Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

jesus d christus titelCopyright © - Klaudia Menzi-Steinberger

«Tod und Leben gehören untrennbar zusammen. So heißt es, ich weiß. Aber ich würde es lieber klarer ausdrücken und sagen:

Leben und Sterben gehören zusammen: der Tod aber widerspricht beiden.

Mit dem Sterben bin ich vertraut. Ich muss ja alles, was mir das Leben schenkt, wieder loslassen, bevor ich Neues empfangen kann. Dieses Loslassen aber ist das Entscheidende am Sterben. Starres Festhalten ist Tod ‒ ‹rigor mortis›.[1]

Ich will dabei das Loslassen nicht beschönigen, nicht verharmlosen. Allzu oft ist es bedrohlich und beängstigend, entsagen zu müssen.

Das Leben schenkt uns viel, nimmt uns aber auch erschreckend viel Liebes und bedrohlich vieles, das uns unersetzlich nötig erscheint.

Lass mich täglich zarter loslassen und unbefangener sterben lernen und rette mich vor dem Tod. Amen»[2]

«Es ist doch alles nur aus Liebe schön! Es ist doch alles nur aus Liebe gut!» (Will Vesper).[3]

Was aber, wenn das Selbst ‒ um im Bild zu bleiben ‒ die Handpuppe abstreift oder wenn die Maske in Staub zerfällt? Ist dann alles aus, alles zu Ende?

Zu Ende wohl, würde ich sagen, aber nicht aus. Ich will nicht von einem Leben nach dem Tod reden. Wenn sterben bedeutet, dass für mich die Zeit um ist, dann macht es keinen Sinn, von «nachher» zu sprechen.

Aber alles, was ich erlebe, hat ja schon jetzt eine Dimension, die über Zeit und Raum erhaben ist. T. S. Eliot nennt das Jetzt «the moment in and out of time»[4] ‒ es gehört der Zeit an und doch auch nicht.

Im Doppelbereich des Jetzt  sind Zeit und Ewigkeit eins. Darum kann auch nicht die kleinste Einzelheit von allem, was mir hier lieb ist, je verloren gehen.

«Alles ist immer jetzt», sagt wieder T.S. Eliot, «All is always now»[5] ‒ und spricht damit eine Wahrheit aus, die sich nicht leugnen lässt, denn was nicht jetzt ist, ist nicht, es hat nur eine Schattenwirklichkeit in Vergangenheit oder Zukunft.

Im Jetzt aber kann es nicht verloren gehen, da ist es in einem dreifachen Sinn «aufgehoben»:

Es besteht nicht länger (wie etwa ein Gesetz, das aufgehoben wird), es wird aber auf eine höhere Ebene hinaufgehoben und bleibt dort bewahrt (wie ein Goldreif in einer Schatzkammer gut aufgehoben ist).[6]

In diesem Sinn verstehe ich, warum Rilke im Aufheben unsere Lebensaufgabe sieht: «Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Leidenschaftlich heimsen wir den Nektar des Sichtbaren ein in die große, goldene Honigwabe des Unsichtbaren.»[7]

Kann ich dann überhaupt noch Angst haben vor dem Sterben? Ja, ich habe Angst. Ich gebe es zu, aber fürchten will ich mich nicht. Furcht und Angst, das ist ja zweierlei. Angst und Enge sind im Deutschen wurzelverwandte Wörter, und sicher nicht zufällig; unser menschliches Urerlebnis von Angst ist die Enge des Geburtskanals. Durch diesen ersten Engpass gehen wir noch mit instinktivem Vertrauen hindurch; erst später müssen wir mühsam lernen, uns auch auf jede Angst so furchtlos einzulassen, wie uns das bei unserer Geburt spontan gelang.

Furcht und Vertrauen, diese beiden Haltungen sind einander diametral entgegengesetzt. Letztlich sind es Lebenshaltungen.

Angst ist im Leben unvermeidlich; zwischen Furcht und Mut aber können wir wählen: Furcht  sträubt sich gegen die Angst und bleibt so in der Enge stecken; Mut lässt sich voll Vertrauen auf die Angst ein und findet so den Weg ins Weite.

