Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

gott barbara kraemer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Zugehören ist immer etwas Gegenseitiges. Das ist selbst dann wahr, wenn es um Dinge geht. Wir neigen leider dazu, unsere Beziehung zu den Dingen, die uns gehören als einseitiges Besitzverhältnis zu betrachten. Das färbt unsere Liebe zu Dingen. Es gibt ihr die falsche Farbe. Richtig aufgefasst ist auch die Liebe zu Dingen ein «Ja» zum gegenseitigen Zusammengehören, ganz gleich, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht.

Du magst vielleicht denken, dass dein Auto dir lediglich so zugehört, dass du es besitzt, dass es deinen Bedürfnissen dient. Aber das Auto weiß es besser. Es wird dir nur solange dienen, wie du seinen Bedürfnissen dienst und es pflegst. Das beinhaltet Gegenseitigkeit: «Ich bringe dich dort hin, wenn du für meinen Ölverbrauch sorgst.» Wenn du dein Auto wirklich liebst, dann wirst du auf seine Bedürfnisse achten. Du wirst intuitiv erfassen, dass ihr zwei zusammengehört. Liebe nimmt dieses gegenseitige Dazugehören ernst. Liebe kümmert sich, selbst um Dinge.

Natürlich kennt dieses gegenseitige Zusammengehören verschiedene Grade von Tiefe und Nähe. Auf der Ebene der Gegenstände verlangt es uns am wenigsten ab. Die Bindung kann hier auch leicht wieder gelöst werden. Mein Schweizer Taschenmesser stellt nur wenige Anforderungen an mich, gemessen an den ausgezeichneten Diensten, das es mir leistet. Und sollte ich es verlieren, dann dürfte es jedem, der es findet, leichtfallen, sein glücklicher Besitzer zu werden.

Die Pflanzen, die ich aufgezogen habe, würden schon nicht so leicht mit jemand anders zurechtkommen. Und wenn es um deinen verlorenen Hund geht, dann erkennst du, dass wir es mit einer wesentlich tieferen Ebene gegenseitigen Zusammengehörens zu tun haben. Es dürfte schwer zu sagen sein, wer den Verlust tiefer empfindet, du oder der verlorene Hund. Meine kleine Nichte schickte ihrem Pudel eine Ansichtskarte aus den Ferien, die sie mit «Lisa, deine Besitzerin» unterschrieb. Der Pudel aber ließ nie einen Zweifel aufkommen, dass er sich als Lisas Besitzer empfindet, so wie das Schwein in Denise Levertovs herrlichem Gedicht, das die Familie als «meine Menschen» nennt.[1]

Unter Menschen kann gegenseitiges Zusammengehören offensichtlich eine Intensität erreichen, die weit über das hinausgeht, was wir mit Dingen, Pflanzen oder Tieren erleben. Und hier dürfte es auch am angemessensten sein, von Liebe zu reden.

Tatsächlich bestehen einige Leute darauf, dass das Wort «Liebe» auf unser Verhältnis zu Menschen und zu Gott beschränkt werden sollte. Aber ich habe eine Beobachtung gemacht. In meinem Bekanntenkreis haben gerade jene, die pedantisch zwischen Liebe und gernhaben unterscheiden, oft wenig Gespür dafür, dass Zusammengehören immer gegenseitig ist. Die gleichen Leute finden es schwierig, sich unsere Beziehung zu Gott als wirklich gegenseitig vorzustellen.

Ich muss zugeben, dass ich es selbst lange Zeit für irgendwie anmaßend hielt, Gott im Gebet als «mein» Gott anzusprechen. Damals war Besitz noch die einzige Bedeutung, die «mein» für mich hatte. Und Besitz bedeutete für mich Besitzrecht ohne irgendeinen Gedanken an die Pflichten, die damit untrennbar verbunden sind.

Langsam aber gelangte ich zu der Erkenntnis, dass ich selbst irgendwie zu allem gehöre, das mir gehört, dass Gehören ein Geben-und-Nehmen bedeutet.

