Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

hl geist georg stahl titelCopyright © - Erich Baumgartner

In den persönlichen Erwägungen zum Glauben an «Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn» in seinem Buch Credo bezieht sich Bruder David auf das berühmte Eis-Vogel-Sonett von Gerhard Manley Hopkins (1844-1889) in der Übertragung von Andreas Koziol.

Gerard Manley Hopkins (*28. Juli 1844 in Stratford bei London; † 8. Juni 1889 in Dublin) war ein britischer Lyriker und Jesuit, dessen Gedichte vor allem wegen der Lebendigkeit ihres Ausdrucks bewundert werden.[1]

In diesem Gedicht prägt der Dichter für das Selbst-Werden ein neues Wort in der englischen Sprache ‒ «to selve›, was man Deutsch mit «selbsten» wiedergeben kann. Etwas «selbstet», indem es durch sein Tun aussagt, was es ist. Jede Glocke, jede langezupfte Saite «selbstet» so durch ihren ganz eigenen Ton.[2]

«Wie Eis-Vögel entbrennen, Libellen-Flug sich anfacht;
Wie ein vom Brunnenrand gestürzter Stein erklingt;
Wie jede Saite, die man anschlägt, ihre Sage singt;
Wie jeder Glocke Zunge deren Erz bekanntmacht;
Tut jedes Ding, das sterblich, dieses eine einfach:
Es weist das Wesen, welches in ihm Wohnung nimmt
Als Selbst ‒ ‹ich selbst ward› spricht es vor sich hin;
Ruft: ‹Bin, was ich hier tu, und hierzu hergebracht›.

Ich sage mehr: dem Menschen ist Recht verbürgt,
Der Huld erhält: hält Huld sein Tun und Lassen;
Er führt vor Gott das auf, was Gott in ihm bewirkt ‒
Christus ‒ Christus spielt an tausenden von Straßen,
An Aug und Gliedern lieblich, er lebt und stirbt
Den Vater durch Gesichter, die ihn menschlich fassen.»

«As kingfishers catch fire, dragonflies dráw fláme;
As tumbled over rim in roundy wells
Stones ring; like each tucked string tells, each hung bell's
Bow swung finds tongue to fling out broad its name;
Each mortal thing does one thing and the same:
Deals out that being indoors each one dwells;
Selves ‒ goes itself; myself it speaks and spells,
Crying Whát I do is me: for that I came.

I say móre: the just man justices;
Kéeps gráce: thát keeps all his goings graces;
Acts in God's eye what in God's eye he is ‒
Chríst ‒ for Christ plays in ten thousand places,
Lovely in limbs, and lovely in eyes not his
To the Father through the features of men‘s faces.»

(Eis-Vogel-Sonett von Gerard Manley Hopkins, 1844-1889)[3]

Die ersten drei Wörter ‒ «I c h  sage mehr» ‒ sind der Wendepunkt dieses Sonetts. Sie fassen alles zusammen, was seine ersten acht Zeilen über das Selbst sagten, und weisen auf das Wesentliche der abschließenden Zeilen hin:

Wo bisher Selbst im Mittelpunkt stand, tritt nun Recht an seine Stelle ‒ nicht aber in dem Sinne, den das Gerichtswesen dem Recht gibt, sondern in dem viel tiefer liegenden Sinn einer inneren Ausrichtung auf Gerechtigkeit.

Recht will hier nicht statisch, sondern dynamisch verstanden werden. Darum prägt der Dichter auch hier ein neues Wort ‒ «justicing» ‒, das zu «selbsten» die gesellschaftspolitische Parallele darstellt und soviel wie «Gerechtigkeit schaffen» bedeutet.

Um das Bewirken echter Gemeinschaft von innen her geht es hier. In gerechter Gemeinschaft besteht das «Mehr», das ich als Mensch sagen kann. Dadurch reicht mein Selbst über das aller anderen Daseinsstufen hinaus.

