Text, Filme und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

hl geist georg stahl titelCopyright © - Barbara Krähmer

Ego ist das lateinische Wort für «lch», aber wir werden es mit einer negativen Bedeutung verwenden, weil wir ein Wort brauchen für eine Fehlform des Ich. Auch im oft gebrauchten Wort «egoistisch» ist Ego negativ belastet. Das «lch» wird zum Ego durch einen Prozess des Vergessens. Je mehr ich mein Selbst vergesse, das mich mit allen andren verbindet, desto einsamer und ganz auf mich allein gestellt muss ich mich fühlen. Mein «Ich-Selbst» schrumpft mehr und mehr zum Ego zusammen, bis ich mein Selbst fast völlig vergessen habe. Ganz vergessen können wir es nie.

Im Europakloster spielen wir Mönche einmal im Monat nach dem Sonntagsgottesdienst für die Kinder Kasperltheater. Da kann es vorkommen, dass einer der Brüder mit einer Hand das Krokodil spielt, mit der andren die vom Krokodil bedrohte Prinzessin. Wenn wir uns in die Prinzessin hineindenken, wird es uns gewiss Zuversicht schenken, das zu wissen. Wir werden zwar Angst haben vor dem Krokodil, werden aber dem Puppenspieler vertrauen, der uns beide spielt. Aber eine Puppe, die den Puppenspieler vergisst, muss sich als eine leere Haut fühlen, umgeben von unzähligen andren, von denen einige alles andre als freundlich zu sein scheinen. Sie wird also Angst bekommen. Wenn wir vergessen, dass das eine Selbst uns innerlich verbindet, ist Angst fast unvermeidlich. Das Ego sträubt sich voller Furcht gegen diese Angst. Furcht aber ist die Ursache für alles, was im Welttheater schiefgeht.

Furcht macht das Ego aggressiv. Dann sucht es Sicherheit, indem es Macht über andre zu erlangen sucht; danach strebt, sich über alle andren hochzuarbeiten, andre zu unterdrücken und sie auszunutzen. Auch wird das Ego ein Gefühl des Mangels nicht los. Aus Furcht, dass nicht genug für alle da ist, wird das Ego gierig, geizig und neidisch. Es hat seine Einbettung in ein größeres Ganzes verloren und ist zum Mittelpunkt geworden, um den sich nun all sein Denken und Streben dreht. Es verstrickt sich immer mehr in eine von Furcht getriebene Gesellschaft, in der Ego auf Ego prallt, eine Gesellschaft ‒ leider unsre eigene! ‒ gekennzeichnet durch Machthunger, Gewalttätigkeit, Gier und Ausbeutung, und all das aus Furcht!

Wie kann das Ego aus dieser Verirrung und Verstrickung heimfinden in die rechte Beziehung zum Selbst? Die Antwort liegt auf der Hand: Aus Vergesslichkeit und Furcht hat es sich verirrt, durch das Gegenteil ‒ also durch Achtsamkeit und Vertrauen ‒ kann es den Heimweg finden.

Auch das zum Ego gewordene Ich kann ja das Selbst nie ganz vergessen. Es kann also umkehren und heimkehren. Im innersten Herzen des Egos schläft sie nur, die Erinnerung an das Selbst.

Wir können zusammenfassen: Das Ego ist nichts andres als das Ich, aber ein krankes Ich, zusammengeschrumpft, weil es sein weites, allumfassendes Selbst aus dem Bewusstsein verloren hat. Daher hat es auch seine Verbundenheit mit allen andren vergessen und alle echten Beziehungen verloren. Nur durch Beziehungen aber finden wir Sinn und Orientierung im Leben. Und alle Beziehungen beginnen mit der Beziehung zum Du.

[Orientierung finden (2021): ‹Das Ego ‒ wenn das Ich das Selbst vergisst›, 24f.]

[Ergänzend:

1. Filminterview von Ramon Pachernegg mit Bruder David (2017), siehe auch Transkription:

(20:10) «Wie schaut die Welt des Selbst aus?

(23:29) Wir leben in einer Gesellschaft, die eben durch das Ego geprägt ist, und die daher eine Art Pyramide ist. Der Stärkste ‒ zugleich auch wahrscheinlich der, der am meisten Furcht hat, das macht ihn so aggressiv ‒, ich sage ihn, das ist eine sehr männliche Haltung, aber es kann auch Frauen passieren:

Wer am meisten Angst hat, der kommt am höchsten hinauf, weil er die Andern am stärksten tritt. Und da baut sich diese Pyramide auf und jeder ‒ auf jeder Schicht ‒, buckelt nach oben und tritt nach unten, wie ein Radfahrer. So baut sich diese Machtpyramide auf. Das Gegenteil ist eine Welt, nicht der Pyramide, sondern der Vernetzung.

