Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

jesus d christus titelCopyright © - Klaudia Menzi-Steinberger

 [Vortrag (05:21-30:56)]

«Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh die andre an: Es ist in allen.

Und doch ist einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.»

Rainer Maria Rilke: Herbst

«Es sind viele, viele Anklänge in dem Gedicht, nicht nur, dass jetzt gerade so Frühherbst ist und die Blätter fangen schon an zu fallen und

‹sie fallen mit verneinender Gebärde.›

Aber dieses Nein ist doch auch schließlich ein Ja oder fällt in das unendliche Ja Gottes.

‹Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh die andre an: Es ist in allen.

Und doch ist einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.›

Und mir klingt das fast wie ein Echo des Satzes im Johannesbrief:

‹Wenn dein Herz dich anklagt, Gott ist größer als dein Herz› (1 Joh 3,20).

Dieses Fallen ist auch ein Anklagen unseres Herzens und ich stell mir vor, dass besonders die, die mit Theresia viel zusammen waren, sich auch ständig immer fragen ‒ so ist das ja in solchen Gelegenheiten: ‹Hab ich das Rechte gesagt, hab ich das Rechte getan, was hätte ich sonst noch tun können. Wo war ich noch nicht, wie sie mich gebraucht hat?›

‹Wenn unser Herz uns anklagt, Gott ist größer als unser Herz› (1 Joh 3,20).

Sein sind diese Hände, in die wir da fallen, die allgemeine Fallkraft uns zieht ‒, die Schwerkraft, die zieht uns auf diesen Schwerpunkt hin. Das müssen wir schon ernst nehmen. Und überhaupt, ich glaube, dass der Trost, den wir finden können, immer daraus entspringt, dass wir den Tod ernst nehmen.

Wenn wir den Tod nicht ernst nehmen, nehmen wir auch das Leben nicht ernst und finden auch nicht den Trost, den wir finden können.

Aber wenn wir den Tod ernst nehmen, dann sehen wir zunächst, dass wir alle unsern Tod wählen.

Wenn es so dramatisch und mitten im Leben ist, wenn die Umstände so ungewöhnlich sind, dann ist es offensichtlicher.

Aber jeder, der mit Sterbenden war und der irgendetwas vom Sterben weiß und den Tod ernst nimmt, weiß auch, dass wir nicht sterben können, solange wir nicht unsern Tod willentlich wählen.

Natürlich ist es meistens für uns eine Krankheit oder einfach Altersschwäche, die uns umbringt, aber umgebracht werden ist ja noch nicht sterben.

Sterben ist etwas, was wir freiwillig tun müssen.

Sterben hat kein Passiv in der deutschen Sprache und in keiner der andern Sprachen, die ich kenne. Man kann nicht sagen: ‹Ich werde gestorben›

‹I c h  s t e r b e.›

Und darin drückt die Sprache eine tiefe Einsicht aus, dass es sich hier um etwas handelt, was uns tatkräftigen Mut abverlangt. Wir müssen etwas tun.

Und die Schwierigkeit ist nun, dass wir gerade in den Situationen, in denen wir gewöhnlich sterben müssen, nicht sehr tatkräftig sind, dass wir schwach sind, alt sind, krank sind, unter schrecklichen Schmerzen stehen, leiden, gepresst sind, gedrängt sind.

Und da entspringt auch wieder ein zweiter Punkt aus dem Ernstnehmen des Todes:

Erstens, dass wir willentlich sterben müssen: alle ‒ dass man nur willentlich sterben kann, aber:

Zweitens, Dass die meisten von uns das nicht im letzten Augenblick können. Das ist nicht anzunehmen, daher weiß man nicht, wann wir wirklich sterben.

Wenn wir den Tod ernst nehmen, sehen wir mehr und mehr, dass es wichtigere Todespunkte in unserem Leben gibt als die letzte Minute ‒, dass nicht anzunehmen ist, dass die meisten Menschen in ihrer letzten Minute sterben. Ich könnte mir vorstellen, dass die meisten Menschen irgendwann in der Mitte ihres Lebens sterben. Wir wissen ja auch nicht ‒ und das ist die andere Seite ‒, wann Menschen wirklich zum Leben kommen.

Und zwar brauchen wir da gar nicht erst hinausschauen und uns fragen, ob das embryonale Leben bei der Befruchtung des Eis beginnt, oder beim Herzklopfen oder im dritten Monat oder im sechsten Monat: Das ist ja alles äußerlich gesehen. Wir brauchen uns nur selber zu fragen: Wann bin ich wirklich völlig lebendig geworden?

