Film, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

jesus d christus titelCopyright © - Barbara Krähmer

(Film 13:35) «Die Lage von der Treppe stimmt vollkommen … Und da hab ich geträumt ‒ da war ich noch ziemlich klein, ich muss sechs oder so gewesen sein ‒, hab ich geträumt, dass ich die Treppe heruntergekommen bin und Jesus, wie ich ihn halt von Bildern gekannt habe, Jesus ist heraufgekommen über die Treppe und wir sind so verschmolzen, wir sind nicht aneinander vorbeigegangen, sondern ineinander hineingegangen, sozusagen.

Dieses Erlebnis hat mich begleitet, mein Christusverständnis auch geformt. Geschichtlich sind sowohl Gautama wie Jesus geschichtliche Personen, die man auch geschichtlich fassen und behandeln kann. Buddha ist Gautama als der Erleuchtete und Christus ist Jesus als der Auferstandene: die beiden kann man auch wieder auf dieser Ebene vergleichen von Ich und Selbst und dieses Selbst ist, was wir Christen die Christuswirklichkeit in uns nennen und was die Buddhisten die Buddha-Natur nennen. Das ist dieses große Selbst, das ist ein und dieselbe Wirklichkeit.»[1]

Ganz früh schon sagten Christen: «Hast du deine Schwester, deinen Bruder gesehen, dann hast du Gott gesehen.»[2]

Die Menschen, auf die das Credo letztlich zurückgeht, waren überrascht, wie leicht es war Gott zu sehen, wenn man Jesus in die Augen schaute, Gott zu hören, wenn Jesus sprach. Begeistert legten sie in Wort und Tat Zeugnis dafür ab, und bis heute begegnen Christen Gott in und durch Jesus Christus. Dabei darf sich jedoch keine Ausschließlichkeit einschleichen. Wir können Gott jederzeit, irgendwo und in irgendeiner Form begegnen; das wird hier vorausgesetzt.

Für uns Christen ist Jesus Christus der zentrale Begegnungspunkt mit der göttlichen Wirklichkeit; das gibt unserem Gottesglauben eben seine spezifisch christliche Färbung und macht uns zu Christen. Dabei ist es von großer Bedeutung, dass wir nicht nur von Jesus sprechen, oder von Christus, sondern von Jesus Christus.

Die Benennung Jesus Christus hält zwei Pole in schöpferischer Spannung miteinander verbunden: Jesus, eine geschichtliche Persönlichkeit, und Christus, die gottmenschliche Wirklichkeit (in jedem Menschen, also auch in uns selbst, die in Jesus einzigartig aufleuchtet).

Wir dürfen diese Spannung nicht aufheben. Wenn ich den einen Pol ‒ Jesus ‒ auf Kosten des Christus-in-mir betone, so verliert Jesus seine einzigartige Bedeutung für mich persönlich; er kann mir zwar ein bewundernswerter Lehrer sein, aber ich erkenne in ihm nicht die geschichtliche Verwirklichung meiner eigenen gottmenschlichen Möglichkeit.

Wenn ich aber den anderen Pol so ausschließlich betone, dass ich den Christus-in-mir nicht in Jesus von Nazareth verwirklicht sehe, dann ist meine innere Christuswirklichkeit ihres objektiven geschichtlichen Bezugspunktes und Maßstabes beraubt und ich kann sie allzu leicht subjektiv verzerren.

Beide Pole verlangen unsere beständige Aufmerksamkeit. Ich muss mich bemühen immer klarer zu sehen, worauf ich mich einlasse, wenn ich Jesus nachfolge. Zugleich muss ich immer bewusster aus meiner innersten Mitte leben und so Christus in mir verwirklichen. Dieser doppelten Aufgabe muss ich mich stellen, um dem gerecht zu werden, was die Worte «Ich glaube an Jesus Christus» im Credo für den Gottesglauben bedeuten.

Was wir von Jesus wissen, das haben wir von anderen erfahren; was Christus heißt, das kennen wir aus eigener Erfahrung, auch wenn wir nie von Jesus hören. Von dieser inneren Christuswirklichkeit soll hier zuerst die Rede sein.