(26:47) «An dem Beispiel der Flüchtlinge und der Flüchtlingskrise, in der wir leben, zeigt sich eigentlich recht schön, wie das im Praktischen ausschaut:

Es heißt noch nicht: ‹Ich weiß schon, was man da machen muss ‒, ich habe schon alles ausgedacht› ‒ ‹Keine Ahnung, ich habe sogar Angst, dass mir gar nichts einfallen wird. Aber ich vertraue, ich sträube mich nicht. Diese Situation ist gegeben. Ich baue keine Zäune, das ist das Sträuben. Ich setze mich damit auseinander und gemeinsam werden wir irgendeine Lösung finden.›

Man braucht noch nicht das Rezept zu haben, man muss nur die Haltung haben, aus der sich früher oder später die Lösung entwickelt. Vielleicht ganz ohne Rezept sich einfach entwickelt, weil man gewisse Grundsätze, zum Beispiel Ehrfurcht vor dem Andern: Das ist ja nicht nur Nummer 50364 von den Flüchtlingen, das ist ein Mensch mit einem ganz eigenen Schicksal ‒, dem trete ich ehrfürchtig entgegen und versuche gemeinsam:

‹Was können wir da machen›? Und wenn genügend Leute fragen: ‹Was können wir da machen?› ‒ das ist schon ein Weg auf eine Lösung hin, wenn genügend Leute fragen.

… Aber das Gegenteil ist, zu sagen: ‹Abschließen, Mauern, Zäune, niemanden mehr hereinlassen› …

Das ist ganz ein anderer Ansatz. Und dieser kreative Ansatz entspringt dem Bewusstsein: Wir sind ein Selbst, das viele, viele verschiedene Rollen spielt, aber es ist das eine Selbst und es wird schon etwas herauskommen, wenn wir unsere Rolle gut spielen: Der Flüchtling spielt die Flüchtlingsrolle, der Helfer spielt die Helferrolle. Der Zuschauer spielt die Zuschauerrolle. Wir müssen unsere Rollen gut spielen.»

2. Audios

2.1. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 3 Vormittag:
‹Das Ego ‒ die Fehlform des Ich› (Bruder David)

2.2. Lebensorientierung (2015)
3. Tag, 12. Februar, Donnerstagvormittag mit 5. Impulsvortrag (Bruder David), siehe
Transkription S. 16 und 28:
(28:55) Das Ego: wenn das Ich sich fürchtet und gewalttätig wird
(42:53) Gespräch: Warum fallen wir immer wieder ins Ego?

2.3. Das glauben wir ‒ Spiritualität in unserer Zeit (2015)
Vortrag in Themen des Abends aufgeteilt:
Ich ‒ Selbst ‒ Liebe ‒ Ego

2.4. Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014); siehe auch Transkription:

(26:44) Warum ist das Ego aber schlecht, was ist das Problem, wenn man vergisst, dass wir alle eins sind? Darum geht’s ja: Wenn man das Selbst vergisst, hat man vergessen, dass wir alle eins sind. Warum ist das so problematisch?

2.5. Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Dem Welthaushalt freudig dienen: Pater Johannes und Bruder David im Gespräch:
(03:16) Wenn das Ich das Selbst vergisst

3. Weitere Texte

3.1. Machtpyramide und Netzwerke; Konkurrenz, Wettbewerb, Rivalität

3.2. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014) 112-115:

«Wenn das ICH jetzt plötzlich das SELBST vergisst, wird es zum EGO.

Das ICH schrumpft ein, es schrumpft zusammen und fürchtet sich. Das ist das Erste. Wenn wir uns fürchten, werden wir aggressiv. Aggression, Gewalttätigkeit kommt immer von Furcht.

Das nächste ist: Wir wollen weiter hinaufkommen: kompetitiv, Wettbewerb um jeden Preis, höherkommen wie die anderen, es sind ja so viele, vielleicht steigen die auf mich drauf, da steig ich lieber auf sie drauf. Und dann der Gedanke, da ist ja nicht genug für uns alle: Wir werden neidisch und geizig, wollen mehr und mehr.

Und das sind alles die Charakteristiken, die unsere Welt, Kulturwelt, die wir geschaffen haben, charakterisieren: Gewalttätigkeit, Wettbewerb und Geiz und Neid und in allen spirituellen Traditionen aus der Erfahrung aus dem SELBST heraus wird eine Welt vorgestellt und erhofft, wo Frieden ist, nicht Gewalttätigkeit, nicht Aggression, Zusammenarbeit statt Wettbewerb und Teilen.»]


Quellenangaben

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