Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

jesus d christus titelCopyright © - Klaudia Menzi Steinberger

Rilke sagt in dichterischer Sprache etwas aus, dessen wir uns alle irgendwie bewusst sind, wenn er zu Gott spricht:

«Du sagtest  l e b e n  laut und  s t e r b e n  leise
und wiederholtest immer wieder:  S e i n!»
[1]

In Augenblicken glühendster Lebendigkeit wird uns bewusst, dass wir inmitten allen Wandels etwas in uns kennen, das Bestand hat: Wir haben Anteil am Sein. In solchen Augenblicken wird uns klar, dass unser eigenes Sein am Einen Schönen, Guten und Wahren Anteil hat und daher unzerstörbar ist, so wie diese höchsten Werte es sind.

Wir wissen darum auch, dass dieses Heilsein unser ganzes Wesen umfasst, nicht nur unseren Geist, sondern auch unsere ganze leibliche Wirklichkeit, trotz ihrer Vergänglichkeit.

Aus dieser Perspektive können wir also doch etwas über «Auferstehung der Toten» wissen, obwohl der Inhalt dieses Glaubenssatzes auf den ersten Blick entschieden jenseits des Horizontes unserer jetzigen Erfahrung zu liegen scheint.[2]

Die innere Erfahrung unzerstörbaren Seins ist grundsätzlich jedem Menschen zugänglich. Wie aber könnten wir daran Anteil haben, ohne selbst unzerstörbar zu sein?

Unser innerstes Sein ist unverwelklich, obzwar wir uns nicht vorstellen können, was das für uns bedeuten wird, wenn unsere zeitgebundene Form sich auflöst. Das Bild vom Aufstehen (wie vom Schlaf) das hinter «Auferstehung der Toten» steht, soll uns nicht irreführen; es gehört der Zeit an. Wenn es um überzeitliche Aussagen geht, dann lässt uns unsere Vorstellungskraft im Stich. Aber unsere Zugehörigkeit zum unvernichtbaren Sein wiegt schwer, auch wenn wir uns nicht vorstellen können, wie sie sich am Ende auswirken wird.[3]

Das Credo verpflichtet uns zu keiner bestimmten Vorstellung vom Leben nach dem Tode. Wenn ich sterben muss, weil für mich die Zeit um ist ‒ wie die Weisheit der Sprache es so treffend ausdrückt ‒, was soll dann «n a c h  dem Tod» überhaupt bedeuten?

Das «Ewige Leben» kommt nicht nach dem Tod, sondern ist ein Leben, dem der Tod nichts anhaben kann.

Diese Sicht leugnet natürlich nicht, was im landläufigen Sinn mit «Leben nach dem Tod» gemeint ist, berichtigt es aber am entscheidenden Punkt und darf es umso nachdrücklicher behaupten, weil es das «nach» leugnet.

Selbst wenn wir uns das noch nicht voll bewusst gemacht haben, so sehnen wir uns ja vor allem nach einem Leben, das über den Tod hinausgeht ‒ nicht der Zeit nach, sondern essentiell, seinem Wesen nach.

Auf dieses Leben brauchen wir nicht bis zu unserer Todesstunde zu warten. Heute schon können wir über die Zeit ‒ und so über den Tod ‒ hinausgehen, in dem Ausmaß, in dem wir im Jetzt leben.[4]

Unsere Sterblichkeit widerspricht dem nicht. Sie zeigt nur an, dass Sterben zum Leben dazugehört. Wir wissen ja aus Erfahrung, dass wir nur dann wirklich leben, wenn wir jeden Augenblick sterben.

«Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und Werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.»
[5]

Goethe wusste: Wir müssen den jetzigen Augenblick loslassen und so für das Alte sterben, um für das Neue, das uns entgegenkommt, empfänglich zu sein. Unsere vielen kleinen Tode bereiten uns für den letzten, großen vor.

In gläubigem Vertrauen auf die innerste Dynamik der Lebendigkeit ‒ im Glauben an den Heiligen Geist also ‒ dürfen wir sicher sein, dass auch im letzten Augenblick unseres Lebens, so wie in jedem vorhergehenden, das Loslassen des Alten Voraussetzung sein wird für den Empfang des Neuen ‒ dann des unvorstellbar Neuen.[6]

Verlangt das nicht Mut von uns? Großen Mut? Sollten wir nicht erwarten, dass «Ewiges Leben» höchsten Lebensmut von uns verlangt? Und nicht später einmal, sondern jetzt.