Jedes sterbliche Ding tut

… dieses einfach:
Es weist das Wesen, welches in ihm Wohnung nimmt
Als Selbst. …

«Ich aber» ‒ als Mensch ‒ «sage mehr: wer gerecht ist, wirkt Gerechtigkeit»,

wie eine wörtliche Wiedergabe der englischen Vorlage lautet.

Sam Keen, ein vielgelesener nordamerikanischer Autor, der sich vorbildlich für eine friedliche, gerechte Gesellschaft einsetzt, sagt mit Nachdruck:

«Ob es uns lieb ist oder nicht, wir gehören alle zu einer Gerechtigkeitsgemeinschaft im Werden.»

Klingt das nicht fast wie ein Kommentar zu Hopkins’ «Ich sage mehr»?

«Selbsten» zeitigt klare Selbst-Aussage jedes Einzelnen. Aber erst wenn wir die uns allen gemeinsame Christuswirklichkeit als unser eigentliches Selbst erkennen, entsteht Gerechtigkeitsgemeinschaft.

Als Glied dieser Gemeinschaft wird ein lebendiges Wesen mehr sagen als: «Ich selbst ward». Was hier ward, ist, «was Gott in ihm bewirkt ‒ Christus» ‒ der kosmische Christus, die innerste Wirklichkeit von allem, was es gibt.

Wo der Dichter hier «Christus» sagt, könnte er unmöglich Jesus  sagen. Selbst «Jesus Christus» würde nicht passen.

Es geht um die Christus-Wirklichkeit, an der jedes Selbst Anteil hat, und die darum als innerstes Aufbaugesetz wirkt für die ganze Gemeinschaft des Seins.

In Jesus, wie ‒ potentiell in jedem Menschen, hat Offenheit für das Christus-Selbst sein Ich unendlich erweitert. Das Selbst Jesu Christi fand Ausdruck in seinem Leben und Sterben für eine alles-einschließende Gerechtigkeitsgemeinschaft.[4]

Im Innersten weiß ich ‒ und das Leben zeigt es mir jeden Augenblick neu: Das Geheimnis «will etwas» ‒ es hat eine «Neigung».

«Der Bogen des moralischen Universums ist weit, aber er neigt sich Richtung Gerechtigkeit»,

sagte Martin Luther King, der bewundernswerte Blutzeuge für diese Gerechtigkeit. Meine tiefste Beziehung zum Geheimnis sagt mir, dass ich in dieses moralische Universum hineingestellt bin, um meinen Beitrag zu leisten ‒ um Gerechtigkeit zu verwirklichen. Die Dynamik des Seins zielt auf Gerechtigkeit ab. Diese Gerechtigkeit in unsren Beziehungen zur Mitwelt und zur Umwelt zu verwirklichen, das ist eine außerordentlich schwierige Herausforderung für uns Menschen. Sie erfordert, dass wir uns immer wieder von neuem am Leben in der Komplexität seiner Einzelheiten ausrichten. Bei dieser Aufgabe ist es hilfreich, wenigstens eine klare Orientierung zu haben ‒ Gerechtigkeit als das Ziel zu erkennen und zu wissen, dass das Geheimnis, das uns zuinnerst miteinander verbindet, uns dieses Ziel setzt. Inwiefern wir dieses Ziel erreichen, ist weniger wichtig, als dass wir mit brennendem Verlangen ununterbrochen danach streben.» [5]

Wie kannst Du, als Leser, das Sonett von G. M. Hopkins verbinden mit Deinem Ich-Bewusstsein, Deinem Selbst-Bewusstsein und Deinem Bewusstsein vom «Christus» in Dir selbst?

«Dem Menschen ist Recht verbürgt», sagt der Dichter. Was bedeutet für Dich persönlich diese tiefste innere Ausgerichtetheit des menschlichen Herzens auf Gerechtigkeit?

Wie siehst Du in diesem Licht das Recht aller auf Würdigung ihrer Person und Gleichberechtigung in der menschlichen Gesellschaft?

Wie setzt sich das um in Dein politisches Handeln? (Nicht handeln bedeutet hier auch handeln, denn es stützt den Status Quo.)