Sicher nicht bei der Geburt, sicher nicht wie ich sieben Jahre war, denn wie ich zehn Jahre war, war ich mehr lebendig, als wie ich sieben Jahre war, war mehr Leben da.

Wann bin ich der geworden, der ich eigentlich bin oder sein sollte oder werden sollte?

Wir wissen gar nicht, ob wir nicht schon den Gipfelpunkt erreicht haben in unserem Leben ‒, in gewisser Hinsicht sicher nicht, in gewisser Hinsicht schon. Wir wissen es nicht, es ist völlig verborgen.

Das zum Leben kommen ist völlig verborgen, warum soll denn das Sterben nicht völlig verborgen sein?

Wir wissen nicht, wann ein Mensch völlig lebendig wird und wir wissen nicht, wann der Mensch stirbt. Und meine persönliche Ansicht ‒ ich würde fast schon sagen: Überzeugung ‒ ist, dass wir genau an dem Punkt sterben, wo wir völlig lebendig werden.

(13:02) Das ist irgendwo ein ganz versteckter Punkt in unserem Leben ‒ wir wissen‘s vielleicht selber nicht ‒, aber, wenn wir einmal wirklich lebendig geworden sind, von da an ist nichts mehr übrig, als dass das Äußerliche sich dann zur Ruhe legt irgendwie. Und das ist mit allen von uns so.

Daher kann man auch von einem Leben, das so dramatisch und so plötzlich endet, nicht sagen, dass dieser letzte Sprung oder dieser letzte Tag oder diese letzte Woche das Ende dieses Lebens waren. Das kann irgendwann zur Fülle gekommen sein und schon zum Tod vor Jahren! Das wissen wir nicht, das ist völlig verborgen.

Und dann ‒ das ist auch nur so eine Anregung, einfach mein Denken und mein Fühlen und meine Überzeugung, aber keineswegs irgendwie dogmatisch ‒, können wir uns wieder fragen, wenn wir den Tod ernst nehmen:

(14:04) Wie ist das überhaupt mit der Zeit und dem nach dem Tode?

Was ist nach dem Tode? Und ich würde vorschlagen, dass wenn wir den Tod wirklich ernst nehmen, wie wir ihn ernst nehmen sollten ‒ schon als Christen sollten wir den Tod sehr ernst nehmen, denn Tod und Auferstehung hängen innigst zusammen, und wenn man den Tod nicht ernst nimmt, kann man die Auferstehung nicht ernst nehmen. ‒

Ich würde sagen, wir sollten sehr vorsichtig sein, von irgendetwas nach dem Tod zu sprechen. Denn, wenn wir den Tod wirklich ernst nehmen, so kommt der Tod dann, wenn meine Zeit um ist. Und wenn meine Zeit um ist, dann ist irgendeine andere Zeit für mich uninteressant. Das geht mich weiter nichts mehr an.

Und wenn meine Zeit um ist ‒ wenn sie wirklich um ist, das hängt damit zusammen, den Tod ernst nehmen ‒, dann ist nach dem Tod nichts. Das heißt natürlich nicht, dass ich einfach sage: Mit dem Tod ist alles aus.

Ich glaube, dass viele Menschen heute nur dann ernstlich über das sprechen können, was über den Tod hinausgeht, wenn sie es auch ernst nehmen, dass nach dem Tod ‒ und ich betone das Wort nach, das mit der Zeit zu tun hat ‒, dass nach dem Tod nichts mehr ist, weil nach dem Tod keine Zeit mehr ist.

Was kann dann nach dem Tod sein? Nichts nach dem Tod, für mich gilt nicht ‹nach dem Tod›, aber wir drücken uns halt so ungeschickt aus, weil wir betonen wollen, dass wir ein Leben kennen, das über den Tod hinausgeht. Nicht zeitlich nachher, sondern über den Tod hinausgeht. Und das kann nur ewiges Leben  sein, das kann nur Ewigkeit sein.

Das Einzige, das über Zeit hinausgeht, ist Ewigkeit.

