Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Es gibt viele Fragen. Doch nicht alle Fragen bewegen uns. Viele Fragen beunruhigen uns vielmehr. Und die Fragen, die uns beunruhigen, die lassen uns zum Stillstand kommen. Wir sind fast eingefroren von Fragen, die uns beunruhigen. Und die Furcht macht uns erstarren.
Die Fragen, die uns beunruhigen, haben meist mit der Vergangenheit zu tun oder mit der Zukunft. Das sind Fragen wie «Wie konnte so etwas nur geschehen?», «Wie konnte ich nur das tun?» «Wie konnte man mir das nur antun?»
Oder Fragen über die Zukunft, «Was kommt da noch alles auf uns zu?» ‒ Angstfragen sind es, die machen uns starr.
Aber dann gibt es auch Fragen, die uns bewegen. Fragen, die uns in Bewegung setzen. Und das sind Fragen in der Gegenwart. Fragen, die wir nur in der Gegenwart stellen können. Nur in diesem Augenblick. Nur in dem Jetzt, auf das alles ankommt.
Denn dieses Jetzt ist der Schnittpunkt der Zeit mit der Ewigkeit.[1] Die Ewigkeit ist ja keine lange, lange Zeit, die Ewigkeit ist, wie Augustinus das definiert, das «Nunc stans»[2] ‒ Das Jetzt, das nicht vergeht.
Dieses Jetzt ist uns in jedem Augenblick geschenkt. Und in diesem Jetzt ist uns die Begegnung mit unserem großen und ewigen Du geschenkt. Wir aber sind meistens beschäftigt mit der Vergangenheit und mit der Zukunft. Wir sind abgelenkt durch die Zeit vom Jetzt. Das Jetzt aber ragt über die Zeit heraus, denn das Jetzt ist nicht eigentlich in der Zeit.[3]
Und diese großen Fragen, die uns da beschäftigen, die uns wirklich bewegen und die uns heute beschäftigen sollen, die stehen auf diesem Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit, die stehen im Jetzt. Das sind Fragen, die wir im Jetzt stellen und nur im Jetzt stellen können.
Und dieses Jetzt geht mit uns durch den Tag, durch das Leben. So wie auf einer Wanderschaft der Mond mit uns zu gehen scheint. Oder wenn der Mond auf einen See scheint: Immer zielt die Bahn des Lichtes auf uns, wohin wir auch gehen. Dieses Jetzt geht mit uns durchs Leben, durch den Tag.
Die vier Fragen:
Und so möchte ich nun vier von diesen Fragen herausgreifen: Fragen, die uns im Jetzt bewegen. Zunächst eine Frage, die mit unserer Jugend zu tun hat, damit, wie wir durchs Leben gehen, mit dem Morgen.
Und das ist eine Frage, die sich jeden Morgen neu stellt. Oder sich jedes Jahr mit dem Frühling erneuert. Diese Frage am Morgen heißt: «Wonach sehnen wir uns?» Wonach sehnen wir uns eigentlich?
Die Frage, die sich uns dann in der Lebensmitte stellt, am Mittag, im Sommer unseres Lebens, das ist die Frage: «Wie können wir überstehen?» ‒ Wenn alles auf uns hereinbricht, wenn alles unter uns zusammenbricht: Wie können wir überstehen?
Und dann eine dritte Frage, die Frage der Lebensreife, des Herbstes, des Abends: «Woran reifen wir?» ‒ Nicht in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit, sondern jetzt, im gegenwärtigen Augenblick: Was macht uns jetzt reifen?
Und schließlich für die Lebensneige, für den Winter, für die Nacht die Frage: «Was tröstet uns?»
Wonach sehnen wir uns?
Um uns solche Fragen ganz persönlich nahezubringen, dafür gibt es kaum einen besseren Weg als die Dichtung. So möchte ich hauptsächlich Gedichte mit Ihnen teilen, und zwar von zwei Lieblingsdichtern von mir: von Rainer Maria Rilke und von Joseph von Eichendorff. Ich hoffe, dass wir diese Liebe zu diesen beiden Dichtern ‒ Eichendorff aus dem 19. Jahrhundert, Rilke aus dem 20. Jahrhundert ‒ auch wirklich teilen.