Für Jesus Christus war dies so wichtig, dass er schließlich für seinen gewaltfreien politischen Einsatz mit seinem Leben bezahlen musste.

Auf diese Art sagte Jesus «mehr» und führte vor Gott auf der Bühne dieser Welt das auf, was Gott in ihm bewirkte (und in uns allen bewirken will) ‒ «Christus».[6]

(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2-6)

[Ergänzend:

1. Christus verschmilzt mit ‹Sophia›, der göttlichen Weisheit:

Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn›, 74f.:

«... Christus spielt an tausenden von Straßen,
An Aug und Gliedern lieblich, er lebt und stirbt
den Vater durch Gesichter, die ihn menschlich fassen.

Mit dem Bild, dass Christus ‹spielt›, greift Hopkins eine Vorstellung auf, die schon im Neuen Testament anklingt, wo Paulus und besonders Johannes Christus und  S o p h i a , die personifizierte göttliche Weisheit, ineinander verschmelzen. Sie greifen da auf eine der entzückendsten Bibelstellen zurück, in der Gottes Weisheit von sich spricht:

‹Die Ewige› schuf mich zu Beginn ihrer Wege,
als Erstes all ihrer Werke von jeher.
Gewoben wurde ich in der Vorzeit;
zu Urbeginn, vor dem Anfang der Welt.
Bevor es das Urmeer gab, wurde ich geboren.
Bevor die Quellen waren, von Wasser schwer.
Bevor die Berge verankert wurden, vor den Hügeln wurde ich geboren.
Noch hatte sie weder Erde noch Felder erschaffen
oder den ersten Staub des Festlands.
Als sie den Himmel ausspannte, war ich dabei,
als sie den Erdkreis auf dem Urmeer absteckte,
als sie die Wolken oben befestigte,
als die Quellen des Urmeers kräftig waren,
als sie das Meer begrenzte, damit das Wasser ihren Befehl nicht überträte,
als sie die Fundamente der Erde einsenkte:
Da war ich der Liebling an ihrer Seite.
Die Freude war ich Tag für Tag und spielte die ganze Zeit vor ihr.
Ich spielte auf ihrer Erde und hatte meine Freude an den Menschen.»

(Buch der Sprüche 8,22-31, Bibel in gerechter Sprache, 2006)[7]

Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Audio Spiritualität und Ökologie; siehe auch im Buch
Erkenntnis (2023): Kapitel vier: Natur und Seele, 82-106, das auf dieser Gesprächsreihe basiert:

«Gott ist Weisheit. Weisheit ist Gott. Das eröffnet uns völlig neue Perspektiven. Wir können uns fragen, wohin es uns führt, wenn wir sie im Kosmos entdecken und betrachten, die heilige Weisheit namens sophia.

Für den heiligen Johannes war logos die richtige Übersetzung von sophia. Er bezieht sich dabei mehr auf die Weisheit Gottes im Alten Testament als auf Platons Logos-Philosophie beziehungsweise die griechische Philosophie im Allgemeinen, für die nur das Erklärbare Teil des Wissens sein kann.»

Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn:
(35:01) Zwei Blickrichtungen auf Jesus Christus: Er ist einer von uns, die Pointe seiner Gleichnisse, kein Prophet im eigentlichen Sinn und die spätere Deutung in der Logos-Sophia-Theologie (Joh 1)
(38:49) Jesus: Ganz der Vater (Joh 1,18; 10,30) ‒ ‹Die Weisheit hat ihr Haus gebaut› (Spr 8) ‒ ‹Und all denen, die an seinen Namen glauben, gab er Kraft, das zu werden, was er ist› (Joh 1,12)
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen … Reinkarnation:
(26:08) Wortwörtlich nehmen klammert sich ans kleine Ich entgegen der Intention des Buddhismus wie auch des Christentums: ‹Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir› (Gal 2,20)

2. Christus-in-uns: unser ureigenstes gott-menschliches Selbst:

Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn›, 74, 75f. und 71:

«... Christus spielt an tausenden von Straßen,
An Aug und Gliedern lieblich, er lebt und stirbt
den Vater durch Gesichter, die ihn menschlich fassen.