Vielleicht kam mir diese Einsicht mit der Entdeckung, dass die Tomatenpflanzen in der Ecke meines Gartens verwelken würden, wenn ich vergessen sollte, ihnen Wasser zu geben; dass meine weiße Maus darauf bestand, gefüttert zu werden, da sie sonst an Dingen zu knabbern begann, die ich ihr nicht geben wollte; ja, dass selbst meine Rollschuhe eine gewisse Fürsorge von mir verlangten.

Und ich entdeckte noch etwas anderes: Dinge gehören mir umso mehr, als ich ihnen gehöre. Das kleine Wort «mein» bedeutet mehr, wenn es auf meine Taube bezogen ist, als wenn damit meine Schuhe gemeint sind, und noch mehr, wenn es sich auf die Gruppe von Freunden bezieht, zu denen ich gehöre.

Wenn ich Gott uneingeschränkt gehöre, dann folgt daraus, dass Gott mir auch uneingeschränkt gehört.

Auf alles andere bezogen, ist das «mein» eingeschränkt. Seitdem mir das klar geworden ist, hat «mein» für mich nur dann seinen vollen Klang, wenn ich «mein Gott» sage.

Dies sagt mir ein weiteres über das Wort «mein». Es zeigt mir, dass «mein» umso passender wird, je weniger es Ausschließlichkeit bedeutet. Ich möchte es anders ausdrücken: je mehr etwas wirklich mein ist, desto weniger ist es nur mein.

Wir erkennen das in jenen Augenblicken, in denen wir ganz besonders wach und lebendig sind, in Momenten, in denen wir Gott ahnen. Dann erleben wir totale Zugehörigkeit. Einen Augenblick lang wissen wir einfach, dass alles uns gehört, weil wir allem angehören.

Im Licht jener Erfahrung können wir aus ganzem Herzen sagen: «Alles ist mein.» Aber «mein» ist dann ganz und gar nicht ausschließlich gemeint. Es kommt aus dem Herzen, wo jedes mit allem eins ist. Das Herz sagt «Ja» zu diesem universellen Zusammengehören und weiß sofort, dass «Ja» ein Name Gottes ist.

Für mich wirft diese Einsicht neues Licht auf die Wahrheit: «Gott ist die Liebe» (1 Johannes 4,8).

Momente, in denen wir dies erleben, sind Schlüsselmomente für das Verständnis dessen, was Fülle des Lebens bedeutet. Darum müssen wir auch dann und wann auf sie zurückkommen.

Sie sind zugleich Momente überwältigender Dankbarkeit. Wir haben das schon früher erkannt, aber jetzt sind wir in einer besseren Lage zu verstehen, warum das so ist. Ganz am Anfang unserer Untersuchung von Dankbarkeit entdeckten wir schon, dass das «Ja» zur gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Geber und Empfänger der springende Punkt ist. Schenken und Danken dreht sich um den Angelpunkt dieses «Ja». Geber und Empfänger werden im Danksagen eins. Und das «Ja» zu ihrem Zusammengehören ist nichts anderes als das «Ja» der Liebe.

Wir haben gesehen, wie schwer es in unserem täglichen Leben manchmal ist, das «Ja» der Dankbarkeit auszusprechen.

In Augenblicken jedoch, wenn unser Herz voller Lebendigkeit schlägt, erfahren wir die gegenseitige Abhängigkeit von allem mit allem als Freiheit, als Freude, als Erfüllung. Unser Herz erhascht einen flüchtigen Blick unseres wahren Zuhause.

Zuhause aber nennen wir den Ort, wo jeder von jedem abhängt. Kein Wunder, wenn ein «Ja» aus unserem Herzen hervorbricht wie ein Stoßseufzer der Erleuchtung, der Befreiung, des Heimkommens. Das sagt auch D. H. Lawrence in einem Gedicht, das er «PAX» nennt, das lateinische Wort für «Frieden».

Lesen wir das Gedicht laut, dann besitzt es eine beschwörende Kraft. Seine Wiederholungen scheinen einen Zauber auf uns auszuüben ‒ kein Zauber, der uns bannt, sondern einer, der uns befreit.

«Eins … friedlich, in Frieden und eins … daheim, daheim … daheim.»