Darum betone ich das so, denn wenn wir da nicht vorsichtig sind, wird plötzlich aus der Ewigkeit eine lange, lange, lange Zeit. Wir müssen da schon ehrlich mit uns selber sein: Wer von uns würde nach dem Tod eine lange, lange, lange Zeit weiterleben wollen? Noch so glücklich irgendwo. Es ist ein untragbarer Gedanke, dass die Zeit ewig weitergeht, ununterbrochen weiter, es ist den meisten Menschen ein völlig unerträglicher Gedanke. Und es ist eine große Erleichterung, wenn man sich sagen kann:

‹Meine Zeit wird einmal um sein.›

Und dann kann man erst überhaupt anfangen, wirklich aufzuatmen und das Leben zu leben, das gar nicht von der Zeit gefangen ist. Denn eine Zeit, die auch nach dem Tod nur so in ein Tunnel hineingeht und auf der andern Seite wieder herauskommt und die Minuten reihen sich weiter an für Millionen Jahre und Milliarden Jahre und dann noch Milliarden Jahre, so wie man sich Ewigkeit vorstellt, wäre ja unerträglich, menschlich gesprochen.

Aber wenn wir sehen: Die Zeit ist aus! Gott sei Dank! Besonders, wenn es uns schlecht geht, kann das ein sehr hilfreicher Gedanke sein, und wenn es uns gut geht auch. Das wird auch vergehen. Dann kosten wir es erst so richtig aus. Und dann stoßen wir vor in den Bereich, in den wir als Menschen eigentlich vorstoßen sollten, und das ist der Bereich der Ewigkeit.

(17:43) Und Ewigkeit ‒ das haben wir immer schon gewusst und hätten es schon immer wissen sollen aus unserem Religionsunterricht ‒, ist nicht eine lange, lange Zeit, sondern die Seinsweise Gottes, oder wie der hl. Augustinus es sagt: Das ‹Nunc stans›:[1] das Jetzt, das nicht vergeht, das Jetzt, das stehen bleibt, das besteht. Und wir kennen dieses Jetzt, wir kennen diese Ewigkeit jetzt schon. Das steht hinter Goethes «Faust»,

‹zum Augenblicke möchte ich sagen:
Verweile doch du bist so schön.›
[2]

Wir brauchen das dem Augenblick gar nicht sagen, denn Augenblick, der wirklich dieser Augenblick ist, der so schön ist, in dem erleben wir schon etwas, was einfach über die Zeit hinausgeht. Und wir wissen das alle, ich appelliere da nur an Euer eigenes Erleben: Wir haben alle Augenblicke erlebt, die vielleicht nur Bruchteile von Sekunden waren und uns vorgekommen sind wie Stunden oder Tage oder Jahre, und wir haben lange Zeitstriche erlebt vielleicht, unter Umständen Stunden sogar, die wie ein Augenblick vorbeigegangen sind. In diesen Momenten stehen wir über der Zeit, hat Zeit keine Bedeutung mehr. In diesen Augenblicken wissen wir auch zugleich, dass der Tod uns überhaupt nichts anhaben kann, wir sind über den Tod erhaben, sind völlig ausgesöhnt mit dem Tod. Wir denken manchmal, hier in einer solchen Situation sollte man sterben, so jetzt wäre ich bereit zu sterben, denken wir in dieser Lage.

Aber wenn wir in diesem Jetzt, das nicht vergeht, in das wir hineinreichen als Menschen, wenn wir in der Zeit stehen, aber wir sind nicht in der Zeit: wir gehen nicht in der Zeit auf. Wenn wir in dieses Jetzt hineinreichen und hineinwachsen, immer mehr uns darin zu Hause fühlen: Immer wieder beten die Kirchengebete ‒ wenn man das römische Missale anschaut ‒, immer wieder erinnern sie daran, dass wir in der Ewigkeit verankert sein sollen, dass wir dort unsere wahren Freuden haben, sie sollen uns nicht vergehen. Das ist dieser Bereich, das ist nicht später ‒ so eine Art geistliches Sparbuch, in das man so Einlagen macht und dann, wenn man stirbt, kriegt man sie wieder heraus. Dass wir jetzt hier und jetzt schon dort verankert sind, wo die ewigen Freuden sind.

Und wenn wir so leben, dann werden wir viel lebendiger. Dann macht der Tod uns lebendig. Und das steht ja auch hinter dem ‹Memento mori›, das man auf den Sonnenuhren sieht, und manchmal steht dort auch: ‹Memento vivere›, ganz das gleiche: An den Tod sollen wir uns nur deswegen erinnern, weil uns das viel lebendiger macht und weil es uns endlich zeigt, weil es uns endlich dazu aufweckt, so zu leben, wie wir wirklich leben wollen, wenn wir nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung haben. Und wir haben eine begrenzte Zeit zur Verfügung.

