Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

unglueck titelCopyright © - Barbara Krähmer

«Es wandelt, was wir schauen,
Tag sinkt ins Abendrot,
Die Lust hat eignes Grauen,
Und alles hat den Tod.

Ins Leben schleicht das Leiden
Sich heimlich wie ein Dieb,
Wir alle müssen scheiden
Von allem, was uns lieb.

Was gäb’ es doch auf Erden,
Wer hielt den Jammer aus,
Wer möcht’ geboren werden,
Hielt'st Du nicht droben Haus!

Du bist's, der, was wir bauen,
Mild über uns zerbricht,
Daß wir den Himmel schauen ‒
Darum so klag’ ich nicht.»
[1]

Zu allen Zeiten sind Menschenherzen von der Frage bewegt worden: Woher kommt das Leid?

«Ins Leben schleicht das Leiden
sich heimlich wie ein Dieb»,

sagt der Dichter Joseph von Eichendorff.

Es «schleicht sich» ein, denn es erscheint uns wie etwas Fremdes, dem ganz entgegengesetzt, was wir unter Lebensfülle verstehen. Lebensfülle aber gehört immer und überall zu dem, was Menschen «Gott» nennen. Wie also steht Gott zum Leiden?

Ich kann es mir nur so vorstellen, dass zum Leben in seiner ganzen Fülle eben auch das Leiden gehört, freilich nur auf der Ebene der Gegensätzlichkeit. Auf dieser Ebene gehören Freude und Leid zueinander, sie bestimmen einander wie Licht und Schatten, wie Berg und Tal.

Auf der Ebene ursprünglicher Einheit aber sind alle Gegensätze noch unentfaltet eins. Da ist Fülle, da fehlt nichts. Sobald sich aber die Einheit in die Vielfalt verschenkt, fehlt jedem der Gegensatzpaare immer die andere Hälfte.

Weil aber die grenzenlose Wirklichkeit, die wir «Gott» nennen, beide Ebenen umfasst, begegnen wir Gott ‒ auf der Gegensatzebene ‒ auch im Leid. Da ist der MITLEIDIGE der Mit-Leidende. Gott ist Mutter. Leidet eine Mutter nicht, wenn sie ihr Kind leiden sieht? Sie leidet nicht, «als ob» auch sie das Leid fühlte; sie fühlt es, fühlt es vielleicht noch schmerzlicher als das Kind selber es fühlt.

Das Große Geheimnis in seiner Überzeitlichkeit umfasst, umarmt dürfen wir wohl sagen, auch die Zeit, leidet also selber, wenn irgendein Lebewesen irgendwo irgendwann irgendwie leidet.

DU, mein innerstes Selbst erahnt Dich manchmal als über alle Gegensätze erhabene Lebensfülle im ewigen Jetzt. Solange ich aber noch in der Zeit bin, lass mich auch durch die Gegensätzlichkeit von Mitleid und Mitfreude mit Dir verbunden sein. Amen.[2]

Leben und Sterben gehören untrennbar zusammen. Darum ist der Lebenspendende auch der TÖTENDE. Diese beiden Gottesnamen weisen auf zwei polare Aspekte ein und derselben unleugbaren Wirklichkeit hin.

Aus zwei Gründen ist es wichtig, beide Aspekte im Blick zu behalten: erstens weil wir nur dadurch wach und freudig leben können; und zweitens, weil wir dadurch lernen, vertrauensvoll zu sterben.

Nur wer auch zum Sterben Ja sagt, sagt ein volles Ja zum Leben, schon deshalb, weil wir ja jeden Augenblick völlig loslassen müssen, um den nächsten voll auskosten zu können.

Und dieses Loslassen ist ein Sterben für Vergangenes, um ganz im Jetzt zu leben.

Wenn wir nicht loslassen, hängt ein Teil von uns an der Vergangenheit, wir sind dadurch gespalten und leben nur halb. Je mehr wir das Loslassen üben, desto leichter lebt es sich ‒ und desto leichter stirbt es sich auch.

Zwar bleibt uns der Tod ein Geheimnis, aber alles, was wir brauchen, um uns gut darauf vorzubereiten, lehrt uns unsere tägliche Erfahrung: wenn wir vor dem Einschlafen loslassen und fürs Heute sterben, dann wachen wir am Morgen fröhlicher und unbeschwerter auf.

Sollte diese Übung es uns nicht leichter machen, auch in unserer letzten Stunde vertrauend loszulassen?

