Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

jesus d christus titelCopyright © - Arijana Somolanji Kurbanović

[Audio Tag 4 ‒ Nachmittag (21:24)] «Wie können wir leben und sterben lernen? Und da hat Rilke einen Begriff eingeführt, einen bildlichen Begriff: den Doppelbereich.

Das ist für ihn etwas ganz Wichtiges, dieses Wort der Doppelbereich. Das heißt: Zwei Bereiche sind eins, nicht ein Doppelbereich in dem Sinn, dass die nebeneinanderstehen, sondern sie sind eins, und doch zwei.

In einem der Sonette an Orpheus (1. Teil, IX) erwähnt Rilke den Ausdruck ‹Doppelbereich› im Zusammenhang mit ‹rühmen›:

‹Nur wer die Leier schon hob
auch unter Schatten,
darf das unendliche Lob
ahnend erstatten.›

Was ist unsere Lebensaufgabe? Die große Aufgabe des Menschen ist für Rilke mit einem Wort: Rühmen. Und mit dem Zitat von Augustinus wird klarer, was damit gemeint ist:

‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus).

Jedes Detail ist nur ein kleiner Teil. Rilke spricht in einem seiner Sonette (2. Teil, XXI) von einem gewobenen Teppich:

‹Seidener Faden, kamst du hinein ins Gewebe.
Welchem der Bilder du auch im Innern geeint bist
(sei es selbst ein Moment aus dem Leben der Pein),
fühl, dass der ganze, der rühmliche Teppich gemeint ist.›

Nur wer rühmen kann ‹auch unter Schatten›, kann das unendliche ‒ nicht das endliche ‒ Lob ahnend erstatten. Und dann kommen Bilder, die einfach heißen: Nur wer den Tod integriert, ‹wird nicht den leisesten Ton wieder verlieren›:

‹Nur wer die Leier schon hob
auch unter Schatten,

darf das unendliche Lob
ahnend erstatten.

Nur wer mit Toten vom Mohn
aß, von dem ihren,
wird nicht den leisesten Ton
wieder verlieren.

Mag auch die Spieglung im Teich
oft uns verschwimmen:
W i s s e  d a s  B i l d
.

Erst in dem Doppelbereich
werden die Stimmen
ewig und mild.›

Mild im Sinn von ‹compassion›‹mifühlen›: Also Weisheit und Mitgefühl bekommen erst Raum, wenn man im Doppelbereich lebt.

Und dieser Doppelbereich ist offensichtlich für Rilke das Leben und das Sterben. Die gehören ebenso zusammen, dass es eins ist. Wer wirklich lebt, lebt voll im jetzigen Augenblick und ist schon gestorben für die Vergangenheit.

Und dieses Einüben Schritt für Schritt: im Augenblick, im Jetzt leben, und so lernen loszulassen, das ist Sterben lernen.

T. S. Eliot sagt in den Four Quartets:

‹Die Zeit des Sterbens ist jeder Augenblick.›‹And the time of death ist every moment.›[1]

Dieser Doppelbereich ist nicht einfach Einheit, aber auch nicht Zweiheit[2] ‒ das ist immer die Gefahr, wenn man sagt ‹Doppelbereich›, es sind zwei Seiten einer Münze ‒ viel mehr noch wie zwei Seiten ‒, ganz eng verbunden. Aber man kann sie doch unterscheiden ‒ sie sind untrennbar ‒, aber unterscheidbar.

(26:32) Ich-Selbst ist ebenso ein Doppelbereich, solange wir leben. Und ganz eng verbunden mit dem Doppelaspekt von Leben und Sterben, denn das Selbst lebt, das kann nicht sterben. Es ist nicht in der Zeit.

Und das Sterben kann definiert werden: ‹Wenn meine Zeit um ist›. Das ist eine ganz gute Definition: Ich sterbe, wenn meine Zeit um ist. Meine Zeit beginnt zu einem gewissen Punkt und ist dann zu einem gewissen Punkt um.

Und Zeit und Raum hängen so eng zusammen, dass mein Leib stirbt, wenn meine Zeit um ist, aber was davon gar nicht berührt wird, ist mein Selbst.

Wir vergessen halt das Selbst immer, aber je mehr wir lernen im Ich-Selbst zu leben ‒ und das heißt im Augenblick zu leben: wir brauchen uns gar nicht um das Selbst zu kümmern, wir brauchen gar nicht an das Selbst zu denken, dann leben wir schon im Selbst.

Und je mehr wir lernen, das zu tun, umso mehr wird dann der letzte Augenblick der Augenblick sein, in dem das Ich stirbt, aber das Selbst bleibt: ewig, über der Zeit erhaben.

Es kommt für Rilke noch etwas sehr Wichtiges: Warum denn nicht gleich das Selbst? Warum dieser ganze Umweg über das Ich?