Dann könnte man noch sehen, wenn wir den Tod so ernst nehmen, dann haben auch unsere Leiden, unsere Freuden, unsere Lebensumstände, die Wahlen die wir treffen, die Entscheidungen, die wir treffen, ganz eine andere Bedeutung, denn sonst stellen wir uns das nur so vor ‒ ein bisschen karikiert ‒, aber wir denken, das Leben ist so eine Art Wartezimmer, wo man so wartet, oder wenigstens so wie zu Weihnachten, wo die Kinder draußen warten müssen bis das Glöckerl leutet und dann die Tür aufgeht und da ist der Christbaum. So stellt man sich das häufig vor: wir warten so da herum und dann, wenn die Tür aufgeht, sehen alle den gleichen Christbaum. Aber um Gottes Willen, warum müssen wir dann so schreckliche Dinge durchmachen: ich so, du was ganz anderes, ein Dritter wieder ganz etwas anderes: Warum müssen wir so verschiedene Leben erleiden, wenn wir dann alle zu dem gleichen Christbaum gehen?

Wir schaffen sozusagen das Fenster, durch das wir die Visio Beatifica haben werden. In Zusammenarbeit mit Gott schaffen wir jetzt den bestimmten Gesichtspunkt, in dem wir Gott sehen werden. Sonst ist es ja nur eine Quälerei dieses ganze Leben. Aber wenn mein Leben so sein muss, weil ich dann erst zu dem Menschen werde, der Gott so verstehen kann auf eine ganz einzigartige Weise, dann hat es Sinn und auch Sinn, dass wir sagen:

‹O Gott, du bist  m e i n  Gott› (Psalm 63,2) ganz persönlich.

(23:00) Vielleicht noch einmal zusammenfassend:

Also wenn wir den Tod wirklich ernst nehmen, wird uns zunächst bewusst, dass wir wirklich den Tod wählen und wir erkennen sogar, wenn wir aufmerksam sind, dass unser ganzes Leben sich eigentlich, schon lange vor dem endgültigen Tod, immer wieder durch ein Sterben in größeres Leben verwandelt. Wir kommen immer wieder zu einem Engpass, wo wir sagen müssen, so geht’s nicht weiter, das bringt mich noch um, sagen wir. Es bringt einen auch um. Wir kommen öfters in Gelegenheiten, die einen wirklich umbringen. Und wenn wir dann sterben: in demselben Augenblick, in dem uns etwas umbringt, sehen wir, dass wir auf der anderen Seite herauskommen, viel lebendiger.

Aber auch: Ich fürchte viele von uns sind manchmal durch Situationen hindurchgegangen, wo uns etwas umgebracht hat, und wir sind nicht gestorben. Und da haben wir noch so in unserer Vergangenheit diese nur toten und nicht wieder lebendig gewordenen, nicht auferstandenen Teile von unserem Leben, und solang wir noch in dieser Zeit sind, haben wir die Gelegenheit, durch Erinnerung diese toten Teile unseres Lebens in die Gegenwart zu bringen und jetzt zu sterben. Damals konnten wir nicht. Jetzt sterbe ich dafür. Das heißt:

‹Ich gebe mich völlig dem hin.›

Und auf einmal wird auch der Teil wieder lebendig. Und das kann manchmal nach zwanzig oder dreißig oder noch mehr Jahren sein. Dass plötzlich etwas, was vorher nur tot war, wieder lebendig werden kann in unserem Leben.

Also wir dürfen es ernst nehmen, dass wir unsern Tod wählen. Und zwar nicht nur einmal, sondern immer wieder willentlich sterben, das heißt willentlich uns dem Leben hingeben, denn das Leben zielt immer wieder durch das Sterben auf größeres Leben hin.

Wir sehen dann, dass unsere Zeit begrenzt ist, und das kann auch wirklich eine Erleichterung sein, und zugleich kann es uns in eine ganz andere Dimension hineinführen, nämlich in die Dimension der Ewigkeit, die jetzt mitten in der Zeit anbricht:

Wenn wir mitten im Leben im Tod sind, dann sind wir auch mitten im Leben in der Ewigkeit.

Und dann: dass die Erinnerung an den Tod uns eben wirklich völlig lebendig macht, und dass wir durch unser Leben das Fenster oder die Linse, den Spiegel schaffen, in dem wir dann Gottes Antlitz sehen.