Wir wollen zugeben, dass es sonderbar klingt, dem TÖTENDEN zu vertrauen. Leben und Sterben sind aber Gegebenheiten, das lässt sich nicht abstreiten. So bleibt uns nur die Wahl, uns gegen das uns Gegebene aufzulehnen oder es als Gabe vertrauend und dankbar in Empfang zu nehmen. Auflehnung nützt erstens nichts und macht noch dazu nicht nur das Sterben zur Qual, sondern schon das Leben. Alle Gaben des Lebenspendenden erweisen sich früher oder später als gute Gaben. Das muss auch von den Gaben des TÖTENDEN gelten, denn beides sind Benennungen für ein und dieselbe, uns völlig unergründliche Wirklichkeit.[3]

Ergänzend:

1. Text, Filme und Audios in Lebensvertrauen

2. Audios

Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992); siehe auch die Transkription des Vortrags und der Diskussion in Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen im Tagungsband Schmerz ‒ Stachel des Lebens, S. 17-40
Eröffnungsreferat Vortrag:
(24:59) ‹leiden› und das ‹Leid(ige)› unterscheiden: Mit oder gegen den Strich gehen / (29:12) leiden, leiten, Lotse: Die leitende Kraft ist das Leben selbst / (30:39) ‹Es wandelt, was wir schauen› (Joseph von Eichendorff) / (34:25) Offen zum Himmel und zu den Nachbarn: Die Laubhütten am jüdischen Laubhüttenfest / (36:34) Es bricht das Herz auf – Das Herz ist kein Privatplatz – Das allerheiligste Herz Jesu / (37:59) So leben, dass uns nichts leidig ist – Unsere große Entscheidung – Das Leben in Fülle (Joh 10,10)
Diskussion:
(24:18) Der Dalai Lama zum Thema Leiden – das Bodhisattva-Ideal
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(15:21) Loslassen – Ganz in diesem Augenblick leben – Verlust hat bei schöpferischen Menschen erst das Beste herausgebracht, das Beispiel von Helen Keller /
(17:59) Leiden in unserem Herzen aufheben – Das Leben gibt uns nie Aufgaben, ohne uns auch die Kraft zu geben, diese Aufgaben zu bewältigen. Auf diese Kraft können wir uns verlassen
Zweites Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
Teil 1:
(13:43) Leiden um Anderer willen ertragen: Die Antwort des Dalai Lama und die ungesunde Überhöhung von Leiden in der christlichen Tradition / (18:59) ‹Ich bin bei ihm in seiner Not› (Psalm 91:15): Gott leidet in uns auf die Freude hin
Teil 2:

(02:25) Um Lebensvertrauen ringen: Glaube ist Antwort auf die ‹amunah›, die Treue Gottes – Ein Leben, in dem die Logik nur so schwimmt wie ein kleines Eisstückchen im Getränk / (06:24) Schwerkranke und Sterbende begleiten – Die Freunde Hiobs saßen bei ihm sieben Tage und Nächte (Hiob 2,13): Einfach da sein, Zeit schenken / (13:06) Einander behandeln: Die Hand massieren, den Puls greifen – Totenwache daheim und bei den Maori – Belastendes will noch ausgesprochen werden – Nicht an der Hand, sondern in der Hand von jemandem sterben / (20:06) Die innere Geste des Loslassens: Eine andere Sicht auf Sterben, Selbstmord, verordneter Tod: Sokrates und Jesus / (30:04) Nur eine schmale Wand ist zwischen uns (Rilke: ‹Du Nachbar Gott›, Das Stunden-Buch)
Drittes Seminar mit Bruder David im Pfarrsaal bei der Georgskirche Goldegg:
(53:26) Wie der strafende Vater das Gottesbild belastet – Das Opfer Abrahams (1 Mose 22,1-19) und die Gemälde Rembrandts

3. Texte

3.1. Jeder Augenblick enthält so viele Überraschungen (2019): Interview mit Bruder David von Sabine Schüpbach:

«Um dankbar sein zu können, müssen wir uns auf das Leben verlassen. Dieses Vertrauen brauchen wir, um die Gelegenheiten zu ergreifen, die sich uns bieten. Dabei handelt es sich um Gottvertrauen. Aber ich nenne es lieber Lebensvertrauen. Denn viele Leute machen eine Unterscheidung zwischen Gott und Leben. Sie betonen, sie hätten Gottvertrauen, beklagen sich aber über ihr Leben. Dabei ist genau das Leben, das sie so schrecklich finden, der Ort der Begegnung mit Gott. Wie Paulus sagt: ‹In Gott leben wir, bewegen wir uns und sind wir› (Apostelgeschichte 17,28).

Sind Gott und Leben für Sie ein und dasselbe?