Diese Beschwörung lässt uns entspannen. Sie erlaubt, dass wir «eine tiefe Ruhe des Herzens» finden. Es ist wie ein Nachhausekommen in das «Haus des Lebens», in das «Haus der Lebendigen», in das «Haus des Gottes des Lebens», wohin wir gehören, wo unser wirkliches Zuhause ist.

Bei all ihrer Ruhe leben diese Zeilen von einer dynamischen Kraft. Sie haben Feuer in sich.

Selbst das Gähnen der Katze ist ein «Gähnen vor dem Feuer.» Das Gähnen einer jeden Katze, die auf sich hält, ist Teil eines ganzen Rituals aus dehnen und strecken, das voller Lebenskraft steckt.

Wenn wir nicht aus Langeweile oder Müdigkeit gähnen, sondern mit «eine(r) tiefen Ruhe im Herzen», dann heißt das

«gähnend (…) vor dem Feuer des Lebens.»

«Leben» ist ein Schlüsselwort in diesem Gedicht. Sechsmal wird «Leben» und «lebendig» wiederholt.

Die Ruhe wahren Friedens ist nicht totes Schweigen, sondern die lebendige Stille einer hell brennenden Flamme:

«Alles, worauf es ankommt, ist, eins zu sein mit dem
lebendigen Gott,
ein Geschöpf zu sein im Haus des Gottes des Lebens.
Wie eine Katze, die auf einem Stuhl eingeschlafen ist,
friedlich, in Frieden
und eins mit dem Herrn des Hauses, mit der Herrin,
daheim, daheim im Haus des Lebendigen,
schlafend am Herd und gähnend am Feuer.

Schlafend am Herd der lebendigen Welt,
gähnend daheim vor dem Feuer des Lebens
und die Gegenwart des lebendigen Gottes fühlend
wie eine unerschütterliche Gewissheit,
eine tiefe Ruhe im Herzen,
Gegenwart
des Herrn, der am Tisch sitzt
in seinem eigenen größeren Sein
im Hause des Lebens.»

«Alles, worauf es ankommt», absolut alles, «ist eins zu sein mit dem lebendigen Gott.»

Und «der Gott des Lebens» ist als «Feuer des Lebens» im «Hause des Lebens» gegenwärtig.

(Am Anfang, in der Mitte und am Ende des Gedichtes stehen diese Sätze und gewinnen so besondere Bedeutung.)

Feuer ist häufig ein Bild für Liebe. Hier aber ist es nicht das tobende und verzehrende Feuer der Leidenschaft. Hier ist es das ruhige, lebensspendende Feuer im Herd, das jeden im Hause willkommen heißt und zuhause fühlen lässt.

Wie also sollen wir «eins (...) sein mit dem lebendigen Gott», wenn das unser wahres Ziel ist?

Indem wir uns vom Herdfeuer durch und durch wärmen lassen; indem wir zulassen, dass uns die Wärme ein Gefühl von zuhause vermittelt; einfach dadurch, dass wir «daheim» sind, «daheim im Haus des Lebendigen.»

In einer von der Liebe erwärmten Welt gibt es keine Kluft zwischen Himmel und Erde. Das «Haus des Lebens» ist das «Haus des Gottes des Lebens.»

«Gottes Gegenwart im Haushalt der Erde ist Gegenwart
des Herrn, der am Tisch sitzt
in seinem eigenen größeren Sein
im Hause des Lebens.»

Das Bild des pater familias[2] gibt diesen Zeilen Bedeutung und beschützt sie zugleich davor, pantheistisch missverstanden zu werden.

Die Welt ist nicht mehr eins mit Gott, als der Haushalt eins ist «mit dem Herrn des Hauses, mit der Herrin.» Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es ist keine Frage des Einsseins, sondern des Zusammenseins, des Beieinanderseins durch jene Liebe, die nur die Vorstellung von pietas[3] uns zu vermitteln beginnt.

Und doch, mit welcher Ehrfurcht füllt uns das Bewusstsein dieser Zugehörigkeit.

Wenn wir uns den Erdhaushalt[4] als unseres himmlischen Vaters «eigenes größeres Sein» vorstellen, dann wird uns das jedes Steinchen, jeden Grashalm, jeden Käfer mit Ehrfurcht betrachten ‒ und entsprechend behandeln lassen.