«Verliebte sind blind», heißt es; sie sind aber zugleich auch besonders hellsichtig. Wenn wir jemanden aus ganzem Herzen lieben, dann kann es vorkommen, dass wir plötzlich erfahren, wie uns in einem anderen Menschen Gott begegnet.

Das ist weit entfernt von vernarrter Vergötterung. Worum es geht, ist vielmehr ein gegenseitiges Anschauen Liebender: so innig und so tief, dass der Blick bis zum göttlichen Wesensgrund des Anderen durchdringt.

Eine solche Erfahrung kann zur Einsicht führen, dass, was wir Gott nennen, nicht nur alle unsere Horizonte überschreitet, sondern uns zugleich «zuinnerst näher ist als wir uns selber sind» («Intimior intimis meis», sagt Augustinus).[3]

Im Bild der Bibel heißt das, dass wir «als Gottes Ebenbild» geschaffen sind. Unsere Gottesähnlichkeit wird umso strahlender leuchten, je mehr wir unser ureigenstes Selbst ‒ Christus-in-uns ‒ verwirklichen. In diesem Sinne muss man nicht Christ sein, um Christus zu kennen. Einfach als Menschen sind wir mit Christus in dem Ausmaß vertraut, in dem wir uns selber kennen, sind ihm in dem Ausmaß verbunden, in dem wir unserer innersten Wirklichkeit getreu leben. Indem du dich selber kennst, kennst du Christus; indem du dich selber verwirklichst, wirkt Christus in dir; indem du dein wahres Selbst findest, findest du Christus.

Je mehr wir unser wahres Selbst kennenlernen, umso klarer erkennen wir Christus in uns. Was Jesus für uns bedeutet und welchen Zusammenhang wir zwischen Jesus und Christus finden können, das ist eine andere Frage. Die Antwort wird von äußeren Umständen abhängen, von unserer kulturellen Einbettung, unserer religiösen Erziehung (oder deren Mangel), sogar von unserer Geschichtskenntnis. Ein christliches Kind mag aufwachsen, ohne je klar zwischen Gott und Jesus zu unterscheiden; ein jüdisches Kind mag entdecken, dass Jesus auch nur zu erwähnen, tabu ist. Wenn wir Glück haben, begegnen wir überzeugten Christen, die ihren Glauben leben und Liebe ausstrahlen. Es kann uns aber auch zustoßen, dass wir es mit widerwärtigen Menschen zu tun haben, die als öffentliche Vertreter Jesu gelten. Es macht wohl auch einen Unterschied aus, ob meine Kultur im Namen Jesu von Missionaren (trotz bester Absicht) zerstört wurde, oder ob höchste Gipfel meiner Kultur ‒ etwa der «Christus» Rembrandts, das Rote Kreuz, oder Beethovens «Missa Solemnis» ‒ vom Namen Jesu untrennbar sind. Vielen Menschen wird Unvoreingenommenheit gegenüber Jesus ehrliche Bemühung kosten ‒ ob es sich dabei um negative Vorurteile handelt oder um positive. Jedenfalls verdient eine Persönlichkeit, die in der Geschichte soviel Widerspruch erregt hat, unsere Aufmerksamkeit und ehrliche Auseinandersetzung: Es geht letztlich um die Entscheidung zwischen der Liebe zur Macht und der Macht der Liebe.

Dreierlei muss zusammenkommen, bevor wir sagen können, dass wir an Gott und an Jesus Christus glauben:

  • Wir müssen unser wahres Selbst, die Christuswirklichkeit in uns, wenigstens keimhaft erfühlen.
  • Wir müssen die geschichtliche Gestalt Jesu und die gewaltfreie Revolution, für die er sein Leben gab, genügend kennenlernen.
  • Und wir müssen diese beiden verbinden, indem wir uns mit Überzeugung hinter sein Programm sozialer Veränderung ‒ «das Reich Gottes» ‒ stellen und so zugleich unser göttliches Selbst (Christus-in-uns) verwirklichen.

Manche, die sich Christen nennen, erfüllen leider diese drei Bedingungen nicht. Wenn wir sie erfüllen, dann sehen wir in Jesus Christus unsere eigene gottmenschliche Selbstverwirklichung vorgebildet.