Gottes Wirklichkeit geht unendlich über alles hinaus. Aber wir erleben Gottes Gegenwart nicht anders als durch unsere Lebensumstände. Die Idee, dass ein Gott hoch oben im Himmel sitzt, ist keine christliche Vorstellung. Was wir ‹Leben› nennen, ist unsere Gottesbegegnung – Augenblick für Augenblick. Darauf gilt es zu vertrauen.»

3.2. Vom mystischen Wasser kosten ‒ 99 Namen hat Gott im Islam (2019): Interview von Bruder David mit Josef Bruckmoser; siehe auch Buchpräsentation «99 Namen Gottes» im Europakloster Gut Aich (2019):

«Einige Namen Gottes widersprechen einander. Wie kann Gott gleichzeitig gerecht und barmherzig sein?»

«Das ist das Schöne an den Namen Gottes im Islam, dass die Gegensätze zusammenfallen. Im Christentum hat Nikolaus von Kues betont, dass in Gott alle Gegensätze eins sind. Begreifen können wir das nicht, aber wenn Ehrfurcht vor diesem Geheimnis uns ergreift, dann verstehen wir es. Wenn Ehrfurcht verloren geht, dann wird aus dem Zusammenfallen gegensätzlicher Gottesnamen ein Zusammenprallen. Dann muss man sich für eine Seite entscheiden. Das ist genau der heutige Zustand der Welt: Alles, ob religiös oder politisch, ist gespalten.»

3.3. Islam und Christentum sind sich näher als gedacht (2019):

«Zu Namen wie ‹Der Schöpfer›, ‹der Erlöser› oder ‹der Dankbare› könne auch ein Christ Meditationen anstellen, um sich dem Geheimnis Gottes zu nähern, meinte Steindl-Rast. Der Ordensmann widmet sich in seinem neuen Buch auch ‹irreführenden› Gottesnamen, wie ‹der Zurückweisende› oder ‹der Verweigerer›. Auch diese Bezeichnungen könnten in Menschen ein ‹Echo auslösen› und wären Teil des ‹namenlosen Geheimnisses› Gottes, das nur schwer zu fassen sei, führte der Benediktiner aus. Er persönlich stehe dem Gottes-Namen ‹der Dankbare› sehr nahe. Denn die ‹Dankbarkeit ist der Schlüssel zur Freude›, so Steindl-Rast.

Viele Menschen verstehen unter dem Wort ‹Gott› etwas Falsches oder wollen es gar nicht verwenden. … Einen Ausweg sah der 1926 in Wien geborene Ordensmann darin, z.B. den Begriff Lebensvertrauen statt Gottesvertrauen zu verwenden. Beides meine letztendlich dasselbe und weise auf Gott und dessen ‹göttliches Geheimnis› hin.»

3.4. Vom Worte Gottes leben ‒ die Versuchung Jesu im Garten (2021):

«Wir können auch dies Erlebnis am Ölberg (Lk 22, 39-46) einen Bericht der Versuchung Jesu (Lk 4,1-13) nennen. In beiden Berichten ist Vom Worte Gottes leben der entscheidende Punkt. In beiden Fällen bedeutet das Wort, das Gott spricht, Tod. Steine sind alles, was der Vater in der Wüste anbietet, nicht Brot; im Garten ist es der Kelch, ein Symbol für das Todesurteil. Diesmal ist es für Jesus ein harter Kampf:

‹Vater, wenn es möglich ist, so lass diesen Kelch an mir vorübergehen; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.›

Dies ist das Gebet des Glaubens in seinen schmerzensreichen Geheimnissen. Mit Blutschweiß und Tränen kämpft Jesus zu einem Glauben durch, der selbst am Rande des Todes auf Gottes Treue vertraut.

Früher oder später muss jeder von uns diese Ebene des Glaubens erreichen. Vielleicht bereitet Gott uns noch vor auf jenen steilen Teil des Anstiegs.»]

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[1] Und ich mag mich nicht bewahren (2012): Vom Älterwerden und Reifen, 18-21; der Text ist die von Klaus Gasperi überarbeitete Fassung des Vortrages von Bruder David in der Propstei St. Gerold im September 2005 im Audio Fragen, die uns bewegen (2005) (18:45-20:48); siehe auch Fragen des Lebens

[2] 99 Namen Gottes (2019): 83 ar-Raʾūf: der MITLEIDIGE, 172f.

[3] 99 Namen Gottes (2019): 61 al-Mumīt: der TÖTENDE, in dessen Hand der Tod ist, 128f.



Quellenangaben

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