Dann wird Liebe ihre Zu- und Abneigungen ebenso leicht nehmen, wie wahrer Glaube seine Überzeugungen und wirkliche Hoffnung ihre Hoffnungen.

Schließlich, welchen Unterschied machen Zu- und Abneigungen schon, wenn «alles, worauf es ankommt, ist, eins zu sein mit dem lebendigen Gott»?

Jene, die wir mögen und die, die wir nicht mögen, sind gleichermaßen «daheim im Haus des Lebendigen.» Wir gehören alle zusammen. Wir können alle zusammen in Frieden leben, sobald wir unserem tiefsten Sehnen folgen und zu unserem Herzen nach Hause kommen.

[Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 147-150, 159-162 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 148-151, 160-162]

[Ergänzend:

1. Film und Audios

1.1. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökologie:
(32:11) Bruder David schließt mit seiner deutschen Übersetzung des
Gedichtes PAX  von D. H. Lawrence und Ausklang mit Musik von Hannelore und Bruder Thomas

1.2. Transkription Wort und Schweigen ‒ Über den Sinn des Gebets (1996) des Films Wort und Schweigen ‒ Über den Sinn des Gebets (1992): [5]

(04:49) «Oder eine andere Situation: Wir sind in größter Not. Ein Kind ist schwer krank, ein lieber Mensch stirbt uns. Und wir sind außer uns vor Verzweiflung, vor Traurigkeit. Und wieder ‒ in dieser äußersten Not ‒ finden wir uns doch wieder echter, als wir es meistens sind, wenn wir an der Oberfläche dahinleben. Und auch in einem solchen Augenblick brechen wir wieder durch zu der Erfahrung, dass wir nicht verwaist sind. Dass wir uns auf irgendetwas verlassen können. Wir verlassen  u n s : Wir sind  a u ß e r  uns. Und wir verlassen uns auf etwas hin. Und das ist wieder diese geheimnisvolle Wirklichkeit, die jene Menschen, die das Wort ‹Gott› richtig verwenden, Gott nennen. Und in diesen Augenblicken rufen auch Menschen, die sonst gar nicht in irgendeiner Weise an Gott glauben, so etwas wie: ‹mein Gott›. Und dieser Ausruf auf Gott hin, ganz spontan in Augenblicken, in denen wir außer uns sind, das ist eigentlich das ursprünglichste Gebet.»

1.3. TAO der Hoffnung (1994)
Vortrag:
(14:30) Gottraumfahrten und Meilensteine im selben Gott-Raum – Zugehörigkeit ist immer gegenseitig angefangen bei Dingen über Pflanzen und Tiere bis zu: ‹Oh Gott, du bist mein Gott› (Psalm 63,2) ‒ Gott ist ‹persönlich›, aber nicht ‹Person›: ‹God isn’t sombody else› (Thomas Merton)

1.4. Transkription des Vortrags Wähle das Leben (5 Mose 30,19) (1992); siehe auch Sterben und Tod:

(21:07) «Dann könnte man noch sehen, wenn wir den Tod so ernst nehmen, dann haben auch unsere Leiden, unsere Freuden, unsere Lebensumstände, die Wahlen die wir treffen, die Entscheidungen, die wir treffen, ganz eine andere Bedeutung, denn sonst stellen wir uns das nur so vor ‒ ein bisschen karikiert ‒, aber wir denken, das Leben ist so eine Art Wartezimmer, wo man so wartet, oder wenigstens so wie zu Weihnachten, wo die Kinder draußen warten müssen bis das Glöckerl leutet und dann die Tür aufgeht und da ist der Christbaum. So stellt man sich das häufig vor: wir warten so da herum und dann, wenn die Tür aufgeht, sehen alle den gleichen Christbaum. Aber um Gottes Willen, warum müssen wir dann so schreckliche Dinge durchmachen: ich so, du was ganz anderes, ein Dritter wieder ganz etwas anderes: Warum müssen wir so verschiedene Leben erleiden, wenn wir dann alle zu dem gleichen Christbaum gehen?