Mut nimmt dabei die Angst nicht weg; im Gegenteil: Wer keine Angst hat, braucht keinen Mut. Wer aber mitten in der Angst aufs Leben vertraut, den führt das Leben durch jede Angst zu einer neuen Geburt. Ich beweise mir das selbst.

Ich blicke zurück auf die Engpässe meines Lebens und sehe ganz klar: Je drückender die Beängstigung war, umso strahlender das überraschend Neue, das daraus hervorging. Mich immer wieder daran zu erinnern, gibt mir Lebensvertrauen und Sterbensmut.

Was mir auch hilft, ist das Vorbild von Menschen, deren Tod ich miterleben durfte. Zwei Mitbrüder aus Mount Saviour fallen mir da ein:

Bruder Christopher war damals für Arbeiten am Klosterbau zuständig. Er war erst 40, aber schwer herzleidend. An diesem Tag war er Vorleser beim Mittagessen. Als Tischdiener stand ich neben ihm, als er die Lesung begann:

«In jener Nacht erging das Wort des Herrn an Natan: Geh und sage zu meinem Diener, zu David: So spricht der Herr: Du willst mir ein Haus bauen, damit ich darin wohne?»

Sechs Verse später kam er zu der Stelle: «So spricht der Herr: Ich werde  d i r  ein Haus bauen.»

Da legte er still seinen Kopf auf das Buch und war tot.

Und unser P. James Kelly (wir mussten seinen Nachnamen verwenden, weil wir zwei Brüder mit dem Namen James hatten) kam am Karsamstagabend noch einmal in die Kapelle, die schon für Ostern geschmückt war, und flüsterte mit für ihn typischer Begeisterung: «Ich kann ja gar nicht warten auf morgen!» Dann ging er schlafen. Am Morgen sollte er das Exultet singen, aber er hatte wirklich nicht warten können und sang nun wohl schon im Himmel.

Knapp eine Woche vor dem Tod meiner Mutter ‒ sie ist schon recht schwach ‒ kommt Vanja Palmers, der ihr lieb ist wie ein Sohn, zu Besuch aus der Schweiz. Er erzählt, dass heute, am St. Martinstag, die Kinder in Sursee sich beim «Chäszänne» mit einer möglichst verrückten Grimasse ein Stück Käse verdienen können. Wir setzen zwar keinen Käse als Preis aus, versuchen aber, einander im Gesichterschneiden zu übertreffen. Mutti auf ihrem Sterbebett überflügelt uns alle.[8]

Bruder David im Gespräch mit Johannes Kaup: «Was mir persönlich Angst macht, wenn ich an den Tod denke, ist zweierlei. Einerseits die Tatsache, dass wir nicht wissen, was im Tod auf uns zukommt. Wir wissen es einfach nicht. Wir gehen auf etwas zu, das uns nicht nur unbekannt ist, sondern ganz und gar unvorstellbar. Wie sollte sich eine Raupe im Puppenstadium vorstellen können, dass sie als Schmetterling von Blume zu Blume fliegt? Auch wir gehen auf etwas ganz Neues zu. Neues und Unbekanntes macht uns jedoch Angst.

Und das Zweite ist, dass wir wissen, dass es um den Tod herum sehr häufig Krankheiten, Leiden und Schmerzen gibt. Das allein genügt, mir Angst zu machen, wenn ich es mir ausmale. Hinzu kommt, dass man heutzutage früher oder später nur mehr ein Fall oder eine Nummer wird in einem Krankenhaus. Diese Entpersönlichung macht mir ebenfalls Angst. Aber das Leben macht uns, abgesehen von Alter und Sterben, immer wieder auf die eine oder andere Weise Angst. Wir brauchen Mut.»

Johannes Kaup: «Was macht Ihnen in diesem Zusammenhang Mut?»

Bruder David: «Mit einem Wort: Lebensvertrauen. Wenn ich auf dem Lebensweg in die Enge gerate und Angst bekomme, wird Lebensvertrauen entscheidend. Furcht sträubt sich gegen die Angst und bleibt darin stecken. Vertrauen lässt sich durchschleusen und vertraut sich dem Auftrieb des Lebens an wie beim Schwimmen.»

Johannes Kaup: «Sie sagen, dass Sie nicht von einem Leben nach dem Tod sprechen wollen. Ist das so missverständlich?»

