Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

jesus d christus titelCopyright © - Klaudia Menzi Steinberger

Mein Staunen kennt keine Grenzen: Der Krieg ist vorbei und ich bin am Leben! Nur langsam dämmert es mir auf, aber dann steht mir plötzlich klar vor Augen: Ein ganzes Leben liegt jetzt vor mir!

Beglückt und erschreckt zugleich bin ich von dieser Einsicht ‒ erschreckt, weil ich ahne, dass diese große Gabe mir eine ebenso große Aufgabe stellt. Was soll ich aus meinem Leben machen?

Wenn ich eine der unzähligen Möglichkeiten ergreife, so bedeutet das, dass ich alle anderen loslassen muss. Was ist mir also am wichtigsten?

Vorausblickend denke ich darüber nach und fühle, dass es mir weniger wichtig sein wird, was ich tue, als dass ich es mir Freude tue.

Auf die Kriegszeit zurückblickend sehe ich, dass mir gerade in den schwersten, unglücklichsten Zeiten jene innere Freude, um die es geht, Auftrieb gab, eine Freude, die von Glück oder Unglück gar nicht abhängt. Aber wovon hängt sie dann ab? Darüber grüble ich nach.

Da kommt mir plötzlich aus heiterem Himmel der Satz in den Sinn:

«Den Tod allzeit vor Augen halten.»

Ja, wirklich «aus heiterem Himmel» ‒ aus heiterstem!

Es ist ein strahlender August in Salzburg. Ich bin hierher eingeladen worden von Freunden, darunter ein entzückendes Mädchen, in das ich verliebt bin. Die Stadt ist voller Musik; überall flattern Klänge im Sommerwind auf Straßen und Plätzen, unter Arkaden und aus offenen Fenstern. Zum ersten Mal finden dieses Jahr die Salzburger Musikfestwochen wieder in einem freien Österreich statt. Für eine Packung amerikanischer Zigaretten findet ein Platzanweiser im Festspielhaus wie selbstverständlich zwei freie Parterresitze und wir können Mozarts «Don Giovanni» miterleben.

Don Giovannis Ende bringt es mir wieder in den Sinn:

«Den Tod allzeit vor Augen halten.»

Dieser Satz geht mir im Kopf herum. Er stammt aus der Regel des heiligen Benedikt, einem fast 1500 Jahre alten Büchlein, das ich als Student gelesen habe, weil wir aus Trotz alles lasen, was dem totalitären Regime gegen den Strich ging. Ausgerechnet diese wenigen Worte haben sich mir eingeprägt und jetzt dämmert mir auch, warum:

In all den vergangenen Jahren hatten wir junge Menschen den Tod zum Greifen nahe vor Augen. Es scheint mir jetzt, dass mehr meiner Freunde an den Fronten umgekommen sind, als übrig blieben. Und auch zu Hause hatten Bomben täglich Zerstörung und Tod gebracht. Ein einziges unvorsichtig geflüstertes Wort konnte die Todesstrafe nach sich ziehen; einer unserer Kapläne wurde verhaftet und hingerichtet.[1] Aber trotzdem muss ich jetzt sagen: Diese schrecklichen Kriegsjahre waren für mich und meine Freunde Jahre echter Freude, jener Freude, dich ich nie einbüßen möchte. Darum die Frage: Wovon hing denn noch bis vor Kurzem diese Freude ab?

Darauf steht nun plötzlich die überraschende Antwort vor mir: Wir haben so freudig gelebt, weil wir gar nicht anders konnten, als den Tod allzeit vor Augen zu haben. Das zwang uns, im Augenblick zu leben ‒ ganz im Jetzt ‒, und darin lag das Geheimnis unserer Lebensfreude.

Um diesen Zündfunken freudigen Lebendigseins nicht zu verlieren, müsste ich also auch in Zukunft

«den Tod allzeit vor Augen halten.»

Diesen Leitsatz hatte ich aber in der Benediktsregel gefunden. Sollte das also von mir verlangen, Benediktinermönch zu werden? Bei diesem Gedanken wird mir unbehaglich und so gehe ich lieber Polka tanzen; niemand tanzt die Krebspolka mit so viel Feier wie meine Elisabeth.

Johannes Kaup im Gespräch mit Bruder David:

«Die Kriegsjahre, in denen so viele Freunde und Kameraden an der Front oder durch Bombentreffer in Wien ihr Leben lassen mussten, haben Sie einmal in einem früheren Gespräch als ‹Jahre höchsten Lebendigseins› geschildert. Wie ist das zu verstehen, denn Sie hätten bei jedem Schicksalsschlag verzweifeln und resignieren können? Woher trotzdem Lebendigkeit und Lebensmut?»

