Text, Filme und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Morgens, mittags und abends erinnert das Angelusläuten vom Kirchturm die Gläubigen an die Botschaft, die der Erzengel Gabriel der Jungfrau Maria brachte, und an ihre Antwort, wie wir sie im Evangelium nach Lukas (1,26-38) lesen.
«Angelus» heißt (nach seinem ersten Wort im lateinischen Text) dieses täglich dreimal wiederholte Gebet. Es stellt gewissermaßen die christliche Parallele dar zu den durch Gebet geheiligten Zeiten im Islam und in anderen Traditionen.
An den drei Wendezeiten des Tages ‒ wenn die Nacht dem Tag weicht, wenn die Sonne sich am Mittag vom Aufstieg zum Abstieg wendet, und wenn der Tag sich abends neigt ‒ feiert das Angelusgebet den Einbruch des ewigen Jetzt in die Zeit und erinnert uns daran, in diesem Jetzt zu leben.
Die traditionelle Form dieses Gebetes ist einfach. Eine Abfolge der gleichen drei Verse zu jeder Tagzeit bildet sein Herzstück.
«Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft, und sie empfing vom Heiligen Geist.»
Dieser erste Vers bietet ‒ vorausschauend ‒ eine Zusammenfassung dessen, worum es geht. Der zweite zitiert aus dem Evangelium (Lk 1,38), wie um uns einzuladen, selber mit Maria zu sprechen:
«Siehe, ich bin eine Magd des Herrn, mir geschehe nach Deinem Wort.»
Und der dritte Vers ‒ er stammt aus dem Prolog zum Johannesevangelium (Joh 1,14) ‒ will anzeigen, was sich damals ereignete und immer noch ereignet, wenn wir selber wie Maria das Wort Gottes mit offenem Herzen empfangen:
«Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt» ‒
hat (richtiger) «unter uns Wohnung genommen», wohnt also heute wie damals unter uns.
Diese drei Verse sind miteinander verwoben durch ein dreimal wiederholtes Ave Maria, ein kurzes Gebet, das auch zum Großteil aus Worten des Verkündigungsengels an Maria besteht.
Von Kindheit auf habe ich den Angelus gebetet und kann bezeugen, dass er Kraft hat, dem Tagesablauf Form und Halt zu geben. Dreimal am Tag ruft uns dieses Gebet, inmitten aller Eile und Geschäftigkeit der Zeit, zurück ins zeitlose Jetzt.
Wann sollte denn das Wort Fleisch werden, wenn nicht jetzt?
Wie sollte das geschehen, wenn nicht dadurch, dass ich mich empfänglich öffne für den Heiligen Geist?
Was aber könnte mein Leben mächtiger verändern und dadurch auch meine Umwelt? Beim Angelus-Glockenläuten fließt der Mythos der Jungfrauengeburt[1] durch das Ritual des Angelus-Gebetes als lebensspendende Kraft in unser tägliches Leben ein.
Zu beten, nicht nur wenn es uns danach zumute ist, sondern wenn es Zeit ist ‒ und die Glocken erinnern uns daran ‒, das hilft uns, unser Leben auf den großen kosmischen Rhythmus der Tages- und Jahreszeiten einzustimmen. Es «erdet» und verankert uns sozusagen in jener größeren kosmischen Wirklichkeit, die unsere verschwindend kleine Existenz hält und trägt.
Und Du? Nimmst Du Dir manchmal Zeit, zu unterbrechen, was immer Du tust und tief zu atmen? Die Welt braucht unser bewusstes Bemühen, immer wieder aus der Zeit ins Jetzt zurück zu kommen und uns in jungfräulicher Empfänglichkeit dem Heiligen Geist zu öffnen.[2]
Durch den Glauben sind wir selber mitten in der Zeit dennoch in dem Jetzt verankert das über die Zeit hinausragt. Das gibt uns festen Halt im Auf und Ab unseres Bemühens, für Gottes Liebe Zeugnis abzulegen.[3]
Wenn Gott den Spatzen nicht vergisst, dann kann sein kurzes Zwitscherleben niemals verlorengehen. Nur in der Zeit kann etwas enden. Wenn aber die Zeit selbst längst nicht mehr ist, bleibt alles, was aus der Zeitperspektive so flüchtig erschien ‒ jedes Spatzentschilpen ‒, taufrisch aufgehoben in Gottes ewigem Jetzt.
Das Jetzt ist über die Zeit erhaben, wir erleben es aber in der Zeit ‒ Augenblick um Augenblick ‒ sozusagen «gebrochen», wie das farblose Licht, wenn es uns ‒ Farbe um Farbe ‒ aufleuchtet.
Darin liegt viel Trost für alle, die über einen Todesfall trauern, denn im ewigen Jetzt dürfen wir ja unsere Freunde, unsere Verwandten und unsere lieben Tiere wiederfinden ‒ allerdings auch alle, mit denen wir uns jetzt in der Zeit streiten; es ist also keine schlechte Idee, uns jetzt schon auszusöhnen.[4]
So ruft auch in meiner Erinnerung Auferstehung des Fleisches Augenblicke wach, in denen meine Lebendigkeit so intensiv wurde, dass sie plötzlich Zeit und Vergänglichkeit überragte und im ewigen Jetzt ‒ wenn auch nur flüchtig ‒ an Unvergänglichkeit streifte.
Ich schließe meine Augen und öffne sie innerlich. Jetzt grünt um mich ein Sommermorgen in den Ost-Tiroler Alpen. Von der blühenden Bergwiese, zu der mich ein Fußpfad heraufführte, geht es fast senkrecht hinunter zum Sommerheim der Wiener Sängerknaben, bei denen ich Präfekt bin. Mit offenen Augen ist das «damals in meinen Studententagen», in der Erinnerung aber ist es jetzt.