Hopkins bereichert den Sinngehalt dieser Bilder noch, indem er betont, dass Christus/Sophia lieblich sei an Aug und Gliedern, die aber ‹nicht seine eigenen› seien ‒ der englische Text sagt ausdrücklich: ‹not his own› ‒ sondern dass diese Augen zu Gesichtern gehören, ‹die ihn menschlich fassen›, wie es in Koziols Übersetzung heißt. So wird Christus sichtbar ‹in Tausenden von Straßen›. Wo immer es Frauen, Männer und Kinder gibt, spielt der eine Christus in allen und jedem, als ob es nur einen einzigen Schauspieler gäbe, der so viele verschiedene Rollen spielt.»

«Gott liebt jeden Menschen so, als ob es nur diesen einen Menschen gäbe. Darin besteht das Herzstück der Lehre Jesu, und dazu bekennen wir uns in gläubigem Vertrauen, wenn wir Jesus Christus Gottes eingeborenen Sohn nennen. Er ist Repräsentant der ganzen Menschheit. Wer auf Gottes väterliche Liebe vertraut, glaubt an sich selbst als ‹einzig geliebtes› Gotteskind.

Aber ist das Verhältnis zwischen Gott und Jesus Christus nicht doch einmalig? Sicher. Aber das gilt für jeden Menschen. Die Beziehung jedes Menschen zu Gott ist einmalig und unauswechselbar, eine immer neue Abwandlung der Christuswirklichkeit, ähnlich wie sich auch Stern von Stern an Glanz unterscheidet. ‹Allen, die ihn aufnahmen› ‒ d.h. allen, die aus der Christuswirklichkeit in ihrem Herzen leben, ob sie Jesus kennen oder nicht ‒ ‹gab er Vollmacht Gottes Kinder zu werden› (Joh 1,12). Oder wie es im ersten Johannesbrief heißt: ‹Sehet, welch eine Liebe uns der Vater geschenkt hat, dass wir Kinder Gottes genannt werden ‒ und sind› (1 Joh 3,1).»

Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011)
Demut ‒ der Weg zum Gipfel
Fragerunde:
(01:22:09) In, durch und mit dem Selbst und dieses Selbst nennen wir als Christen ‹Christus›: Und dieses Selbst war auch in Jesus, geht aber über Jesus hinaus und verwirklicht sich auch in uns. Und das war schon dem Paulus ganz klar: Denn er hat nicht nur gesagt: Christus lebt in mir (Gal 2,20) ‒ er hat nicht gesagt: Jesus lebt in mir: Christus lebt in Jesus, Christus lebt in mir, Christus lebt in uns allen ‒, er hat auch gesagt: Wir müssen in unseren Leiden vollenden, was noch am Leiden Christi unvollendet ist (Kol 1,24). Also die Christuswirklichkeit verwirklicht sich in uns allen. Und so beten wir auch ‹In Christus, durch Ihn und mit Ihm›. Das kann alles missverstanden werden, aber so würde ich es verstehen.

Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der Kath. Akademie Bayern, Kardinal Wendel Haus, München (DE)
Fragerunde in folgende Themen zusammengefasst:
(20:55) Christus in uns ‒ Panentheismus

Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der
Evangelischen Ludwigskirche, Freiburg (DE)
Fragerunde in folgende Themen zusammengefasst:
(13:39) Der dreifaltige Gott – ein Kreislauf von Beziehungen: das Christus-Selbst

Spiritualität im Alltag in Dienten (1994)
Vortrag:
(18:52) Das Wesentliche am Christentum ausdrücken mit Mythos, Ethos und Ritus /
(20:05) Das Reich Gottes: Wir sind alle eine große Familie im Gotteshaushalt, der vom göttlichen Geist belebt ist, dem Hausfrieden Gottes / (21:52) Das Gebot der Gottesliebe und ‹liebe deinen Nächsten als dich selbst› ‒ ‹Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir› (Gal 2,20) / (24:08) Die Feier der Tischgemeinschaft: Die ganze Welt ist eine Tischgemeinschaft, Gott Gastgeber und Speise zugleich, wir ernähren einander, das ist schon in der Natur vorgegeben