Bruder David: «Ich glaube, viele Menschen erleben das auch heute noch, wenn sie in Lebensgefahr geraten, dass die Lebendigkeit umso mehr aufflammt. Der Grund scheint mir zu sein, dass man dann ganz in der Gegenwart leben muss. Der Grad unserer Lebendigkeit misst sich am Ausmaß, in dem wir nicht an der Vergangenheit hängen oder auf die Zukunft schauen, sondern wirklich im Jetzt sind. Dazu waren wir damals gezwungen, und darum waren wir so lebendig und freudig, trotz allem.»

Johannes Kaup: «Weil Sie den Tod vor Augen hatten?»

Bruder David: «Weil wir den Tod ständig vor Augen hatten, waren wir gezwungen, diesen möglicherweise letzten Augenblick des Lebens voll zu genießen.»

Johannes Kaup: «Also: Lebe deinen Tag so, als ob es dein letzter wäre.»

Bruder David: «Ganz in diesem Sinn.»

Johannes Kaup: «Du weißt nicht, ob du morgen noch aufwachst.»

Bruder David: «Wir mussten als Kinder in den Kriegsjahren praktisch jede Nacht in den Luftschutzkeller.»

Johannes Kaup: «Bei einem dieser Angriffe haben Sie es einmal nicht geschafft.»

Bruder David: «Das war in unserem Haus im Kaasgraben. Unser Hausherr hatte selbst einen Luftschutzkeller gebaut, weil er kleine Kinder hatte, und wir durften dann auch immer in diesen Keller flüchten. Einmal konnten wir diese schwere Tür nicht mehr zuziehen, weil der Luftdruck von den fallenden Bomben schon so stark war und sie immer wieder aufriss. Zu dieser Zeit haben wir unsere Kleidung abends immer genauso legen müssen, dass wir sie schnell finden und anziehen können, auch im Finsteren; viel Licht durfte man nicht machen. Es war Verdunkelung in Wien befohlen. Beim Fliegeralarm in der Nacht mussten wir also im Dunkeln alles schnell finden und anziehen und dann in den Luftschutzkeller. Heute noch lege ich beim Ausziehen alles so hin, dass ich es auch im Finstern finden könnte. Das ist mir zur Gewohnheit geworden.»

Johannes Kaup: «Das war schon eine unglaublich aufregende Zeit, zwischen Leben und Tod hin und her zu pendeln und alle Emotionen zu erleben.»

Bruder David: «Es war sicher prägend, aber wir haben es nicht anders erlebt als: Jetzt muss das getan werden. Augenblick für Augenblick. Man hatte gar keine Zeit, um darüber nachzudenken. Das muss jetzt erledigt werden; so muss jetzt geholfen werden, mehr dachten wir nicht. Sich darüber Gedanken zu machen, wie schrecklich alles ist, wäre uns gar nicht in den Sinn gekommen.»

[Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹3 Entscheidung, 1946-1956›, 50f. und ‹2 Christ werden: Meine frühe Jugend zwischen Menschenwürde und Verdemütigung, 1936 und 1946› ‒ 2. Dialog›, 44f. und 47]

[Ergänzend:

‹Den Tod allezeit vor Augen› (Regula Benedicti RB 4,47):

1. Filminterview Was am Ende wirklich zählt (2022); siehe auch Transkription, 13f.:

Isha Johanna Schury: «Ich hätte Dich jetzt gefragt, ob sich aus Dir noch etwas mitteilen möchte, abschließend für unser Gespräch, wo Du das Gefühl hast, das möchte noch hinaus?»

David Steindl-Rast: «Vielleicht den Gedanken, den Tod allzeit vor Augen zu haben.

Das ist ein Satz aus der Regel des hl. Benedikt, der mich schon bevor ich Benediktiner geworden bin, sehr berührt hat, und ich habe erkannt ‒ damals war ich so ungefähr 19 oder 20 Jahre, höchstens ‒, dann habe ich erkannt, dass unser ganzes Leben bis dahin dadurch geprägt war, dass wir den Tod allezeit vor Augen hatten. Das war ja mitten im Krieg und unsere Freunde sind immer wieder gefallen an der Front, die Bomben sind gefallen links und rechts, also, wir hatten den Tod allezeit vor Augen.

Und rückblickend, damals habe ich gesehen: ‹Ah, darum waren wir so glücklich!

Darum waren wir so freudig! Weil wir ‒ damals hätte ich das nie so ausdrücken können ‒, weil wir im Jetzt leben mussten.

Wenn man den Tod vor Augen hat, muss man im Jetzt leben.

Warum ich dann Mönch geworden bin und Benediktiner, hat viel damit zu tun, dass ich wirklich den Tod täglich vor Augen halten wollte. Und ich muss sagen, wenn ich auch sonst Vieles besser machen hätte können. Aber das ist mir jedenfalls gelungen. Ich bin vollkommen überzeugt, dass es keinen Tag in meinem Leben gegeben hat, an dem ich nicht viele Male den Tod vor Augen hatte.