Und so möchte ich zunächst zu der Frage «Wonach sehnen wir uns?» mit Eichendorff beginnen, aus dem Gedicht «Der Pilger»:
«Man setzt uns auf die Schwelle,
Wir wissen nicht, woher?
Da glüht der Morgen helle,
Hinaus verlangt uns sehr.
Der Erde Klang und Bilder,
tiefblaue Frühlingslust,
Verlockend wild und, wilder,
Bewegen da die Brust.
Bald wird es rings so schwüle,
Die Welt eratmet kaum,
Berg’, Schloss und Wälder kühle
Stehn lautlos wie im Traum,
Und ein geheimes Grausen
Beschleichet unsern Sinn:
Wir sehnen uns nach Hause
Und wissen nicht wohin?»
Das ist der Lebensanfang.
«Man setzt uns auf die Schwelle, wir wissen nicht, woher?»
Das ist zugleich die Schwelle in das Leben und von woher. Und wir wissen nicht, von woher wir in dieses Leben kommen. Es ist nicht nur die Schwelle, über die hinaus wir jetzt ins Leben gehen. Es ist auch die Schwelle, über die wir in das Leben hereinkommen. Und wir wissen nicht, woher.
Da ist das große Verlangen: die Sehnsucht. Es verlockt uns etwas, hinaus verlangt uns sehr. Aber dann kommt ein geheimes Grausen!
Kennen wir dieses geheime Grausen, wenn wir uns fragen:
«Wonach sehnen wir uns denn eigentlich?»
Im Gedicht reimt es sich hier nicht ganz genau. Und das ist immer sehr bezeichnend, wenn ein Dichter ungenaue Reime verwendet. Nicht, weil er es nicht besser kann, sondern weil er eben diese Ungenauigkeit will: Ein «geheimes Grausen» reimt sich auf «Wir sehnen uns nach Hause».
Das Haus, nach dem wir uns sehnen, das nimmt das Grausen weg:
«Und. ein geheimes Grausen
Beschleichet unsern Sinn :
Wir sehnen uns nach Hause
Und wissen nicht wohin?»
Auch Rainer Maria Rilke spricht in einem Gedicht aus dem Stundenbuch von dem, was vor der Schwelle geschieht, auf die man uns setzt. Und er stellt sich das so vor:
«Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:
Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.
Hinter den Dingen wachse als Brand,
dass ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.
Laß dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Laß dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gieb mir die Hand.»
«Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand!»
Das, wovon Eichendorff als «verlockend, wild und wilder» spricht, das ist die Schönheit, die uns anzieht.
«Lass dir alles geschehn: Schönheit und Schrecken»,
heißt es bei Rilke.
Und der Schrecken ist dieses geheime Grausen, das auch zum Leben gehört.
«Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.»
Lass dich von mir nicht trennen ‒ das heißt, in der Zeit, in die du jetzt hinausgehst, sei immer bei mir, gib mir die Hand ‒ jetzt!
Jetzt, an diesem Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit.
Jetzt noch ein Gedicht von Eichendorff zu dieser Frage:
«Wonach sehne ich mich?»
Und das ist ein Jugendgedicht von ihm, ein frühes. Es heißt «Frische Fahrt»:
«Laue Luft kommt blau geflossen,
Frühling, Frühling soll es sein!
Waldwärts Hörnerklang geschossen,
Mut’ger Augen lichter Schein;
Und das Wirren bunt und bunter
Wird ein magisch wilder Fluss,
In die schöne Welt hinunter
Lockt dich dieses Stromes Gruß.
Und ich mag mich nicht bewahren!
Weit von euch treibt mich der Wind,
Auf dem Strome will ich fahren,
Von dem Glanze selig blind!
Tausend Stimmen lockend schlagen,
Hoch Aurora flammend weht,
Fahre zu! Ich mag nicht fragen,
Wo die Fahrt zu Ende geht!»
So gehen wir dann in die Welt hinein, in das Wirren, in den wilden Fluss, in den Strom. Wir lassen uns treiben vom Wind
«... selig blind ...»
Und wir wollen nicht fragen, wo die Fahrt hinführt. Wir wollen nicht fragen. Das ist unsere Verwirrung, das ist der Übergang von der Jugend zur Lebensmitte.
Doch lange bevor die Fahrt zu Ende geht, kommen wir an eine Stelle, an der wir uns fragen müssen:
«Wie kann ich das überstehen?»