Wir schaffen sozusagen das Fenster,  d u r c h  das wir die Visio Beatifica haben werden. In Zusammenarbeit mit Gott schaffen wir jetzt  d e n  bestimmten Gesichtspunkt, in dem wir Gott sehen werden. Sonst ist es ja nur eine Quälerei dieses ganze Leben. Aber wenn mein Leben so sein muss, weil ich  d a n n  erst zu dem Menschen werde, der Gott so verstehen kann auf eine ganz einzigartige Weise, dann hat es Sinn und auch Sinn, dass wir sagen:

‹O Gott, du bist  m e i n  Gott› (Psalm 63,2) ganz persönlich.»

1.5. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Paradoxien und Meilensteine auf dem Weg vom Gottahnen zum Gottesbewusstsein bis zum Bekennen: ‹Ich glaube an Gott›:
(32:27) Gott: eine noch inhaltslose Bezugsrichtung unserer tiefsten und allumfassendsten Zugehörigkeit wie auch Gräber in einer bestimmten Richtung ‒ Zugehörigkeit ist immer gegenseitig: von Gegenständen über Pflanzen, Tiere, Menschen bis zu Gott, von dem wir allein sagen können: ‹Gott, du bist mein Gott› (Psalm 63,2)
(40:00) Gott persönlich, aber nicht mit der Beschränkung einer Person: ‹God isn't somebody else› (Thomas Merton)

1.6. Mit dem Herzen horchen (1988)
Vortrag:
(38:35) ‹Gott spricht›: Zugehörigkeit ist gegenseitig, von Dingen zu Pflanzen und Tieren bis zu ‹mein Gott›

2. Weitere Texte

2.1. Orientierung finden (2021), 54f.:

«Das Wort ‹Gott› entstand früh in der Geschichte unsrer Sprache und geht auf die indogermanische Wurzel ‹gheu› mit der Grundbedeutung ‹rufen› zurück. Unter ‹Gott› wurde also ursprünglich ‹Das Angerufene› verstanden, vielleicht auch ‹Das uns Anrufende›. Jedenfalls schwingt bei dem Wort ‹Gott› von Anfang an die Gegenseitigkeit einer Ich-Du-Beziehung mit. Gleichzeitig war das grammatische Geschlecht des Wortes ursprünglich sächlich und so wurde die Gefahr vermindert, Gott ‒ das große Geheimnis ‒ zu vermenschlichen. Noch heute gibt es Völker und Stämme, die religiöse Vorstellungen bewahrt haben, welche in prähistorischen Kulturen verbreitet waren. Anthropologische Feldforschung zeigt, dass sie häufig Personifikationen natürlicher Kräfte wie Sturm oder Blitz verehren und dennoch, diesen ‹Göttern› übergeordnet, eine höchste Kraft anerkennen, von der sie weniger bildhaft sprechen.

So zum Beispiel Chief Luther Standing Bear (1868-1,939), wenn er sagt: ‹Aus Wakan Tanka, oft als großes Geheimnis übersetzt, kam eine mächtige vereinigende Lebenskraft, die in und durch alle Dinge floss.›

Black Elk (1863-1950) sprach von unsrer Beziehung zu dieser Kraft und von dem großen inneren ‹Frieden, der in den Seelen der Menschen herrscht, wenn sie ihre Beziehung, ihre Einheit mit dem Universum und all seinen Kräften erkennen›.

Aber er ging noch einen Schritt weiter und sprach von dieser Beziehung zugleich als einer persönlichen. Er betonte den Frieden, den die Menschen erleben, ‹wenn sie erkennen, dass im Zentrum des Universums der große Geist wohnt; und ‒ da dieses Zentrum überall ist ‒ wohnt er auch in uns.› Die Einsicht, dass wir mit dieser Lebenskraft in persönlicher Beziehung stehen, entspricht der bedeutsamen Entdeckung, dass das große Geheimnis unser großes DU ist.»