Und darum muss ich sagen, ich hatte wirklich ein sehr freudiges Leben. Dafür bin ich auch sehr dankbar.»

2. Film Dem Geheimnis auf der Spur (2016):

(01:22) «Was ist das Kostbarste, das man sich vorstellen kann? Der nächste Augenblick. Wenn du den nicht bekommst, ist alles andere, was du dir wünschst, nicht da. Der geschenkte Augenblick. Dieser wird dir einfach gegeben. Du kannst nichts machen, nicht einmal, wenn du dir einen weiteren kaufen willst. Ein reines Geschenk! Das größte Geschenk ist jeder Augenblick, der dir gegeben wird ‒ jetzt und jetzt und jetzt. Und sich dieses Geschenkes bewusst zu werden, das ist ‹dankbar leben›

Und dieser Viktor Springer:[2] Ich bete für ihn und bin dankbar: mein ganzes Leben, das hat er mir geschenkt sozusagen, und darum auch diese ganze Idee von Dankbarkeit: Werde dir bewusst, dass du jetzt einen einzigartigen Augenblick vor dir hast!

Das Mönch werden war eigentlich, weil ich die Idee von ‹den Tod allezeit vor Augen haben› damit verbunden habe, Benediktiner zu werden, weil dieser Satz in der Benediktiner Regel steht: ‹den Tod allezeit vor Augen haben›, und mir bewusst geworden ist, ‒ nach dem Krieg ‒, dass wir das eigentlich verwirklicht haben und darum so glücklich waren. Wir waren darum so glücklich, denn das heißt ja: im Augenblick leben.»

3. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016): Tag 4 ‒ Nachmittag: ‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere›:
(49:25) Leiden als Hebel zur Praxis: ‹den Tod allezeit vor Augen haben›

4. Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 92:

«Wo wir es mit Lebendigem zu tun haben, ist nichts automatisch. Im Leben ist Wachstum organisch mit Sterben verbunden. Leben heißt, mit jedem Wimpernschlag für Altes sterben und für Neues geboren werden. Jeder Fortschritt im Leben ist ein Sterben in größere Lebendigkeit hinein. Wer dazu den Mut nicht hat, kann weder leben noch sterben. Lebensmut ist die Tapferkeit, die wir für jenes Immer-wieder-Sterben brauchen, das zum wachen Lebendigsein untrennbar dazugehört. Auch im Bereich der Sinnlichkeit müssen wir immer wieder sterben, um so Sinn zu finden.

Das ist ja die Bedeutung des ‹memento mori›, das wir als Mahnwort etwa an Sonnenuhren alter Köster lesen. Wenn es uns auch dem Wortlaut nach auffordert, daran zu denken, dass wir sterben müssen ‒ und nicht später irgendwann, sondern hier und jetzt ‒, so ist diese Mahnung gerade deshalb Aufruf, bewusster zu leben. Darum lautet die Aufschrift auch manchmal ‹memento vivere›, ohne dass die Bedeutung sich ändert.»

5. Die christlich-buddhistische Begegnung, 1-3: Transkription der DVD: ‹Der Atem der Stille: Mystik heute›, Benediktushof Edition (2006):

«Und da ist mir plötzlich klar geworden in dieser herrlichsten Zeit meiner Jugend, dass wir deshalb so glücklich waren. ‒ Wir waren ungeheuer glücklich: Die ganze Verwüstung geschehen, aber inmitten von dem allem, und besonders in den vorhergehenden Jahren, waren wir die glücklichsten jungen Leute, die ich mir vorstellen kann. Es war wunderbar trotz all dem. ‒ Und jetzt hab ich dann plötzlich gesehen, das war deshalb so, weil wir den Tod allezeit vor Augen hatten. Dadurch sind wir so lebendig geworden.»]

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[1] P. Heinrich Maier (1908-1945) war ein österreichischer römisch-katholischer Priester, Pädagoge, Philosoph sowie Widerstandskämpfer gegen Hitler.

[2] (00:45) «Da oben ‒ hinter diesem Fenster oben, war die Geschichte, wo die Russen uns gedroht haben, uns zu erschießen, wenn wir diese Nadja nicht herausgeben. Und wir haben natürlich keine Ahnung gehabt, wo diese Nadja ist, und dann haben sie so in die Luft geschossen und da ist der Viktor Springer, der unten in der nächsten Villa wohnt, gekommen und hat uns retten wollen und hat an der Gartentüre gerüttelt und da haben sie dann ihn erschossen. Der hat mein Leben gerettet.»



Quellenangaben

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