Wie anders sieht das doch aus, als die landläufige Vorstellung vom «Ewigen Leben» als Fortleben nach dem Tod.

Der indische Mystiker Kabir (1440-1518) sagt dazu:[7]

«Wenn du deine Fesseln nicht als Lebender sprengst,
meinst du,
Geister werden es später tun?
Seliges Entzücken der Seele,
nur weil der Leib verwest,
ist reine Phantasterei.
Was du jetzt findest, wirst du dann finden.
Wenn du jetzt nichts findest,
wirst du eben eine Wohnung
in der Stadt der Toten erben.
Wenn du dich jetzt auf göttliches Liebesspiel einlässt,
werden dann deine Züge befriedigte Lust spiegeln.»

Im Jetzt leben bedeutet nicht weniger, als sich auf ein Liebesspiel einzulassen mit der göttlichen Wirklichkeit, die uns mit jedem Atemzug neu begegnet.

Scheint es nicht so, als ob dieses letzte Wort im Credo uns «Das Ewige Leben» als größtes Versprechen vor Augen halte und zugleich als höchste Herausforderung für unser Leben hier und jetzt?[8]

[Audio Teil 4 (03:05-06:16)] Bruder David im Gespräch mit Pater Anselm Grün: «Unser Selbst ist nicht in Raum und Zeit, wir erleben es im Jetzt, das über Raum und Zeit erhaben ist. Unser Ich dagegen ist in Raum und Zeit. Und wir leben in diesem Doppelbereich. Das ist die Ehre und zugleich die Schwierigkeit ‒ die Aufgabe unseres Lebens in diesem Doppelbereich zu leben.

Ich und Selbst durchlaufen dabei, obwohl vereint, zwei unterschiedliche Prozesse:

Meine Lebensspanne von meiner Empfängnis bis zu meinem Tod gehört einem großen zyklischen Ereignis an, in dem Leben und Sterben ‒ ich unterscheide Tod und Sterben ‒ zusammengehören in unserer Lebendigkeit: Wir müssen viele Male sterben in dem vollen Sinne: loslassen und ganz was Neues kommt ‒ das gehört zum Leben dazu, das ist so eine Wellenbewegung oder eine Kreisbewegung, wie wir das ausdrücken wollen.

Zum Selbst gehört das Ausreifen. Also Ich-Selbst, dieser eine Ausdruck des Selbst, der ich bin, der gehört einerseits diesem Leben und Sterben an, das ist der Anteil in Raum und Zeit, aber in dem überzeitlichen Anteil geht es um Ausreifen.

Unter diesem Begriff verstehe ich, was der Dichter Rilke sagt:

‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren und unablässig ‒ éperdument ‒heimsen wir den Nektar des Sichtbaren in die große goldene Honigwabe des Unsichtbaren ein.›

Das Selbst wird durch alles, was wir an Freude und Leid erleben, irgendwie bereichert. Und in diesem Doppelbereich stehen wir auf den beiden Beinen einerseits in Zeit und Raum und anderseits im Jetzt ‒ über die Zeit erhaben im Selbst ‒, und ich sehe auch meine Aufgabe gerade jetzt in meinem hohen Alter darin, mehr und mehr das Selbst zu meinem Standbein zu machen, damit das Ich mehr das Spielbein wird. Und wenn dann das Ich stirbt, also nicht mehr da ist ‒ genau so wenig, wie es vorher da war, bevor ich da war und mich niemand vermisst hat ‒, dann bleibt noch das Selbst. Ich kann mir das freilich nicht bildlich vorstellen. Auch ein Embryo kann sich ja nicht vorstellen, wie man außerhalb des Mutterschoßes leben könnte. Ebenso kann sich eine Raupe nicht vorstellen, wie es sein könnte, als Schmetterling zu fliegen.

(06:34) «… Ich glaube als Christ an die Auferstehung des Fleisches. Darum bemühe ich mich zu verstehen, was das heißen kann, dieses Anreichern und ‹Einheimsen in die große goldene Honigwabe›. Ich kenne viele Menschen, die sagen: Ich lebe ein volles Leben und wenn es vorbei ist, ist es vorbei. Die leben auch nicht schlecht …»

(08:38) Weil wir eben in unserem ganzen Wesen auf ein Du bezogen sind, das über Zeit und Raum erhaben ist, kann sich das nicht ändern, wenn unsere Zeit zu Ende ist. Diese Beziehung bleibt. Sie hat ewigen Bestand. Beweisen lässt es sich wohl kaum, dass uns das physisch Erlebte auch über den Tod hinaus bewusst bleibt. Aber ich habe ein Argument dafür: Nachdem das unvergängliche Göttliche jetzt schon in unserem Erleben jeder Kastanienblüte, jeder-Wimper eines geliebten Menschen, jedes leisesten Seufzers gegenwärtig ist, wie sollte das Erlebte durch den Tod plötzlich verschwinden?