TAO der Hoffnung (1994)
Diskussion:
(06:38) Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir (Gal 2,20) – Den dreifaltigen Gott von innen her verstehen (1 Kor 2,10-16) – Die panentheistische Sicht im Vergleich zum Pantheismus: Wer bin ich denn, dass ich es Gott verweigern sollte, dass Gott ich sein will?

Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992); Reich Gottes ‒ erlösende Kraft: Ergänzend: Audio 1.2.
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(50:22) Gerade Johannes sagt an der zentralen Stelle im Prolog: ‹Und allen jenen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden› (Joh 1,12), das heißt, genau das zu werden, was er nach dem Johannesevangelium ist: Sohn Gottes.

3. «Ich und der Vater sind eins» ‒ «Atman ist Brahman und Brahman ist Atman»:

Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn›, 74, 76:

«... Christus spielt an tausenden von Straßen,
An Aug und Gliedern lieblich, er lebt und stirbt
den Vater durch Gesichter, die ihn menschlich fassen.

Wo der Originaltext sagt, er spiele  v o r  dem Vater ‒ ‹to the Father›, eigentlich ‹auf den Vater zu› ‒ sagt Koziol hier, er spiele  d e n  Vater, dadurch wie ‹er lebt und stirbt›. Auch das ist theologisch haltbar. In Jesus Christus manifestiert sich ja der un-manifeste Gott, den wir ‹Vater› nennen. Darum sagt Jesus bei Johannes: ‹Philipp, wer mich sieht, der sieht den Vater› (Joh 14,9).»

Religionen ‒ drei Innenwelten:

«Es sei an das erinnert, was hier schon über das Verstehen gesagt wurde: Es ist der Prozess, in dessen Verlauf das Schweigen ins Wort findet und das Wort ins Schweigen heimfindet.

Das liefert uns den Schlüssel zur zentralen Intuition des Hinduismus: Atman ist Brahman ‒ der manifeste Gott (das Wort) ist der nichtmanifeste Gott (das Schweigen) ‒ und Brahman ist Atman ‒ das göttliche nicht Manifeste (das Schweigen) ist das manifeste Göttliche (das Wort).»

An welchen Gott können wir noch glauben (2008):

«Wir finden uns in der Unruhe unseres Herzens von einem unauslotbaren Geheimnis umgeben. Wir wissen nicht, woher wir letztlich kommen, wir wissen nicht, wohin wir gehen, wir sind rundum von Geheimnis umgeben. Und je tiefer wir versuchen, dieses Geheimnis zu erfahren, umso mehr kommen wir in Geheimnisse hinein. Dorothee Sölle, die große protestantische Theologin, spricht von Gott als MEHR, mehr und immer mehr, könnte man sagen, und nicht nur auf derselben Ebene, sondern in immer neuen Dimensionen. Und dieses Geheimnis, das uns umgibt, ist NICHTS. Es ist nicht etwas, und in diesem Sinne nichts.

Es ist aber in keiner Weise ein leeres Nichts, sondern es ist das NICHTS, das der Quellgrund und Mutterschoß von allem ist, was es gibt. Und es ist ein göttlicher Abgrund, aus dem die Fülle von allem kommt. Und die Fülle selbst ist wieder unausschöpflich. Und da ist unser eigenes Selbst eingeschlossen und daher sind wir uns selbst auch unauslotbar. Dieses MEHR und immer MEHR, das das Göttliche bedeutet, ist in uns selbst.

Das ist die manifestierte Wirklichkeit, wie die Hindus das nennen, im Gegensatz zu der unmanifestierten. Und beide sind unauslotbar, beide Begegnungen mit dem Göttlichen.»