Der Glaube an Jesus (als) Christus schließt ein, dass wir in Jesus unser eigenes gott-menschliches Selbst erkennen, das Selbst, das als Gottes «Ebenbild» geschaffen ist und Gottes eigenen Lebensatem atmet.[4]

Diese Bilder verwendet die Bibel, wo die Rede ist von der Erschaffung Adams, dem Urbild jedes Menschen. Wer an Jesus Christus glaubt, setzt sein gläubiges Vertrauen darauf, dass Gottes liebende Gegenwart in uns Wirklichkeit werden will, und durch uns in der Welt. Sich dazu zu bekennen ist schon der erste Schritt zu der neuen Weltordnung, die Jesus das Reich Gottes nannte.

Das hilft uns verstehen, warum der Glaube an Jesus Christus keine Kluft aufreißt zwischen Christen und Andersgläubigen; obwohl das in der Vergangenheit oft missverstanden wurde. Im Gegenteil, die wichtige Einsicht, die das Credo hier ausspricht, ist:

Das Göttliche kann sich inmitten des Menschlichen verwirklichen ‒ also auch in mir selbst.

Das gilt nicht nur für Christen, sondern für uns alle. Gott will sich im Menschlichen offenbar machen, wenn wir nur unsere Herzen dafür öffnen. Nur gemeinsam können wir dieser Anforderung gerecht werden. Mensch sein ist nicht Privatsache. Unsere Zeit stellt uns vor die Aufgabe, ein für alle Menschen gültiges Weltethos klar zu formulieren. Unser Überleben hängt davon ab. Die ganze Menschheit und jeder Einzelne von uns ist da herausgefordert. Es gibt keine höhere Aufgabe für uns Menschen als Menschlichkeit.

Das wichtige und in unserem Satz «Ich glaube an Gott … u n d  an Jesus Christus» bedeutet, dass ich nicht nur an den Gott jenseits aller Horizonte glaube, sondern auch an Gott in mir, Gott immanent in der Welt ‒ und auf ausgezeichnete Weise in Jesus Christus. Das gibt unserem Glauben an Gott einen handgreiflichen Bezugspunkt ‒ den geschichtlichen Jesus ‒, und es gibt uns eine klare Aufgabe: durch gewaltfreie Revolution für eine neue Weltordnung einzutreten, für das Reich Gottes. Beides ist wichtig.[5]

(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1 und 5)

[Ergänzend:

1. Christuserlebnis von Bruder David in seiner Kindheit:

Schon jetzt berühre ich eine bleibende Wirklichkeit (2021): Interview von Stefan Seidel mit Bruder David:

«‹Wenn unser Ich in Raum und Zeit vergeht, bleibt noch unsere Beziehung zum Ur-Du. Die war und ist das grundlegend Erste, aus dem alles entspringt, und wird das Letzte sein, was übrig bleibt.› Dies ist der tiefste mystische Gedanke, den Steindl-Rast mitteilt und der vermutlich auf eine frühe Kindheitserfahrung zurückgeht, die ihn zeitlebens prägte und führte: ‹In diese Zeit, also etwa in mein viertes oder fünftes Lebensjahr, fällt auch ein Traumbild, das mir ‒ ohne dass ich es damals ahnte ‒ grundlegend werden sollte für mein Lebensgefühl: Ich gehe die steinerne Wendeltreppe vom ‹alten Stock› hinunter. Auf halber Höhe begegnet mir Jesus Christus, der von unten heraufkommt. Er sieht so aus wie auf dem Bild, das über dem Bett meiner Großmutter hängt. Wir bewegen uns aufeinander zu, aber anstatt aneinander vorbeizugehen, verschmelzen wir miteinander.»

Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹1. Mensch werden: Meine Herzmitte finden und den Zugang dazu, 1926-1936›, 9f. und 199: Anm. 6:

«… Eine steinerne Wendeltreppe führt in den ersten Stock hinauf; ich nenne ihn den ‹alten Stock›, weil meine Großmutter und meine Urgroßmutter dort oben wohnen. Im ‹alten Stock› bin ich am liebsten. Dort baut meine Großmutter oft ein Zelt aus einem bunten Tischtuch, das sie über zwei Sessellehnen breitete; da fühle ich mich geborgen und lasse mich von meiner Omi bewirten. Wir staunen gemeinsam über das Tanzen der Sonnenstäubchen, wenn Lichtstrahlen zwischen den schweren Vorhängen ins Zimmer strömen. Wir beten auch gemeinsam. Von meiner Großmutter lerne ich das Vaterunser, das Angelus-Gebet und bald den ganzen Rosenkranz.