Ich freue mich also auf die Wiederbegegnung mit meiner Mutter, meiner Großmutter und mit Freunden, die schon gestorben sind. Aber ich möchte auch Menschen sehen, die ich nie persönlich kennenlernen konnte. Joseph von Eichendorff zum Beispiel möchte ich sehr gerne kennenlernen. Skifahren möchte ich mit Eichendorff, denn der ist in seinem Leben nie Ski gefahren. Ihm würde das sicher sehr gefallen. Ich kann mir das gut ausmalen ‒ und habe ich nicht ein Recht, mir das auszumalen?

‹Das, was war›, sagt T. S. Eliot, ‹und das, was hätte sein können, weisen auf das gleiche Ziel, und das ist immer jetzt.›»[9]

[Audio Tag 4 ‒ Nachmittag (30:49)] «‹Alles ist immer jetzt› (T. S. Eliot).[10]

Und wenn wir im Jetzt leben, ist es und ist und ist: Es hat Anteil an der Zeit ‒ wir erleben es in der Zeit ‒, aber alles, was ist, ist zugleich in diesem Doppelbereich, zugleich in der Zeit und über die Zeit hinaus, weil ‹Alles ist immer  j e t z t›, alles! Und das ist nicht nur der Mensch, der immer ist

Also ‹im Ewigen› ist zugleich in Zeit und Ewigkeit. Es ist die menschliche Einsicht oder Erfahrung, die hinter der christlichen Formulierung von der ‹Auferstehung des Fleisches› steht.

Das ist ja ein ganz früher Glaubenssatz im Credo, im apostolischen Glaubensbekenntnis:

‹Ich glaube an den Heiligen Geist,
die heilige Katholische Kirche,
Gemeinschaft der Heiligen,
Vergebung der Sünden,
Auferstehung der Toten (im Urtext: ‹Auferstehung des Fleisches›)
und das ewige Leben.
Amen.›

‹Ich glaube an den Hl. Geist›‹Geist› ist ‹Leben›:

‹Ich glaube an den Hl. Geist› heißt ‹Ich glaube, dass das Leben göttlich ist›, ich glaube, dass das Wesen des Lebens diesem großen Geheimnis angehört. Das ist sehr christlich ausgedrückt, das muss ja jeder Mensch sagen können: Das Leben ist göttlich, ist total geheimnisvoll. Und wir leben es ja, sind drin:

‹In ihm leben wir, weben wir und sind› (Apg 17,28).

Und dann folgt im Credo die Kirche, die Gemeinschaft, denn der Geist drückt sich ja in Beziehung aus, ‹Vergebung der Sünden›: keine Trennung mehr ‒ Sünde ist Absonderung ‒, alles vereint, und ‹Auferstehung des Fleisches› und ‹das ewige Leben›.

Und ‹Fleisch› ist alles, was vergänglich ist.

Und Auferstehung heißt ja nicht ‹zurück-kommen›, das ist so ein populäres Missverständnis: Jesus ist gestorben und dann ist er wieder auferstanden, wieder zurückgekommen. Nein, die Auferstehung geht in einer Richtung weiter.

Die älteste und beste Fassung von Auferstehung ist: ‹Sein Leben ist verborgen in Gott› (Kol 3,3), in dem großen Geheimnis. Aber es ist sein Leben.

Das ist ganz etwas anderes wie: er ist gestorben und damit ist es aus.

Nein, er ist gestorben und auferstanden in dem Sinn, dass sein Leben jetzt verborgen ist ‒ das große Geheimnis ist uns ja verborgen ‒ in Gott.

Und so ist auch die ‹Auferstehung des Fleisches› die Auferstehung von allem, was vergänglich ist: der Mandi und der Anton oder alle unsere Schweine ‒ die gehören ja dazu, die sind ja auch sterblich ‒, alles, was vergänglich ist: unsere Katzen, unsere Hunde, darum sagen die Kinder: ‹Ich möchte gar nicht in den Himmel, wenn mein Kanarienvogel nicht dort ist›. Selbstverständlich! Er muss ja dort sein. Das ist alles vergänglich, aber es lebt alles im Jetzt. Und das heißt: Es lebt zugleich in der Ewigkeit.