Weil wir uns eben «selig blind» auf den Lauf der Zeit eingelassen haben, «selig blind» der Zeit verfallen sind und das Jetzt vergessen, können wir mit dem Wandel nicht umgehen.
Und so schreibt Eichendorff:[4]
«Es wandelt, was wir schauen,
Tag sinkt ins Abendrot,
Die Lust hat eignes Grauen,
Und alles hat den Tod.
Ins Leben schleicht das Leiden
Sich heimlich wie ein Dieb,
Wir alle müssen scheiden
Von allem, was uns lieb.
Was gäb’ es doch auf Erden,
Wer hielt den Jammer aus,
Wer möcht’ geboren werden,
Hielt'st Du nicht droben Haus!
Du bist's, der, was wir bauen,
Mild über uns zerbricht,
Daß wir den Himmel schauen ‒
Darum so klag’ ich nicht.»
Alles, was wir schauen, wandelt sich, ständig. Vielleicht erinnern Sie sich, wie uns das auf der Lebensmitte bewusst wird. Vielleicht gerade mitten im Getriebe. Irgendwann in einem Augenblick, wenn wir uns wirklich einmal aus der Zeit herausraffen, wird es uns bewusst:
«Es wandelt, was wir schauen,
Tag sinkt ins Abendrot,
Die Lust hat eignes Grauen,
Und alles hat den Tod.»
Dieses eigene Grauen ist das Grausen, von dem Eichendorff schon vorher gesprochen hat im Gedicht «der Pilger»:
«Und ein geheimes Grausen
beschleichet unsern Sinn.»
Dieses Grausen, das wir fühlen. Und jetzt geht das Gedicht weiter:
«Ins Leben schleicht das Leiden
Sich heimlich wie ein Dieb,
Wir alle müssen scheiden
Von allem, was uns lieb.
Was gäb’ es doch auf Erden,
Wer hielt den Jammer aus,
Wer möcht’ geboren werden,
Hielt'st Du nicht droben Haus!»
Und das ist nun das Haus, in dem wir zuhause sind. Jetzt plötzlich beginnt die Frage zu dämmern: «Wie können wir überstehen?»
Die letzte Strophe lautet:
«Du bist's, der, was wir bauen,
Mild über uns zerbricht,
Daß wir den Himmel schauen ‒
Darum so klag’ ich nicht.»
Wie können wir überstehen?
Hier und jetzt im Vertrauen. Nicht im Bedauern über die Vergangenheit, nicht in der Furcht vor der Zukunft, sondern durch Vertrauen im Jetzt. Das scheint mir die Antwort zu sein, die der Dichter hier auf diese Frage gibt.
Wenn unsere jüdischen Schwestern und Brüder das Laubhüttenfest feiern, einmal im Jahr, dann bauen sie sich kleine Laubhütten, um sich an den Weg durch die Wüste zu erinnern. Die Laubhütten erinnern an die Zeit, als das Volk Israel in der Wüste lebte. Das ist ein sehr freudiges Fest und es dauert eine ganze Woche. Die gesamte Familie sitzt zusammen in diesen Laubhütten, morgens und abends, und singt und isst und trinkt und feiert. Die Baubestimmungen für diese Laubhütte sagen:
«Baue die Wände so dünn, dass du die Nachbarn sehen kannst. Und baue das Dach so dünn, dass du die Sterne sehen kannst.»
Wenn wir so fest bauen, wie wir das gewohnt sind zu tun, dann muss Gott milde über uns zerbrechen, dass wir den Himmel schauen.
[Und ich mag mich nicht bewahren (2012): Vom Älterwerden und Reifen, 5-21; der Text ist die von Klaus Gasperi überarbeitete Fassung des Vortrages von Bruder David in der Propstei St. Gerold im September 2005 im Audio Fragen, die uns bewegen (2005) (00:22-20:48)]
[Ergänzend:
1. Siehe die Fortsetzung des Textes / Vortrags mit der Frage: «Woran reifen wir?» in Reifen
2. ‹Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht› (Rilke: Das Stunden-Buch):
Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 2 ‒ Nachmittag:
‹Im Selbst sein und im Jetzt sein ist identisch›:
(02:32) ‹Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht› (Rilke, Das Stunden-Buch)
Beten ‒ mit dem Herzen horchen (1988)
1. Vortrag in thematische Brennpunkte aufgeteilt:
‹Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht› (Rilke)
Musik der Stille (2023): Laudes ‒ TAGESANBRUCH: 48f.; siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 31-35:
«Die klösterliche Stunde der Laudes führt uns aus der Finsternis hinaus ins Licht. Mit den Laudes bekommen wir bei Sonnenaufgang den neuen Tag geschenkt. Die Vigil begleitete uns durch die feierliche Finsternis und die dunkle Ewigkeit der Nacht; jetzt feiern wir das Licht.