2.2. Credo (2015): ‹Ich glaube an Gott›, 39:

«In den besten, lebendigsten Augenblicken unseres Lebens, in jenen Urerlebnissen, die Abraham Maslow ‹Peak Experiences› (Gipfel-Erlebnisse) nennt ‒ auf den Gipfeln wacher Lebendigkeit also erleben wir grenzenlose Zugehörigkeit. Wir können dem Wesen dieser Zugehörigkeit tiefer nachforschen. Dabei finden wir zunächst, dass Zugehörigkeit immer gegenseitig ist: Was uns gehört, dem gehören auch wir irgendwie an. Diese Gegenseitigkeit wird um so intensiver, je persönlicher die Beziehung ist. Selbst unsere Beziehung zu Dingen zeigt eine gewisse Gegenseitigkeit; sie verlangen etwas von uns: Pflege, Behutsamkeit, Geduld. Von da können wir zu Pflanzen, zu Tieren und zu Mitmenschen fortschreiten, um ein Ansteigen und eine Vertiefung von Gegenseitigkeit anschaulich zu machen. Um zu fühlen, wie gegenseitige Zugehörigkeit sich fortschreitend vertieft, brauchen wir nur aufmerksam der Reihe nach sagen: ‹mein Fahrrad›, ‹meine Hauspflanzen›, ‹mein Kind›. Schließlich weist dieser Anstieg in die Richtung, die wir Gott nennen. In dem Psalmvers

‹Gott, du bist  m e i n  Gott› (Psalm 63,2)[6]

hat das Fürwort ‹mein› mehr Gewicht und tiefere Bedeutung als in irgend einem anderen Zusammenhang. Schon bevor ich sonst noch etwas über Gott weiß, kann ich sagen, dass Gott im vollen Sinne  m e i n  ist, weil ich Gott völlig angehöre. In der menschlichen Beziehung zur göttlichen Quelle des Seins erreicht Gegenseitigkeit ihren Höhepunkt.»

2.3. Begegnung mit Gott durch die Sinne (1993); siehe auch Auf dem Weg der Stille (2023), 83f.:[7]

«Wenn Liebe echt ist, ist Zugehörigkeitsgefühl immer gegenseitig. Der Geliebte gehört zum Liebenden wie der Liebende zum Geliebten gehört. Ich gehöre zu diesem Universum und zu dem göttlichen Ja, aus dem es hervorging, und dieses Zueinander-Gehören ist ebenfalls gegenseitig. Deshalb kann ich sagen ‹mein Gott› – nicht im Sinne eines Besitzergreifens, sondern im Sinne liebevoller Verwandtschaft.

Wenn nun mein tiefstes Zugehören gegenseitig ist – könnte dann auch mein glühendstes Verlangen gegenseitig sein? Es muss so sein. So verblüffend der Gedanke anmuten mag: Was ich als meine Sehnsucht nach Gott erlebe, ist Gottes Sehnsucht nach mir. Man kann keine persönliche Beziehung mit einer unpersönlichen Kraft haben. Es ist wahr: ich darf die begrenzten Aspekte einer menschlichen Person nicht auf Gott projizieren ‒ und doch muss die göttliche Quelle alles Vollkommene der Personhaftigkeit besitzen. Woher sonst sollte ich sie erhalten haben?»[8]]

____________________

[1] Denise Levertov (1923-1997): ‹Her Judgement›, in: Denise Levertov: Collected Poems, New York, New Directions 2013: ‹Candles in Babylon›: II. ‹Pig dreams›, 626f.

[2] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 157f.:

«Die Römer hatten ein Wort für Liebe, das genau diese Haltung ausdrückt. Es ist das lateinische Wort ‹pietas›. Wir könnten es als ‹Familiensinn› übersetzen, eine Haltung, die dem Wissen um Zusammengehörigkeit entspringt und es entsprechend zum Ausdruck bringt. Pietas ist vor allem die Haltung des ‹pater familias›. Die Familie gehört zum Vater, von dem sie ihren Namen bezieht. ‹Pietas› gibt dem ‹pius pater› Rechte und Pflichten. Aber ‹pietas› ist eine Haltung, die von allen Mitgliedern des Haushalts geteilt wird und alle miteinander verbindet. Ehemann und Gattin lieben sich vielleicht auch mit Leidenschaft und Verlangen, das Band aber, das sie am stärksten und tiefsten zusammenhält, ist ‹pietas›. Das gleiche Band hält Brüder und Schwestern, Kinder und Eltern zusammen. Aber ‹pietas› bezieht auch Diener und Sklaven mit ein, jeden, der zum Haushalt gehört. Als Haushalt sind sie den Vorfahren der Familie und den Schutzgöttern, den ‹lares› verbunden durch die gleiche ‹pietas›, die selbst die Haustiere miteinbezieht, das Land, die Werkzeuge, den Hausrat und alles Ererbte. Unsere Sprache kennt keinen vergleichbaren Begriff.»