Ein wunderschönes Gedicht von Johann Gottfried Herder:[11]

‹Ein Traum, ein Traum ist unser Leben
Auf Erden hier.
Wie Schatten auf den Wogen schweben
Und schwinden wir

Und messen unsre trägen Tritte
Nach Raum und Zeit;
Und sind (und wissen’s nicht) in Mitte
Der Ewigkeit.›

Das Jetzt, dieser Augenblick ist unvergänglich, ist ja ewig.

Und da braucht nichts wiederholt zu werden, zurückkommen: Es ist einfach.

Und irgendwie scheint es, hofft man und glaubt man, dass dann im Tod, im Sterben, wenn die Zeit um ist, diese große goldene Honigwabe uns zugänglich wird, wo alles drin ist.»[12]

[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2-4, 6, 8f., 12

[Ergänzend:

1. Jetzt und ewiges Leben:

1.1. Audio Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Dialog mit David Steindl-Rast
Teil 3:
(31:33) Tod und Jenseits: die traditionelle Lehre und die Sprache von Bruder David /
(35:33) Das Jenseits beginnt hier ‒ Ein Wort von Kabir / (38:06) Gegenwart Gottes im Herzen, das ‹Jetzt, das nicht vergeht› (‹Nunc stans›)[13] und die Schau Gottes / (40:25) Der Schmerz, wenn wir mit Geisteskranken an Grenzen stoßen / (42:47) Das beherzte Schlusswort einer Teilnehmerin

1.2. Jetzt im Doppelbereich:

Johannes Kaup: «Vom Leiden hoffen wir, dass es ebenfalls verwandelt wird. Deswegen frage ich noch einmal anders: Wird auch die Vergänglichkeit verwandelt?»

Bruder David: «Sie wird schon jetzt verwandelt. Jetzt oder nie.

Der mystische Dichter Kabir fragt: ‹Wenn du als Lebender nicht deine Ketten sprengst, sollen Geister es tun, wenn du tot bist?›

Er meint, ewige Seligkeit, nur weil die Würmer dich fressen, sei ein Wunschtraum. Was du jetzt findest, wirst du dann gefunden haben, was du jetzt versäumst, wirst du dann versäumt haben. Schon jetzt musst du den großen Gast empfangen und umarmen.»

2. Auferstehung des Fleisches:

2.1. Audio Credo (2023): Teil 2: Urkraft Hl Geist:
(15:05) ‹Die Auferstehung der Toten›, im Urtext heißt es ‹die Auferstehung des Fleisches›

2.2. Vertrauen in das Leben (2014); siehe auch Kreuz und Auferstehung: Ergänzend: 2.2.
Vortrag:
(38:21) ‹Stirb und Werde›: Auferstehung meint etwas anderes – ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke)
– ‹Euer Leben ist verborgen in Gott› (Kol 3,3)

2.3. Credo (2015): ‹Auferstehung der Toten›, 217f. und 210:

«Wenn ich an persönliche Erlebnisse zurückdenke, bei denen mir die Wirklichkeit bewusst wurde, die im Credo ‹Auferstehung des Fleisches› heißt, dann spüre ich, wie schade es ist, dass diese wörtliche Übersetzung in ‹Auferstehung der Toten› umgewandelt wurde.

‹Fleisch› ist  a l l e s  Vergängliche, und wir dürfen gläubig vertrauen, dass es im Unvergänglichen liebend aufgehoben ist.

Die Einengung auf die Toten ist zugleich Verlust und Verzerrung. Verlust, weil so vieles ausgeblendet wird; Verzerrung, weil der Blick vom ganzen vergänglichen Kosmos abgelenkt, sich auf das menschliche Privatinteresse am Los der Toten beschränkt. Es geht hier um weit mehr. Ja, es geht gar nicht um Tod, sondern um Leben ‒ ewiges Leben. Es geht hier nicht um ein Ereignis ‹nach dem Tod›, sondern um etwas, das hier und jetzt stattfinden kann und soll.

Die ‹Auferstehung des Fleisches› ist nicht Umkehrung des Totseins, sondern Überhöhung des Lebendigseins.