Weit auseinanderliegende Wirklichkeitsbereiche fließen in meinem Erleben zu dieser Zeit noch ganz ineinander. Es ist kurz vor Weihnachten. Alles strahlt schon vor Vorfreude. Da glitzert etwas auf dem Teppich im Schlafzimmer meiner Eltern. Ich nehme das winzige Goldfädchen zwischen Daumen und Zeigefinger. Was kann das nur sein? ‹Vielleicht ist das Christkind schon vorübergekommen und hat ein Haar aus seinen Locken verloren?› schlägt meine Mutter vor. Das genügt, um mich in Verzückung zu versetzen. Auch rückblickend muss ich sagen: Das war für mich eine echte, freilich kindliche Begegnung mit dem unergründlichen Geheimnis, mit dem wir uns als Menschen auseinandersetzen müssen.

In diese Zeit, also etwa in mein viertes oder fünftes Lebensjahr, fällt auch ein Traumbild, das mir ‒ ohne dass ich es damals ahnte ‒ grundlegend werden sollte für mein Lebensgefühl: Ich gehe die steinerne Wendeltreppe vom ‹alten Stock› hinunter. Auf halber Höhe begegnet mir Jesus Christus, der von unten heraufkommt. Er sieht so aus wie auf dem Bild, das über dem Bett meiner Großmutter hängt. Wir bewegen uns auf einander zu, aber anstatt aneinander vorbeizugehen, verschmelzen wir miteinander.

Grundlegend wurde dieser Traum in dem Sinn, dass sein Verschmelzungsbild auch auf alle weiteren Phasen meines Menschwerdens immer wieder passt. Der Traum löste in mir kein Gefühl von Ehrfurcht oder Ergriffenheit aus. Er war überhaupt nicht gefühlsgeladen. Ich würde eher sagen, dass er eine Einsicht auslöste, die über mein Begreifen weit hinausging, mir aber vielleicht gerade deshalb als gewichtig in Erinnerung blieb.»

2. Jesus, der Christus ‒ zwei Pole:

Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der Evangelischen Ludwigskirche, Freiburg (DE)
Fragerunde in folgende Themen zusammengefasst:
(33:39) Die unerschöpfliche Christuswirklichkeit (Kol 1,24) und Jesus, der Bezugspunkt

Was bedeutet uns Jesus Christus heute (2004)
Vortrag:
(00:00) Einführung: Der Vortrag ist in drei Teile aufgebaut: Im ersten Teil geht es um Jesus, die historisch fassbare Persönlichkeit.
Das Thema des zweiten Teils ist Christus, die mystische Erfahrung Jesu, die uns mit ihm innigst verbindet. Jesus und Christus bilden zwei Pole in einem Spannungsverhältnis: Jesus ohne Christus ist für uns nicht verbindlich, Christus ohne Jesus ist eine mystische Erfahrung ohne Bezugspol in der Außenwelt.
(23:41) Und damit kommen wir zur Christus Erfahrung, die mystische Erfahrung Jesu, die wir selber machen können, denn in unseren besten und lebendigsten Augenblicken wissen wir, dass wir dem Göttlichen zutiefst verbunden sind: Gott als das Geheimnis, das alles umfasst, uns selbst als Gabe Gottes, und den Geist Gottes als Danksagung, die von uns zu Gott zurückfließt. Oder wir können sagen: Wir kennen Gott als das
Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen oder Vater, Sohn und Heiliger Geist.
(40:33) Bruder David schließt mit unserer Aufgabe: Mensch werden: Mensch sein ist nicht Privatsache, wir hängen alle zusammen. Wir sind das Missing Link zum vollen Menschen Jesus. Die Evolution selbst von Stufe zu Stufe bis zum Menschen ist Menschwerdung Gottes und nach der ersten Seite der Bibel leben wir vom ureigensten Leben Gottes: Wir sind Gott-menschliche Wesen

Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn:
(10:41) Epochaler Durchbruch in der Religionsgeschichte durch Jesus Christus
(13:16) Der Mensch lebt nach der biblischen Anthropologie vom ureigensten Leben Gottes ‒ Christus und Buddha
Geistliches Leben, das Maß nimmt an der Gestalt Jesu:
(11:25) Jesus Christus, ein Name mit zwei Polen: Der Christus in uns und Jesus, wofür er steht. Geistliches Leben, das immer wieder Maß nimmt am Leben Jesu

Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt:
Jesus, der Christus ‒ zwei Pole

3. Christuswirklichkeit in der Bewegung von ‹to selve› zu ‹justicing› im Eisvogel-Sonett von Gerard Manley Hopkins und Ergänzend:
1. Christus, der Logos, das Wort, in der Gestalt der Sophia, der alttestamentlichen Weisheit
2. Christus-in-uns: unser ureigenstes gott-menschliches Selbst
3. «Ich und der Vater sind eins» ‒ «Atman ist Brahman und Brahman ist Atman»
4. Christus als Choryphaeos, Anführer im Reigentanz der Hl. Dreifaltigkeit

4. Christusgeburt in uns:

Credo (2015): ‹Geboren von Maria der Jungfrau›, 94f.:

«Die dichterische Vorstellungskraft der frühen Christen sah im Jungfrauenschoß, aus dem der neue Adam geboren wird, ein Spiegelbild der jungfräulichen Erde, aus welcher der alte Adam im Paradies geformt wurde. In beiden Bildern bedeutet Jungfräulichkeit einen taufrischen Neubeginn. So wie ein Skifahrer durch ‹jungfräulichen› Pulverschnee die erste Spur zieht, so bahnt Jesus einen ganz neuen Weg zu Gott. Das ist die entscheidende Aussage dieses Glaubenssatzes.

Wir müssen den Mut haben, Gottes Geist jungfräulich zu empfangen, und selber das göttliche Kind zu gebären, denn das heißt ja nichts anderes als für die Christuswirklichkeit lebendiges Zeugnis abzulegen. Angelus Silesius spricht für die mystische Tradition, wenn er sagt:

‹Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geborn
Und nicht in dir; du bleibst noch ewiglich verlorn.›

Positiv drückt er dieselbe Einsicht in den weniger bekannten Versen aus, die an Maria gerichtet sind:

‹Sag an / O werte Frau / hat dich nicht auserkorn
Die Demut / dass du Gott empfangen und geborn?
Sag / obs was anders ist? Damit auch ich auf Erden
Kann eine Magd und Braut und Mutter Gottes werden.›

So verstanden wird dieser Glaubenssatz: ‹Geboren von Maria der Jungfrau›, der sonst nur überflüssige und unbeweisbare Information für Neugierige enthielte, zur begeisternden Herausforderung für Mutige.»

Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt:
Christliche Mystiker wie Angelus Silesius und Franz von Assisi

5. Christus, der Weg:

Arbeit und Schweigen, Beitrag von Bruder David im Buch Geist und Natur (1989), 299-301:

«Dieser Tage bekam ich ein Flugblatt in die Hand. Ich bewundere die jungen Menschen, die es verteilt haben. Sie haben sich wirklich getraut, für ihre Überzeugung einzutreten. Aber der Inhalt dieses Blattes zeigt mir, dass sie in ihrem Glauben nicht weit genug gegangen sind, zumindest nach christlichem Maß. Denn das Blatt besteht aus Bibelzitaten, und das sollte uns schon zu denken geben. Ist die Bibel für Christen ein Handbuch, aus dem man Sätze herauszieht, mit denen man seine Gesprächspartner bestenfalls überzeugt und schlimmstenfalls mundtot macht? Oder ist die Bibel Wort, das mich persönlich jetzt und hier herausfordert? Heraus-fordert, aus was heraus? Aus der Angst in den Glauben! Aus der Angst in das Vertrauen.

Ich lese gleich am Anfang: Jesus Christus spricht: ‹Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben› (Joh 14,6).