Und da hat er in einem Brief dieses wunderschöne Bild geprägt:

‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren.›

Das Sichtbare ist alles, was mit dem Ich zu tun hat in Raum und Zeit, das Unsichtbare ist das Selbst. Und wir sind die Bienen des Unsichtbaren, die Honigbienen und eifrig ‒ ‹éperdument› ‒, er schreibt das in Französisch[3]: ganz hingegeben sammeln wir den Nektar des Sichtbaren ‒ also alles, was wir mit den Sinnen erfassen ‒, in die große goldene Honigwabe des Unsichtbaren.

Das ist unsere Lebensaufgabe. Und das heißt, dass nichts verlorengeht.

Es kann nicht verloren gehen, denn ‹Alles ist immer jetzt› (T. S. Eliot).[4]

Und wenn wir im Jetzt leben, ist es und ist und ist: Es hat Anteil an der Zeit ‒ wir erleben es in der Zeit ‒, aber alles, was ist, ist zugleich in diesem Doppelbereich, zugleich in der Zeit und über die Zeit hinaus, weil ‹Alles ist immer jetzt› ist, alles! Und das ist nicht nur der Mensch, der immer ist[5]

«Doppelbereich nennt Rilke die Einheit von Diesseits und Jenseits und sagt:

‹Engel (sagt man) wüssten oft nicht, ob sie unter Lebenden gehen oder Toten.›[6]

Nur wenn ich mich bewusst in diesem Doppelbereich von Vergänglichem und Bleibendem bewege, kann ich in allem Vergänglichen das Bleibende miterfahren und in allem Bleibenden Dich, Du Ursprung bleibenden Seins.

Erweitere Du die Reichweite meiner Sinne; öffne sie für das Übersinnliche im Sinnlichen. Lass mich ‹die Spiegelung im Teich› als ein Ganzes sehen und dieses Bild niemals vergessen. Lass mich jetzt schon das vertrauliche Nahsein der uns Vorangegangenen erfahren. Und wenn meine Zeit kommt, heimzugehen, dann schenk mir einen sanften Übergang. Amen.»[7]

[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 5 und 7]

[Ergänzend:

1. ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› und unsere Aufgabe: Rühmen, Er-innern, Aufheben

2. Den einen Pol im andern sehen:

Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich ‒ 9. Dialog›, 190f.; siehe auch Kreuz ‒ Sinnbild

Johannes Kaup: «Das Geistige und das Emotionale, das Leibliche und Seelische, das Profane und das Heilige, das Zeitliche und das Ewige: Wie hängen diese Doppelbereiche zusammen bzw. wie existieren Sie in diesen Doppelbereichen so, dass Sie nicht an einer Gespaltenheit leiden?»

Bruder David: «Diese Gegensätze begegnen uns überall, und die wichtige Einsicht ist, dass wir sie zwar unterscheiden können, aber nicht trennen dürfen. Sie bleiben Gegensätze, gehören aber innig zueinander und bedingen einander. Sie polarisieren nicht das Leben, sondern sind Pole einer unteilbaren Einheit.

Clemens Brentano weist an einer wichtigen Stelle seiner Dichtung auf Pole jeder vollen Lebendigkeit hin:

‹O Stern und Blume, Geist und Kleid, Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit.›

Rilke hat dafür den schönen Begriff Doppelbereich geprägt.

Wir können Polarisierung dadurch vermeiden, dass wir den einen Pol anschauen und in diesem Pol schon den anderen sehen. Ich schaue z. B. auf die Zeit und erfahre in der Zeit die Ewigkeit, eben das Jetzt, das über die Zeit hinausgeht. Oder ich schaue auf das Leid und sehe darin das irdische Antlitz der Liebe. Ich schaue auf den Stern und sehe darin die Blume oder ich schau die Blume und sehe darin den Stern. Der ganze Kosmos ist ein Doppelbereich.»]

 ________________

[1] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, III

[2] A-DWAITA, in: Das ABC der Schlüsselworte, 128: ‹A-Dwaita ist ein zentral wichtiges Wort im Hinduismus und bedeutet wörtlich Nicht-Zweiheit›; siehe auch Jetzt im Doppelbereich: Ergänzend: 3.1.

[3] Rilke im Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz: ‹Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l’accumuler dans la grande ruche d’dor de l’Invisible.›

[4] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V; siehe auch Stillehalten

[5] Sinngemäße Wiedergabe des Vortrags von Bruder David in Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016): Tag 4 ‒ Nachmittag: ‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere› (21:24-31:31)

[6] Rilke, aus der Ersten Duineser Elegie

[7] Erwachende Worte (2023): ‹Doppelbereich›, 35



Quellenangaben

logo bibliothek

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.