So ruft auch in meiner Erinnerung ‹Auferstehung des Fleisches› Augenblicke wach, in denen meine Lebendigkeit so intensiv wurde, dass sie plötzlich Zeit und Vergänglichkeit überragte und im ewigen Jetzt ‒ wenn auch nur flüchtig ‒ an Unvergänglichkeit streifte.»

«Durch unseren Körper sind wir ja untrennbar mit allen anderen Lebewesen und darüber hinaus mit dem ganzen Universum verwoben. Jedes Atom in uns war einmal in einer Super-Nova.

Die Übersetzung ‹Auferstehung der Toten› engt die Aussage dieses Glaubenssatzes zu sehr ein. In meiner Jugend hieß es noch ‹Auferstehung des Fleisches›, und das trifft das lateinische ‹resurrectionem carnis› genauer.

Das Credo spricht hier nicht nur von Menschen, sondern von  a l l e m  Vergänglichen. Alle Formen, die in der Zeit erscheinen und vergehen, sind hier im Glauben an Auferstehung mit eingeschlossen ‒ das ganze Universum.»

2.4. Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich ‒ 9. Dialog›, 189f.:

«Bevor wir darüber sprechen, ist es wichtig zu wissen, was wir mit Auferstehung überhaupt meinen. Die meisten Leute denken dabei an ein wieder Auferstehen, also ein Wiederkommen von etwas, das gestorben und zerfallen ist. Aber im richtigen Verständnis von Auferstehung gibt es kein ‹wieder›. Auferstehung geht nicht wieder zurück in Raum und Zeit, sondern vorwärts in das große Geheimnis hinein. In einem Roman von C. S. Lewis[14], ‹Die große Scheidung oder Zwischen Himmel und Hölle›, ist dieses ‹Vorwärts› schön beschrieben. Die Seligen im Himmel reiten dem ewigen Sonnenaufgang entgegen und rufen einander zu: ‹Höher hinauf und tiefer hinein!› Diese Vorstellung ist in der christlichen Tradition fest verankert. Sie geht ‒ vielleicht sogar im Bewusstsein von C. S. Lewis ‒ zurück auf die kappadokischen Kirchenväter[15], die das Auferstehungsleben als eine dynamische Entdeckungsfahrt in das Geheimnis Gottes hinein gedacht haben. Auferstehung heißt, in das Geheimnis hineingenommen zu werden. In diesem Zusammenhang müssen wir die Auferstehung des Fleisches sehen. Sie ist eine Wirklichkeit, mit der wir jetzt schon in Berührung sind. Unser ganzes Leben ist eine Auseinandersetzung in Raum und Zeit dem Großen Geheimnis, das über Raum und Zeit hinausgeht. Schon jetzt nimmt jedes Erlebnis im Doppelbereich an diesen beiden Aspekten teil. Wenn also Raum und Zeit wegfallen, ist das, was ich erlebt habe, damit nicht ausgelöscht. Das zeigt uns schon jetzt unsere Erinnerung, die Tatsache, dass wir uns überhaupt an etwas erinnern können.»

3. Entwicklung als zyklischer Entfaltungsprozess im Unterschied zu Entwicklung als allmähliche Anreicherung, Bereicherung, Ausreifen[16]:

3.1. Film Heilsame Spiritualität (12. April 2013): Teil 1 «Lebenslanges Lernen»:
(16:05-27:12) Entwicklung auf der natürlichen Ebene: Same ‒ Keim ‒ Blüte ‒ Frucht ‒ Same und Entwicklung im Sinn von Erfahrungen sammeln, zielgerichtet nicht vorauszusehen, indem wir im Jetzt sind / (22:38) im Jetzt ist der Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit, ‹der Augenblick innerhalb und außerhalb der Zeit› (T. S. Eliot)  / (23:35) ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke) ‒ den Nektar ‹einheimsen› und Wort des Kirchenvaters Ignatius von Antiochien: ‹In meinem Herzen fließt eine Quelle und ich höre das Wasser sagen: Heim zum Vater›[17]

3.2 Audio Lebensorientierung (2015)
4. Tag, 13. Februar, Freitagvormittag mit 7. Impulsvortrag (Bruder David), siehe
Transkription S. 2, 17f. und 28:
Entwicklung auf zwei Ebenen, was passiert im Tod?

3.3. Audio Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014); siehe auch Mitschrift, 7-9, und Sterben:
(33:58) «Im Bereich des Geistes geht es um etwas ganz anderes. Da geht es nicht um Entwicklung, sondern um etwas, was man Anreicherung nennen könnte.»