In Rilkes Stunden-Buch findet sich ein wunderschönes Gedicht, das speziell für die Laudes geschrieben sein könnte. Es ist fast ein kleiner Schöpfungsmythos. Hier hört der Dichter, wie Gott im Schoß der Dunkelheit zu jedem von uns spricht, noch bevor wir geboren werden, bevor er uns vollendet. Dann begleitet Gott uns hinaus aus der Nacht:
‹Von deinen Sinnen hinausgesandt›, weist er uns an,
‹geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand›.
Gott findet seine Äußerung in dieser Welt durch die Art und Weise, wie wir mit der geheimnisvollen Stille und Finsternis umgehen, aus der wir kommen. Jeder ist dazu bestimmt, das göttliche Geheimnis in seiner ganz persönlichen Eigenart auszudrücken.
Und während er uns ins Licht führt, spricht Gott zu uns:
‹Laß dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken
… Kein Gefühl ist das fernste.
Laß dich von mir nicht trennen.›
Und zum Abschied sagt er uns:
‹Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gieb mir die Hand.›
Dieses neue Land, in das wir gesandt werden, ist Gottes Geschenk: Sein erhabenes Geschenk, das Geschenk des Lebens, das Geschenk des Seins.»
3. ‹Es wandelt, was wir schauen› (Joseph von Eichendorff):
So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(18:46) ‹Es wandelt, was wir schauen› (Joseph von Eichendorff) und ein Brauch im jüdischen Laubhüttenfest
Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Eröffnungsreferat:
(30:39) Es wandelt, was wir schauen (Joseph von Eichendorff)
Retreat-Woche in Assisi (1989)
‹Stärke unseren Glauben› (Lk 17,5):
(49:08) Hoffnung vor dem Scherbenhaufen zerstörter Hoffnungen — ‹Du bist’s, der, was wir bauen, mild über uns zerbricht› (Joseph von Eichendorff: ‹Es wandelt, was wir schauen›): Die Hütten am Laubhüttenfest sind durchsichtig zu den Nachbarn und den Sternen
Erwachende Worte (2023): ‹Leiden›, 25:
«Leiden macht mir Angst, Du Quell der Seligkeit. Wo kommt es her? Doch nicht von Dir?
‹Ins Leben schleicht das Leiden
Sich heimlich wie ein Dieb,
Wir alle müssen scheiden
Von allem, was uns lieb.›
Soll ich dann n i c h t lieben, um nicht leiden zu müssen am Scheiden?
Nein, ich will lernen, so zu lieben, dass meine Liebe furchtlos das Scheiden vorausnimmt, mit-liebt und so das Leiden ‹aufhebt› ‒ schultert, aber erlöst, hinaufgehoben zu Dir.
‹Du bist’s, der, was wir bauen,
Mild über uns zerbricht,
Daß wir den Himmel schauen ‒
Darum so klag’ ich nicht.›
Alles Schwere am Leid aus Liebe zu anderen mitzutragen, ist wohl jener Himmel. Ihn zeig mir. Amen.»]
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[1] Jetzt und ewiges Leben: Ergänzend 3.3.
[2] Der Ausdruck nunc stans findet sich erstmals bei Thomas von Aquin (1225-1274). Er hat eine lange Vorgeschichte, beginnend mit Platon (428-348 v. Chr.) und weiterführenden Beiträgen von Plotin (205-270), Augustinus (354-430), Boethius (ca. 480-524) und späteren Denkern zum Thema ‹Zeit und Ewigkeit›; siehe auch Jetzt und ewiges Leben: Anm. 8
[3] Siehe Jetzt im Doppelbereich: Ergänzend: 2.3. und 3.1.
[4] Joseph von Eichendorff: ‹Der Umkehrende›, 4.