[3] Fortsetzung von Anm. 2:

«Könnten wir die Kraft des lateinischen Wortes ‹pietas› in unser Wort ‹Pietät› übertragen, das sich von ihm ableitet, dann würden unsere Vorstellungen von Mitgefühl und Hingabe sicherlich bereichert werden. Sie alle stehen im Zusammenhang mit der Vorstellung des Zusammengehörens. Ein Wort können wir nicht willkürlich wiederbeleben. Aber wir müssen das Gefühl des Zusammengehörens wiederentdecken, das das Wort ‹pietas› prägte.»

[4] ‹Erdhaushalt› ist eines der liebsten Begriffe von Bruder David, ein Ausdruck, den der Dichter und Umweltaktivist Gary Snyder (*1930) geprägt hat. Die folgenden Zeilen in Hausverstand sind dem Text Spiritualität und gesunder Menschenverstand (2012) entnommen; siehe auch Reich Gottes ‒ erlösende Kraft: Ergänzend: 2.1. und Erlösung ‒ Sünde und Heil: Haupttext und Anm. 8:

«So ist gesunder Menschenverstand mehr als Denken.

Er ist eine vibrierende Lebendigkeit  zur Welt, in der Welt und für die Welt. Er ist ein Wissen durch Zugehörigkeit. Und er wird zu einer Grundlage für unser Tun und Handeln.

Im Geist zu handeln, heißt so zu handeln wie Menschen, die zusammengehören. Wir gehören alle zusammen in diesem ‹Erd-Haushalt› wie Gary Snyder es so schön nennt, und ein spirituelles Leben zu leben, bedeutet so zu handeln wie bei sich zuhause, wo man zusammengehört. Das und nur das ist moralisches Tun.»

[5] Die Transkription von Werner Binder † ist abgedruckt in: David Steindl-Rast: Staunen und Dankbarkeit: Der Weg zum spirituellen Erwachen, hrsg. von Werner Binder†, Freiburg/Basel/Wien, Herder 1996, S. 138-147, unter dem Titel: ‹Beten: Dankbares Leben›: ‹Teilnahme am göttlichen Leben›

[6] Im Buch steht (Ps 63, 1) wie in den englischsprachigen Bibelausgaben

[7] Quelle: Original-Textfahne (1993) von Bruder David; derselbe Text im Buch Auf dem Weg der Stille (2023): Kapitel 5: ‹Gott durch die Sinne finden›, 83f., ist von Bernardin Schellenberger übersetzt aus der amerikanischen Originalausgabe The way of Silence (2016)

[8] Weiterführend Ein intimes Gespräch mit David Steindl-Rast in Argentinien (2023), der Film in Englisch (12:37-17:54): ‹Der persönliche und der unpersönliche Gott›

Auf der Suche nach einem heilen und heilenden Gottesverständnis im Buch Mystik ‒ Spiritualität der Zukunft (2005), 82:

«Die Erfahrung von Wort, Horchen und Antworten öffnet die Möglichkeit einer persönlichen Beziehung zu dem ‹Mehr› ‒ zu Gott als persönlich mit uns verbunden (obwohl wir nicht in den Irrtum verfallen dürfen, Gott sei ‹eine Person›). Wir dürfen uns selbst als Wort Gottes verstehen, als Wort von Gott ausgesprochen und zugleich angesprochen (Ferdinand Ebner). Durch unsere Antwort werden wir erst zu dem Wort, als das wir gemeint sind. Das Selbstverständnis Jesu als eins mit dem ‹Vater› ist der Durchbruch auf eine neue Ebene menschlichen Selbstverständnisses und darf nicht auf Jesus beschränkt werden. Christliche Mystiker wussten dies und Thomas Merton fasste es zusammen, wenn er sagte: ‹Gott ist nicht jemand anders.›»


Quellenangaben

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