Jesus als Wort Gottes (Salzburger Hochschulwochen 1972), 50f.:

«‹Gott spricht›, dieses ganz prägnante Wort, ist der Schlüssel, der uns das Verständnis aufschließt für die ganze biblische Tradition. ‹Ich habe das Schweigen gehört›, dieses Paradox kann uns als Schlüssel dienen für das Verständnis buddhistischen Sinnerlebens. Ähnlich können wir als Schlüssel (freilich nur als Schlüssel) die immer wiederholte, zentrale Feststellung des Hinduismus betrachten: ‹Atman ist Brahman, und Brahman ist Atman›; oder, wie man sagen könnte: Gott, der sich offenbart, bleibt der verborgene Gott, und Gott als der Verborgene ist wahrlich offenbar; oder: Das Wort ist Schweigen, das zu Wort gekommen ist, und das Schweigen ist Wort, das im Schweigen aufgehoben ist. Indem Gott seine Verborgenheit offenbart, verbirgt er sich in seiner Offenbarung. Das einzusehen heißt verstehen.»

Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast im Kardinal König Haus, Wien (AT)
Fragerunde in folgende Themen zusammengefasst:
(09:29) ‹Verstehen› im Hinduismus mit Blick auf ‹Ich und der Vater sind eins› (Joh 10,30) und einfache Übung mit einer Blume

Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der
Evangelischen Ludwigskirche, Freiburg (DE)
Fragerunde in folgende Themen zusammengefasst:
(10:46) Begegnung mit Gott, dem
Mehr und immer mehr (Dorothee Sölle)[8] in drei Grunderlebnissen: Die Begegnung mit dem unergründlichen Urgrund von allem ‒ mit dem Unmanifesten, wie die Hindus das nennen ‒, mit der unbegreiflichen Fülle allen Seins ‒ dem manifesten Universum ‒, und mit der Dynamik des unerschöpflichen Lebens, der Lebendigkeit, die das ganze durchpulst: in diesen drei Bereichen, die im Christentum in der Trinitätslehre sich ausdrücken, da tritt diese Gottesbeziehung ein, wird uns ermöglicht: Wenn wir uns bewusst bleiben, dass es sich um eine Beziehung handelt, um eine dynamische Auseinandersetzung mit diesen Bereichen, nicht um ‹jemanden›, dann wird uns unsere Beziehung zu dem Göttlichen und zu Gott, viel leichter:

Bruder David im buddhistischen Bergkloster Tassajara, siehe im Buch Ich bin durch dich so ich (2016), 94f.:

«Immer wieder steigt in diesen Sommerwochen die Frage in mir auf, warum ich mich als Mönch hier so zu Hause fühle. Ja, der Tagesablauf ist sehr ähnlich wie auf Mount Saviour, aber statt des Chorgebetes sitzen wir auf unseren Kissen im Meditationsraum und versenken uns in was wir Christen das Gebet der Stille nennen. Wir lassen uns in das abgründige Schweigen des Großen Geheimnisses hinunter. Schweigen verbindet: Sehr schnell sind wir hier zu einer echten Gemeinschaft geworden. So wie auf Mount Saviour unser Chorgebet die gemeinschaftsbildende Mitte ist, so ist es hier die schweigende Meditation. Dort rühmt in uns ‒ christlich ausgedrückt ‒ der Heilige Geist durch das ewige Wort den Vater, hier dagegen kehrt das Wort ins Schweigen zurück, also Christus zum Vater. Hier wie dort führt uns die innere Bewegung hinein in ein und dasselbe unergründliche Geheimnis. Ein begriffliches Brückenbauen wird mich noch jahrelange Gedankenarbeit kosten, aber jetzt schon erlebe ich diese Gemeinsamkeit und das fasziniert mich. Was Thich Nhat Hanh in Vietnam erlebte, wird mir in Tassajara bewusst: dass wir durch unser Mönchsein zutiefst verbunden sind ‒ über alle äußeren Unterschiede hinweg. Und diese Gemeinsamkeit ist ein tragender Grund ‒ überzeugender als alle scheinbaren Widersprüche.»

