Teilnehmer: «Ich habe das einmal erlebt, dass in einem Augenblick, vielleicht in zwei Sekunden, das ganze Leben abgelaufen ist in einer Gefahrensituation. Das ist für mich dieses intensive Erleben dieses Augenblickes, in dem dieser Lebensfilm abläuft.»
Bruder David: «… im Augenblick eben alles schon enthalten ist, zugleich da ist. Im Jetzt. Weil das Entscheidende an jedem Augenblick das Jetzt ist, das Überzeitlichkeit innerhalb der Zeit ist. Und wenn die Zeit dann wegfällt, bleibt nur dieses Überzeitliche für uns. Und so kann man vielleicht irgendwie auch dem näherkommen, dass es für uns möglich ist, in einem Augenblick so viel zu erleben.»]
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[1] Musik der Stille (2023), 72
[2] Musik der Stille (2023), 62; siehe auch Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Lächelnd den Tag aufhellen›, 47
[3] Musik der Stille (2023), 24
[4] Musik der Stille (2023), 19f.
[5] Alte Botschaft in eine neue Zeit (1991): Interview von Lorenz Marti mit Bruder David für Radio DRS
[6] Ebd.
[7] Musik der Stille (2023), 102
[8] Wege zum Glücklichwerden (2012): Vortrag von Bruder David in der Großen Universitätshalle, Salzburg
[9] Sommergrüsse (2012)
[11] Musik der Stille (2023), 83; siehe auch Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Unerschöpfliche Mittel›, 82
[12] Musik der Stille (2023), 89
[13] Alte Botschaft in eine neue Zeit (1991): Interview von Lorenz Marti mit Bruder David für Radio DRS
[14] Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der Evangelischen Ludwigskirche, Freiburg (DE)
Vortrag:
(13:39) Nachdenken über den Satz ‹ES gibt mich›.
Siehe auch: Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Vortrag und wortgetreue Mitschrift in den folgenden 8 Audios:
‹Was fördert gesundes spirituelles Wachstum›; siehe auch die Mitschrift
[17] Wege zum Glücklichwerden (2012): Vortrag von Bruder David in der Großen Universitätshalle, Salzburg
[18] Ebd.
[19] T. S. Eliot sagt in den Four Quartets: The Dry Salvages, III; siehe auch Doppelbereich Ich-Selbst:
‹Die Zeit des Sterbens ist jeder Augenblick.› ‒ ‹And the time of death ist every moment.›
[20] Siehe Anm. 17
[21] Musik der Stille (2023), 108f.