Ich würde es als gläubiger Christ sehr unter der Würde dessen, was wir als Christen von Jesus Christus glauben, halten, dass wir ihn nur als einen von vielen Wegen darstellen. Was heißt es denn, auf dem Weg zu sein? Auf dem Weg sein, heißt, sich bewegen. Jeder, der sich vorwärtsbewegt nach jenem Kompass des Herzens, der immer auf Gott weist, der ist auf dem Weg. Der ist also auf dem Weg, den wir als Christen ‒ Gott sei Dank ‒ als Jesus Christus kennen. Aber es ist viel weniger wichtig, dass man den Namen kennt, als dass man auf dem Weg ist. Christus, der Weg, kennt alle, die sich auf den Weg gemacht haben. Und die Wahrheit, so steht darüber, die Wahrheit wird Euch frei machen. Was uns nicht frei macht, kann nicht die Wahrheit sein. Was uns frei macht, etwa von Angst, das ist Wahrheit. Frei in Verantwortung. Unverantwortlichkeit ist nicht frei.

Einer der frühen Kirchenväter hat schon ganz deutlich gesagt: ‹Wenn es wahr ist, frag nicht, wer es gesagt hat. Die Wahrheit kommt immer vom Heiligen Geist.›

Wenn wir das nur auch heute noch wüssten! Hier ist nun der Punkt, wo im Hören des Wortes und in der Antwort durch die Tat Schweigen und Arbeit sich verbinden. Hier beginnt ein Prozess, den Rilke so wunderbar das Reifen Gottes nennt.

Wir haben oft ein viel zu statisches Gottesbild. Dass Gott eine Wirklichkeit ist, die in und um uns reift, ist zutiefst christlich. Wir Christen warten ja auf die Wiederkunft Jesu Christi. Aber nicht Wiederkunft, so wie er schon einmal gekommen ist, sondern das endliche Kommen, die endliche Verklärung der Welt. Daher schon sollten wir uns in Gemeinschaft verbunden wissen mit all denen, die auf dem Weg sind.

Rilke vergleicht das Bauen und die Arbeit, wenn sie wirklich verwurzelt sind im Schauen und Schweigen, mit einem unterirdischen Fluss, der in die Tiefen greift. Jetzt sind wir wieder bei den dunklen Tiefen, mit denen wir angefangen haben. Nur aus den Tiefen des Schweigens schwemmt eine Arbeit, die Gebet ist, Gold zutage. Darum betet der Dichter:

Daraus, dass Einer dich einmal gewollt hat,
weiß ich, dass wir dich wollen dürfen.
Wenn wir auch alle Tiefen verwürfen:
wenn ein Gebirge Gold hat
und keiner mehr es ergraben mag,
trägt es einmal der Fluss zutag,
der in die Stille der Steine greift, der vollen.
Auch wenn wir nicht wollen:

Gott reift.»

Begegnung der Religionen (1993)
Gespräch, Fragen nach dem Vortrag:
(20:13) ‹Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben› (Joh 14,6)

6. Orpheus, eine Christus-Figur:

Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I, 53f.:

«Und Rilke sagt: er wurde nicht zerrissen, er wurde verteilt, so wie die Kommunion verteilt wird. Und darum singen wir jetzt: Er singt in uns, in den Felsen, in den Löwen, in den Bäumen singt er noch, er wurde verteilt. Er wird zur Christus Figur. Sie konnten sein Haupt nicht zerstören, das Haupt schwimmt am Fluss hinunter und singt noch. Und die Leier wird zum Himmel gehoben und wird zum Sternbild. Er wird verteilt an die ganze Welt. Das ist der große Gott, der göttliche Sänger. Und der singt in uns.»

So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(25:52) ‹Wandelt sich rasch auch die Welt› (Rilke, Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX): Bruder David deutet das Sonett mit Blick auf die Zeit und das Jetzt, das kleine Ich und das Selbst, Orpheus und Christus]

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[1] Film Dem Geheimnis auf der Spur (2016)

[2] Zwei Audios mit dem Wort der frühen Christen in Sehen ‒ schöpferisches Schauen: Ergänzend: 2.1. (29:53) und 2.2. (01:05:31)

[3] Augustinus: ‹Confessiones›, III, 6,11

[4] Siehe auch: Hl. Geist ‒ Lebensatem Gottes: Ergänzend: 2. Weitere Texte: 2. Wir leben vom ureigensten Leben Gottes (1972): Auszug aus dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in Die Frage nach Jesus (1973), 59-63

[5] Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus›, 60-64



Quellenangaben

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