Die Weisheit, die alle verbindet (2010):
(04:29) ‹Wir können uns im Schweigen in den Abgrund Gottes hinunterlassen ohne Ende, nie wird ein Echo zurückkommen› (T. S. Lewis) ‒ jede Tradition kennt das Selbst, das uns alle verbindet, die göttliche Wirklichkeit tief in uns: das Christus-Selbst, die Buddha-Natur, Purusha, I’itoi

4. Christus als Choryphaeos, als Anführer des Reigentanzes:

Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn›, 74, 76:

«... Christus spielt an tausenden von Straßen,
An Aug und Gliedern lieblich, er lebt und stirbt
den Vater durch Gesichter, die ihn menschlich fassen.

Der Originaltext sagt, er spiele  v o r  dem Vater ‒ ‹to the Father›, eigentlich ‹auf den Vater zu› …

Der kosmische Christus spielt und tanzt  i n  und  d u r c h  uns vor dem Vater. Dieses Bild sollten wir tief in uns aufnehmen und mit geschlossenen Augen auf uns einwirken lassen. Was es uns sagen will, ist klar: Der Glaube an Jesus Christus als Gottes eingeborenen Sohn schließt niemanden aus, sondern bezieht uns in diese einzigartige Liebe des Vaters zu seinen Kindern ein.

Auf dem Weg der Stille (2023), 20f., siehe den Text von Eve Landis übersetzt in Den großen Tanz beten (1998), siehe auch Dreifaltigkeit: Ergänzend: 2.4.:

«Während einer Predigt unseres Dominikaner-Studentenpfarrers Father Diego hob ich einmal geradezu ab. Mich erfasste ekstatisch die Wahrnehmung, dass wir Gott als den Dreieinen genau deshalb erkennen können, weil wir in den ewigen Tanz von Vater, Sohn und Heiligem Geist mit hineingezogen werden. Für Studenten in Wien ist es nicht albern, von Gott zu sagen, dass er tanze. Tanzen ist etwas Ernsthaftes ‒ natürlich nichts Todernstes, aber etwas Lebenswichtiges. Viel später lernte ich den Hymnus über Christus als ‹Lord of the Dance› ‒ ‹Tanzmeister› ‒ kennen, der auf eine alte Shaker-Melodie gesungen wurde.[9]

Ich erfuhr auch, dass der heilige Gregor von Nyssa im 4. Jahrhundert die Beziehung der drei göttlichen Personen zueinander als eine Art Kreistanz beschrieben hatte: Der ewige Sohn kommt aus dem Vater hervor und führt uns im Heiligen Geist zusammen mit der ganzen Schöpfung zum Vater zurück.

Wir können von diesem Großen Tanz auch mit den Begriffen Wort, Schweigen und Handeln sprechen: Der Logos, das Wort Gottes, kommt aus dem unergründlichen Schweigen Gottes hervor und kehrt wieder zu Gott zurück, schwer beladen mit der Ernte des zum liebevollen Handeln inspirierenden Geistes. Diese trinitarische Sicht hilft mir auf immer neue Weisen die ‹Kommunikation mit Gott› zu verstehen, die wir als Beten bezeichnen ‒ nicht als eine Art Ferngespräch bis zum Himmel, sondern als das Geschenk, dank der Teilhabe an Gottes Leben immer mehr von Leben erfüllt und lebendiger zu werden.»

Credo (2015): ‹Amen›, 237f.; siehe auch Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 3.3. und Dreifaltigkeit:

«Hier beim Parlament der Weltreligionen zeigte sich mir aber etwas Wichtiges:

Spiritualität ist nicht nur ein Suchen nach Sinn, sie ist ebenso Feier von Sinn.

Jeder dieser wundervollen Tage in Chicago brachte neue Feiern und Festlichkeiten, in denen die Schönheit einer Tradition nach der anderen zum Leuchten kam.