Denn jetzt leben wir in der Zeit, in der die Zukunft ununterbrochen die Vergangenheit auffrisst. Und was wir Gegenwart nennen, ist kaum ein dünner Saum zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und solange es noch die kleinste Strecke von Zeit ist, kann man es immer noch in die Hälfte teilen, und die Hälfte davon ist nicht, weil sie nicht mehr ist, ist schon vergangen; die andere Hälfte ist nicht, weil sie noch nicht ist, in der Zukunft: diese Zukunft frisst ständig die Vergangenheit auf. Wo ist die Gegenwart?[3]

Die Gegenwart ist das Jetzt, für uns Menschen das Jetzt ‒ man kann sich fragen, ob Tiere überhaupt eine Gegenwart haben: das wissen wir nicht ‒, aber für unser menschliches Bewusstsein ist die Gegenwart das Jetzt, das nicht in der Zeit ist. Es ragt aus der Zeit heraus ‒ in der Zeit ist nur Vergangenheit und Zukunft. Aber wir kennen die Gegenwart: Wir kennen sie als das Jetzt, das ist Ewigkeit, das ist Gottes Leben: Das, was für uns Zeit ist, ist für Gott Ewigkeit:

‹das Jetzt, das nicht vergeht›.

(27:21) Und jedes Jetzt unseres Lebens ist uns gleich nahe. Wenn wir an ein Jetzt denken vor fünfzehn, zwanzig Jahren und an ein Jetzt von Gestern: die sind uns nur in Hinblick auf die Zeit, irgendwie geschichtlich weiter entfernt, aber in unserem Erleben ‒, wenn wir uns an ein Kindheitserlebnis erinnern, ist es ganz frisch da, wie wenn es jetzt wäre ‒, es ist auch jetzt: Alles, was wir wirklich in unserer Erinnerung haben, ist jetzt, und daher kann man sagen, dass in dem Augenblick, wo für mich die Zeit zu Ende ist ‒ so definiere ich den Tod: die Zeit ist um ‒, wenn meine Zeit um ist, in dem Augenblick brauche ich mich um Zeit nicht mehr zu kümmern, und alles, was ich habe, ist Ewigkeit: Jedes Jetzt meines Lebens ist gegenwärtig.

Und da brauche ich dann nicht den Kopf zu zerbrechen: Werde ich dann in der Ewigkeit alt sein oder jung oder mittelalterlich oder wann wars am besten oder was suchen wir da aus und so: Alles auf einmal! Das Jetzt, das ganze Leben jetzt. Und in diesem Leben sehen wir die Gegenwart Gottes. Denn das macht ja unser Jetzt immer wieder aus.

Und in diesem Jetzt haben wir dann alle die andern, die in irgendeiner Weise zu unserem Leben gehört haben. Selbstverständlich nicht nur die andern Menschen! Da kommt diese ganze Frage: Werden wir unsere Hunde im Himmel wieder sehen oder unsere Katzen usw.? Wenn man das so anpackt, wie das bisher angepackt wurde: Ja, haben die eine unsterbliche Seele, haben die keine unsterbliche Seele? ‒ Das ist mein Hund und  i c h  habe eine unsterbliche Seele: Wenn ich in den Himmel komme und der Hund nicht dort ist, dann gehe ich wieder! Der Hund ist dort ‒ selbstverständlich ‒, er ist ja ein Teil meines Lebens.

Und alle andern Menschen, denen ich je begegnet bin, und so Menschen, die man nur einmal, so episodenhaft gesehen hat … und da kann man sich dann ausdenken: Was wäre gewesen, wenn wir uns besser kennengelernt hätten? Das ist jetzt alles möglich, und nachdem alles mit allem zusammenhängt ‒ das wissen wir auch in diesem Leben schon ‒, reicht unsere Ewigkeit in jeder Richtung auf das Ganze. In diesem Ganzen sind wir ein kleiner Punkt, der sozusagen das Ganze beinhaltet, und jeder kleine Punkt beinhaltet das Ganze und in dieser unglaublichen Facette spiegelt sich die Gegenwart Gottes.

Und so hängen wir dann auch wieder mit Theresia zusammen und jeder von uns auf ganz verschiedene Weise dadurch, dass wir sie auf ganz verschiedene Weise gekannt haben, aber sie gehört zu unserem Leben. Und zu unserer Ewigkeit.