3.4. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 105-107:

«Und das ist unsere Lebensgeschichte als Selbst: Bereicherung, ganz was anderes wie Entwicklung. Bereicherung geht in einer Linie, Entwicklung ist kreisförmig.»[18]]

_______________

[1] Bruder David spricht das Gedicht von Rilke aus dem Stundenbuch ‹Ich lese es heraus aus deinem Wort› im Audio
Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 4 ‒ Nachmittag: ‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere›:
(04:33) ‹Der Tod ist groß›: Sterben in jedem Augenblick ‒ der Tod, die Frucht des Lebens ‒ den eigenen Tod sterben: Bruder David liest Gedichte und Verse aus dem Stundenbuch von R. M. Rilke

[2] Credo (2015): ‹Auferstehung der Toten›, 213f.

[3] Credo (2015): ‹Auferstehung der Toten›, 214

[4] Credo (2015): Ewiges Leben›, 222

[5] J. W. Goethe: ‹Selige Sehnsucht›

[6] Credo (2015): ‹Auferstehung der Toten›, 215

[7] Robert Bly (Hrsg.): Kabir: Ecstatic Poems, 2004

[8] Credo (2015): Ewiges Leben›, 228

[9] Gespräch von Bruder David mit P. Anselm Grün im Audio
Christliche Spiritualität für die Gegenwart (2023): Teil 4:
‹Dankbar leben – oder: Wenn jeder Augenblick zum Geschenk wird›; abgedruckt im Buch Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015), 91-97 und 105f. (leicht überarbeitet):
(03:05) Ich-Selbst in zwei sich unterscheidenden Aspekten von Entwicklung: einerseits als zyklischer Entfaltungsprozess und anderseits als allmähliche Bereicherung
(06:18) Ich glaube an die Auferstehung des Fleisches, die unsere Einzigartigkeit einschließt

T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V; siehe auch Stillehalten (Anm. 6)

[10] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V; siehe auch Stillehalten

[11] Siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 91

[12] Sinngemäße Wiedergabe des Vortrags von Bruder David im Audio
Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 4 ‒ Nachmittag: ‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere›:
(31:31-35:27); zugleich die Fortsetzung dieses Vortrags (21:24-30:49) in Doppelbereich Ich-Selbst

[13] Der Ausdruck ‹nunc stans findet sich erstmals bei Thomas von Aquin (1225-1274). Er hat eine lange Vorgeschichte, beginnend mit Platon (428-348 v. Chr.) und weiterführenden Beiträgen von Plotin (205-270), Augustinus (354-430), Boethius (ca. 480-524) und späteren Denkern zum Thema ‹Zeit und Ewigkeit›; siehe auch Jetzt und ewiges Leben, Anm. 8.

[14] Clive Staples Lewis (1898-1963): irischer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, verfasste neben Werken der Literaturkritik auch bekannte christliche apologetische Schriften wie ‹Mere Christianity›, ‹The Abolition of Man› und Romane wie ‹The Great Divorce› und ‹The Chronicles of Narnia›.

[15] Kappadokien ist ein großes Gebiet in Kleinasien. Im 4. Jahrhundert n. Chr. prägten die kappadokischen Kirchenväter Basilius der Große, Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz die Geschichte der künftigen christlichen Kirche. Sie bildeten das kappadokische Dreigestirn im Kampf für trinitarischen Glauben an die Dreifaltigkeit Gott-Vater, Gott-Sohn und Gott-Heiliger Geist.

[16] Siehe auch ENTWICKLUNG, in: Das ABC der Schlüsselworte, 132f. im Buch Orientierung finden (2021) mit Blick auf drei verschiedene Aspekte unserer persönlichen Geschichte, 52f.:

«Zunächst weist Entwicklung auf den Entfaltungsprozess hin, der uns und allen andren Lebewesen gemein ist ‒ wie etwa die in der Knospenhülle eingewickelten Blütenblätter sich entwickeln und entfalten. Entwicklung kann aber auch eine allmähliche Bereicherung bedeuten, beispielsweise, wenn wir unseren Wortschatz oder unsren Freundeskreis in sozialen Netzwerken entwickeln.»

[17] Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökumene:
(32:15) ‹Heim zum Vater› (das Wort von Ignatius von Antiochien)

[18] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 105-107. Bruder David sagt dort ‹Bereicherung›, meint aber dasselbe wie ‹Anreicherung› im Unterschied zu Entwicklung.



Quellenangaben

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