Das Bild eines prachtvollen Reigentanzes drängte sich mir dabei auf, und ich entschied mich, es in meiner Ansprache zu verwenden.

Schon im 4. Jahrhundert verwendeten die griechischen Kirchenväter das Bild des Reigens oder Rundtanzes ‒ so wie Kinder ihn tanzen, einander bei den Händen haltend und ‹Ringa ringa reia› singend ‒, um tiefe theologische Einsichten über Gottes Dreieinigkeit auszusprechen:

Der Sohn ‒ Christus als ‹Choryphaeos›, als Anführer des Tanzes ‒ kommt aus der Verborgenheit des Vaters hervor und kehrt im Schwung des Heiligen Geistes zum Vater zurück.

Wenn mein christlicher Glaube an Gott als dreieinig ‒ nicht eins und nicht drei, sondern eins in drei und drei in eins ‒ wirklich Ausdruck des Ur-Glaubens ist, dann musste selbst eine so spezifische Lehre wie die von Gottes Dreifaltigkeit keimhaft in dem Glauben enthalten sein, den ich mit allen Menschen gemein habe.»

An welchen Gott können wir noch glauben? (2008):

«Und mit großem Erstaunen sieht das dann ein Christ, dem man immer gesagt hat, die Dreifaltigkeit, das ist ein großes Geheimnis, das wirst du nie verstehen. Ja, verstehen nicht, ausloten nie, aber es zeigt sich, dass das plötzlich inmitten aller großen Traditionen steht. Wort, Schweigen und Verstehen. Das Wort, das haben schon die griechischen Väter so gesehen, das Wort kommt aus dem Schweigen und geht durch das Verstehen ins Schweigen zurück. Sie haben das den großen ‹Reigentanz der Trinität› genannt. Und wir sind in diesem Reigen und können teilnehmen an diesem Tanz. Das Wort ist der Anführer des Tanzes, der Koryphaios in diesem trinitarischen Tanz.»

Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 2
Nachmittag:
(57:38) Der Reigentanz der Trinität und Christus, der Logos: das WORT ist der Choryphaeos, der Anführer im Tanz

Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(51:31) Der Reigentanz der Trinität gespiegelt in den Weltreligionen]

________________________

[1] Gerard Manley Hopkins (Wikipedia)

[2] Siehe Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus›, 66; im Buch Orientierung finden (2021): Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›, 44, übersetzt Bruder David:

«Jedes vergänglich’ Ding tut eins nur und dasselbe:
stellt, was zutiefst ihm innewohnt, zur Schau:
es selbstet ‒ nennt sich, drückt sich selber aus,
es ruft, ich bin ich selbst: Nur dazu bin ich da.»

«Auf unsre Frage ‹Was?› ruft uns jedes Ding sozusagen seinen einzigartigen Namen zu und wartet nicht darauf, dass wir ihm einen geben. ‹Es selbstet.› Hopkins musste ein neues Wort prägen, um dies auszudrücken. Die Dinge ‹buchstabieren› ihr Selbst, wie er sagt, sie rufen es uns zu mit ihrem ganzen Sein, aber wir können das Wort, das jedes Ding im Innersten ist, nicht begreifen. Es entzieht sich dem Zugriff jeglichen Begriffes. Nur wenn wir uns davon ergreifen lassen, können wir es verstehen. So führt uns also auch die Frage ‹Was?› tief ins Geheimnis.»

Siehe auch Geheimnis: Erg. 3.1. und Anm. 12.

[3] Credo (2015): ‹… und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn›, 76f.

[4] Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus›, 67-69

[5] Orientierung finden (2021): Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›, 48f.

[6] Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus›, 69

[7] Im Buch Credo  ist der Text aus der Lutherbibel 1554 abgedruckt

[8] Siehe auch die Audios Wie das Göttliche in uns wächst (2005)

[9] Anmerkung von Bernard Schellenberger: Die Shaker («Schüttler») waren eine im 18. Jahrhundert aus den Quäkern hervorgegangene Freikirche in den USA, in der man ekstatische Schütteltänze pflegte.



Quellenangaben

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