Also jedenfalls, das sind so ein paar Punkte …, aber wenn ihr etwas von ihr erzählen wollt, vielleicht auch Begegnungen oder so oder irgendwelche Fragen, die durch meine Vorschläge angeregt wurden, wäre es eure Gelegenheit, das weiterzuspinnen.

[Transkription des Vortrags Wähle das Leben (5 Mose 30,19) (1992)]

[Ergänzend:

1. «Der Mensch stirbt nicht am Tod, sondern an ausgereifter Liebe» (Otto Mauer):

Filminterview Was am Ende wirklich zählt (2022); siehe auch Transkription, 8 und Reifen: Ergänzend 2.:

«Wenn ich Liebe sage, meine ich das gelebte Ja zur Zugehörigkeit und wenn man genau hinschaut, sieht man, dass sich das eigentlich ‒ so wie eine Definition ‒ auf alle Formen der Liebe anwenden lässt.

Es ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit. Wenn wir das üben ‒ das ist natürlich das Entscheidende am ganzen Leben ‒, die Liebe ist das Entscheidende.

Ein großer Denker ‒ Otto Mauer ‒, ein Wiener Priester, Mitte des 20. Jh., hat das wunderschön ausgedrückt:

‹Der Mensch stirbt nicht am Tod, sondern an ausgereifter Liebe›.

Also das ist die Aufgabe des ganzen Lebens: die Liebe ausreifen zu lassen.»

Audio Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 4 ‒ Nachmittag:
‹Memento mori› ‒ ‹Memento vivere›:
(16:02) ‹Der Mensch stirbt nicht am Tod, sondern an ausgereifter Liebe›, wie Otto Mauer Thornton Wilders Roman ‹Die Brücke von San Luis Rey› zusammenfasst
(45:48) Gespräch: Was, wenn die Liebe nicht ausgereift ist? Reinkarnation und Fegefeuer

Audio Fragen, die uns bewegen (2005), abgedruckt im kleinen Buch Und ich mag mich nicht bewahren (2012): Vom Älterwerden und Reifen, 25f.:

«Und dann kommen wir gegen Abend, in der Lebensreife, im Herbst jeden Jahres immer wieder zu der Frage: ‹Woran reifen wir?› Es gibt nichts Traurigeres als ein unausgereiftes menschliches Leben. Und darum nichts Traurigeres als den Tod eines jungen Menschen. Ich muss an den Tod dieser unzähligen jungen Menschen denken, die jetzt im Krieg sterben. Da kann ich mich nur darüber hinwegtrösten, indem ich an ein Buch von Thornton Wilder denke, das vielleicht viele von Ihnen kennen, ‹The Bridge of San Luis Rey›.

Es erzählt von einem Franziskaner, einem Missionar, der im 18.Jahrhundert in Peru zu einer Seilbrücke kommt, die schon Hunderte von Jahren gehalten hat. Doch gerade in dem Augenblick, wo er auf die Brücke gehen will, bricht sie zusammen und reißt fünf Menschen in den Abgrund. Und er stellt sich jetzt die Frage: ‹Warum gerade diese fünf?› Der Missionar geht dem Lebenslauf dieser fünf Menschen nach und kommt am Ende des Buches zu dem Schluss:

‹Man stirbt nicht am Tod, man stirbt an der ausgereiften Liebe.›

Und die Liebe kann schon sehr früh ausreifen. Die Kirschen reifen schon im Juni, die Trauben erst im Oktober. Wir wissen es nicht. Von außen kann man es nicht sehen. Wenn junge Menschen sterben, dürfen wir hoffen, dass ihre Liebe ausgereift war. Ja, wir können dessen eigentlich sicher sein.»

2. Den Tod ernst nehmen und umdenken:

Retreat-Woche in Assisi (1989)
Schöpfungsmythos und Anfangsritual am Beispiel der hl. Taufe:

(27:21) «Wir sind mit Ewigkeit als Menschen ebenso vertraut wie mit Zeit. Denn wir wissen, was ‹Sein› heißt und was ‹Ist› heißt, in dem Rilke Gedicht:

«Du sagtest  l e b e n  laut und  s t e r b e n  leise
und wiederholtest immer wieder:  S e i n!»
[4]