Bruder David: «Leider ist die Ausdrucksweise missverständlich, weil es so klingt, als ob mit dem Tod alles aus sei. Das will ich keineswegs behaupten. Es dreht sich hier mehr darum, dass mit dem Tod meine Zeit abgelaufen ist. Wenn meine Zeit um ist, dann hat das Wörtchen ‹nach› nicht viel Sinn. Ich sterbe, wenn für mich die Zeit um ist. Wie soll ich da von einem Nachher sprechen? Die Zeit ist mit dem Tod vorbei. Auf der Ebene von Zeit und Raum ist mein Leben zu Ende. Das möchte ich nicht verharmlosen oder beschönigen. Ich möchte es ganz ehrlich konfrontieren: Mit meinem Tod geht die Raumzeit für mich zu Ende. Das heißt aber nicht, dass alles aus ist. Keineswegs! Ich erlebe schon mitten in Raum und Zeit ‒ in der Erfahrung des Jetzt ‒ eine Dimension, die über Raum und Zeit hinausgeht, und die unterliegt dem Tod nicht.

Freilich komme ich dabei um eine Schwierigkeit nicht herum: Jemand könnte sagen: Nur durch meine Sinne, die in Raum und Zeit sind, kann ich das erfahren, und nur mit meinem Gehirn kann ich es denken; wenn aber mein Gehirn zu Staub zerfällt, was dann?

Ich kann nur antworten: Hier und jetzt bringen mich meine Sinne und mein Denken an die Grenze von etwas, das über Zeit und Raum hinausgeht, das nicht gebunden ist durch Zeit und Raum. Und dieser Dimension meines Daseins ‒ dem Bleibenden ‒ gehöre ich genauso an, wie ich Zeit und Raum angehöre. Das ist eben der Doppelbereich, in dem ich lebe.

Diese Erfahrung gibt mir Vertrauen und Zuversicht auf etwas Bleibendes, auch wenn meine körperliche Wirklichkeit endet. Schon jetzt berühre ich eine bleibende Wirklichkeit. Im Jetzt rühre ich an das Bleibende. Darauf muss ich mich einlassen, muss mich einfühlen ins Jetzt und dort heimisch werden. Im Getriebe der Zeit geht dieses Bewusstsein allzu leicht verloren.»[9]

[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2 und 8f.]

[Ergänzend:

1. TAO der Hoffnung (1994)
Diskussion:
(54:39) Bei schweren Prüfungen sehen wir erst nachher, dass wir sie gebraucht haben. Wir alle haben Angst vor dem Leben: Das Leben ist ein ununterbrochenes Sterben in größeres Leben hinein. Sterben ist etwas, was wir tun müssen: Ein sich hingeben – Loslassen üben

2. Wähle das Leben (5 Mose 30,19) (1992)
Gespräch Teil 1
(02:18) Sich ans Leben klammern – sich hingeben, leichter sterben (Angst vor dem Tod, und noch mehr Angst vor dem Leben) / (05:35) Wir müssen mitsterben ‒ ‹Das wird jetzt meine letzte Tasse Tee sein›!

3. Der Anspruch von Engeln und Tieren (1994)
Vortrag in Themen aufgeteilt:
Erlebnisse im Zug, beim Sterben, mit einer Osterkerze:
(02:57) Bruder Christopher stirbt beim Vorlesen]

________________

[1] ‹rigor mortis› = ‹Totenstarre›

[2] Erwachende Worte (2023): ‹Tod›, 83

[3] Aus dem gleichnamigen Gedicht von Will Vesper (1882-1962), einem deutschen Schriftsteller und Literaturkritiker

[4] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V; siehe auch Stillehalten

[5] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V; siehe auch Stillehalten

[6] Siehe auch die Bedeutung des Wortes ‹aufheben› in Rühmen, Er-innern, Aufheben  im Text und in Anm. 2

Bruder David erwähnt den Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1830) im Zusammenhang mit ‹Fragen aufheben› in der Einleitung zu seinem Vortrag in Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016): Tag 1 ‒ Vormittag

[7] Rilke im Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz: ‹Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l’accumuler dans la grande ruche d’dor de l’Invisible.›; ausführlicher in Rühmen, Er-innern, Aufheben

[8] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich›, 184-186

[9] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich ‒ 9. Dialog›, 188f.


Quellenangaben

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