Wir wissen, was ‹Sein› heißt. Aber ‹Sein› findet man nicht in der Zeit. In der Zeit ist immer nur ‹war› und ‹wird sein›. Und was war, ist nicht, denn es ist nicht mehr, und was sein wird, ist nicht, denn es ist noch nicht. Und was ist, muss im Jetzt sein: Jetzt, hier, aber dieses Jetzt lässt sich immer noch in die Hälfte teilen, und die Hälfte von Jetzt ist nicht, weil sie nicht mehr ist, und die andere Hälfte ist nicht, weil sie noch nicht ist. ‒ Solange es noch eine Strecke von Zeit ist, lässt es sich teilen: Das Jetzt ist nicht in der Zeit. In der Zeit frisst die Vergangenheit nahtlos die Zukunft auf, und wir wissen, was Jetzt ist, weil wir aus der Zeit herausragen. Wir ‹ex-istieren›, das heißt, wir ragen heraus aus der Zeit in das Jetzt, das  i s t.[5]

Und Augustinus definiert die Ewigkeit ‒ soweit man das Definition nennen kann ‒, in wunderbarem Latein, zwei Wörter nur: ‹Nunc stans›: das Jetzt, das steht, das Jetzt, das nicht vergeht.[6] Das ist die Ewigkeit: Das Jetzt, das  i s t  ohne zu vergehen. Das ist Gottes Ewigkeit.

(29:30) Wir ragen also als Menschen aus der Zeit in Gottes Ewigkeit hinein. Wir kennen beides. Und darum leben wir schon jetzt ewiges Leben. Besonders in den Augenblicken, in denen wir völlig lebendig sind, ragen wir in diese zeitlose Ewigkeit hinein. Und wenn wir wirklich gegenwärtig sind, wenn wir nicht so halb schon uns selbst voraus sind und halb hinten nachhängen, weil wir uns an etwas klammern, was nicht mehr besteht und halb uns hinausstrecken: Wenn wir wirklich gegenwärtig sind, dann ragen wir in dieses Jetzt hinein, das Bestand hat und nicht vergehen kann.

Und das ist jetzt einfach meine Vorstellung ‒ Vorstellung ist vielleicht auch schon zu viel gesagt ‒, aber meine Annäherung an was ewiges Leben und Auferstehung von den Toten bedeuten kann, wenn es nicht ein Herauskriechen aus dem Grab ist, und dann geht alles wieder so weiter wie vorher. Das kann man heute nicht mehr so denken. … Wir müssen das irgendwie umdenken. Und ein Weg das umzudenken ist folgender:

(30:56) Ich weiß, was  i s t  heißt, ich weiß, was  s e i n  heißt, finde es aber eigentlich nicht in der Zeit. In der Zeit findet man nur immer ‹wird sein› und ‹war›. Aber ich kenne es doch, weil ich aus der Zeit herausrage. Und wirklich mich im Sein zu verwurzeln wird mir dadurch verhindert, dass ich in der Zeit stehe. Ich kenne das Sein, ich kenne das Ist, ich kenne das Unvergängliche, aber ich bin auch in die Zeit eingetaucht wie in einen Strom, es fließt immer, ich habe keine feste Stelle in der Zeit.

Aber ich weiß, dass früher oder später meine Zeit um sein wird. In diesem Sinn ist es notwendig, dass wir das Sterben, den Tod wirklich ernst nehmen:

Wenn ich sterben muss, ist meine Zeit um. Daher hat es keinen Sinn, von dem zu sprechen, was ‹nach› dem Tod kommt. Wenn es wirklich Tod heißt, kommt nichts nachher. Denn wenn der Tod das Ende der Zeit ist, dann kann nachher nichts mehr kommen.

Es braucht aber gar nichts nachher zu kommen. Denn, was  i s t, ist immer schon da. Und das kann eine ungeheure Befreiung sein! Ich weiß nicht, ob ihr es nachvollziehen könnt, für mich ist es eine ungeheure Befreiung.

Denn wenn ich mir vorstellen müsste, dass die Zeit immer weiter geht, immer, immer weiter, immer weiter, immer weiter, das wäre Hölle, das Entsetzlichste, was man sich vorstellen kann.

Wir sind jetzt glücklich, wenn wir  s i n d, nicht, wenn wir immer gehetzt werden zwischen ‹wird sein› und ‹war›. In unsern glücklichsten, besten Augenblicken, wo wir wirklich lebendig sind, da  s i n d  wir.

(32:57) Und jetzt stelle ich mir das so vor, dass in dem Augenblick, in dem ich endlich weiß: Jetzt ist meine Zeit um, alles, was übrig bleibt, ist mein ganzes Leben, alles von meinem Leben, das  i s t. Das ist jetzt alles gegenwärtig. Denn wir wissen ja schon jetzt, dass ‒ wenn wir uns an etwas erinnern, was 20 Jahre zurückliegt, 30, 40, 50 Jahre zurückliegt ‒, solang wir uns erinnern können ‒ wenn es ein wirklich lebendiger Augenblick war, in dem wir voll gegenwärtig waren ‒, so ist uns das heute genauso nah, wie es morgen sein wird und gestern war: Wir haben diesen Zugang zu dem, was  i s t.

Das Einzige, was uns daran hindert, in dem Bereich wirklich zu leben, ganz da zu sein, ist, dass jetzt schon wieder ein nächster Augenblick kommt und ein nächster Augenblick. Wenn jetzt diese Augenblicke aufhören ‒ die Zeit ist vorbei für mich ‒, dann bin ich da, mit einem Seufzer der Erleichterung  b i n  ich.

(34:02) Wenn wir es uns so vorstellen können ‒ ich möchte es niemandem aufdrängen ‒, aber wenn wir das so sehen, dann schließt das andere Einsichten ein: Zum Beispiel so viele, viele Fragen, die die Kinder haben ‒ die Kinder haben immer die besten Fragen über Tod und Leben, weil sie sich noch trauen und diese existentiellen Fragen haben, so Fragen wie: Werden wir dann alle wieder beisammen sein? Das ist überhaupt keine Frage.

Natürlich werden wir alle wieder beisammen sein, das ist ja mein Leben. Mein Leben ist das Zusammensein, ich werde alle die Menschen sehen.

Frage: Werden die Tiere auferstehen? Dann kommt man mit der Seele der Tiere, die haben keine unsterbliche Seele. Das hat ja damit überhaupt nichts zu tun. Wenn das mein Tier war und ich lebe, dann lebt dieses Tier. Selbstverständlich ist der Himmel voll mit Haustieren und allen übrigen Tieren, die wir kennen. Die gehören ja zu unserem Leben. Wir brauchen ja gar nicht zu fragen, ob diese Katze das dann weiß, dass sie lebt. Das muss man Gott überlassen und der Katze. Für mich wäre das ja gar kein Himmel ohne die Katze und die Kinder wissen das vollkommen. Aber man muss vorstellungsmäßig dem gerecht werden.»

(35:53) «Wenn wir umdenken, dann ‹haben› wir plötzlich die Visio beatifica, die Schau Gottes, d u r c h  unser Leben.

Und man kann sich wieder fragen: Warum hat jeder so ein verschiedenes Leben, um alle dann den gleichen Himmel zu haben?

Wir haben ‒ jeder ‒ ein verschiedenes Leben, um den gleichen Himmel durch so viele verschiedene Weisen zu sehen. Wir sehen den Himmel durch das Fenster, das unser Leben ist. Wir sehen die Ewigkeit ‒ Gottes Gegenwart, die wir auch schon hier beginnen sollen zu erleben ‒, sehen wir dann dort, wenn die Zeit uns nicht mehr ablenkt, völlig gegenwärtig.»]

________________

[1] Der Ausdruck nunc stans findet sich erstmals bei Thomas von Aquin (1225-1274). Er hat eine lange Vorgeschichte, beginnend mit Platon (428-348 v. Chr.) und weiterführenden Beiträgen von Plotin (205-270), Augustinus (354-430), Boethius (ca. 480-524) und späteren Denkern zum Thema ‹Zeit und Ewigkeit›; siehe auch Jetzt und ewiges Leben, Anm. 8, und Fragen des Lebens, Anm. 2

[2] Faust zu Mephistoteles in Goethes ‹Faust. Der Tragödie erster Teil›:

‹Und Schlag auf Schlag!
Werd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!
Dann mag die Totenglocke schallen,
Dann bist du deines Dienstes frei,
Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen,
Es sei die Zeit für mich vorbei!›

[3] Siehe auch Jetzt im Doppelbereich: Ergänzend: 2.3. und Jetzt und ewiges Leben: 3.3.

[4] Bruder David spricht das Gedicht von Rilke aus dem Stundenbuch ‹Ich lese es heraus aus deinem Wort› im Audio
Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 4 ‒ Nachmittag:
‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere›:
(04:33) ‹Der Tod ist groß›: Sterben in jedem Augenblick ‒ der Tod, die Frucht des Lebens ‒ den eigenen Tod sterben: Bruder David liest Gedichte und Verse aus dem Stundenbuch von R. M. Rilke

[5] Siehe auch Anm. 3

[6] Siehe auch Anm. 1


Quellenangaben

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