Auch damals war es ja jetzt; und jetzt ist immer jetzt.
Das Jetzt lässt sich nicht vervielfachen; es ragt über die Zeit hinaus.
Nur wir verfangen uns immer wieder in der Illusion von Zeit.
Manchmal aber scheint es uns, dass die Zeit still steht, weil wir einen Augenblick lang ganz im Jetzt sind ‒ und so in der Ewigkeit, dem ‹Jetzt, das nicht vergeht›.
(In meiner Erinnerung ist das so ein Augenblick:) Tief unter mir probt der Chor, und durch die große Stille steigt Ton um Ton silberklar zu mir empor ‒ da Vittorias (c 1548-1611) Motette «Duo Seraphim».
Wovon der Text spricht, wird jetzt hier Wirklichkeit: Von Anbetung hingerissen, rufen zwei flammen-geflügelte Engel einander zu: «Heilig, heilig heilig!»
Das ist zugleich meine eigene innerlichste Stimme, die da singt; und nichts sonst ist von Bedeutung, als dieses unerschöpfliche «Heilig, heilig, heilig!» im ewigen Jetzt.
Ein zweites solches Erlebnis fällt mir ein, weil es auch mit Musik verbunden ist, und auch auf die Auferstehung des Fleisches Licht wirft. In der Zeit spielt es sich ein paar Jahre später ab, in der bleibenden Wirklichkeit aber ist es jetzt.
Wieder bin ich Präfekt bei einem Knabenchor, diesmal in Florida. Es ist der Abend vor den langen Ferien. Die meisten der jungen Sänger sind schon auf der Heimreise. Einer steht noch beim Klavier und singt Händels Arie «O hätt’ ich Jubals Harf’ und Miriams süßen Ton» ‒ wohl zum letzten Mal, denn er steht kurz vor dem Stimmbruch und wird nicht zum Chor zurückkehren.
Selbst unter all diesen ausgewählten Knabenstimmen ist sein Alt von einzigartiger Schönheit. Wie bernsteinfarbener Honig fließt das Abendlicht schräg durch die hohen Bogenfenster des halbdunklen Raumes und scheint in dieser Altstimme Klang zu werden.
Jetzt muss ich eine blitzschnelle Entscheidung treffen. Neben mir steht das Gerät, das mir erlaubt, diese Stimme auf einem Tonband zu «verewigen». Soll ich die Taste drücken? Fast schon strecke ich die Hand aus, aber etwas in mir sagt ein klares «Nein!» Dieser Augenblick ist ja schon ewig.
Erinnerungen verblassen und verlöschen. Wenn aber meine Zeit um ist, wird das Jetzt jenes Tiroler Sommermorgens, das Jetzt jenes Abends in Florida, wird jedes Jetzt meines Lebens lebendige Gegenwart sein.
Nichts geht verloren, so flüchtig es erscheinen mag, denn «Alles ist immer jetzt».[5]
Ich glaube an die Auferstehung des Fleisches und das schließt natürlich auch die Toten ein ‒ weil alles Vergängliche unvergänglich aufgehoben ist im Jetzt, das nicht vergeht.
Es muss nicht wiedergebracht werden aus dem Staub, wie die Leiber der Verstorbenen auf mittelalterlichen Bildern vom jüngsten Gericht. Es ist ja mit dem auferstandenen Christus «in Gott verborgen» (Kol 3,3), gegenwärtig.
Darum vertraue ich, dass wir unsere Lieben mit jeder Sommersprosse und mit jedem Grübchen in der uns so lieben Wange «wiedersehen» werden, wenn wir «Gott schauen». «Gib mir Liebende», sagt Augustinus, «denn die wissen, was ich meine». Das kann auch ich hier sagen.
Vielleicht bist Du schon alt genug, um Fotos von Verwandten und Freunden zu besitzen, die Du von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod kanntest.
Dann schließt Deine Liebe doch das Nackerpatzerl (liebevolle österreichische Ausdrucksweise für kleines nacktes Kind) in der Badewanne ebenso ein wie den zahnlückigen Volksschüler, den ruppigen Buben auf dem Fahrrad, den zum Abschluss-Ball geschniegelten Maturanten, das junge Ehepaar, und so Bild um Bild bis zum letzten matten Lächeln.
In welchem der Bilder siehst Du den von Dir geliebten Menschen? Nicht doch in jedem? Musst Du wählen?
Dieses Jetzt des Lebens ist gegenwärtig im «Jetzt, das nicht vergeht», das heißt in der Ewigkeit.
«Wir sind die Bienen des Unsichtbaren», schrieb Rilke.
«Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l'accumuler dans la grande ruche d'or de l'Invisible.»
(«Inständig sammeln wir den Honig des Sichtbaren, um ihn anzuhäufen in der großen goldenen Wabe des Unsichtbaren.»[6])
Unsichtbar heißt hier: dem Bereich der Sinne entzogen. Sommermorgen und Winterabend, das «Heilig, heilig, heilig!» der Seraphim und «Miriams süßer Ton» sind nicht nur physiologisch gespeichert in meinem zur Verwesung bestimmten Gehirn.
Sie sind meinem über Zeit und Raum erhabenen Selbst mit der Glut des Geistes eingebrannt. Wenn einst der Wassertropfen meines Lebens ins Meer zurückkehrt, wird er nach dieser Musik schmecken, und das Meer wird diesen Geschmack unverlierbar enthalten.[7]
Manchmal in unserem Leben, und gerade wenn wir bis in die tiefsten Schichten unseres Seins wach und lebendig sind, können wir eine Art Zeitlosigkeit erfahren.
Minuten oder sogar Stunden können uns in diesem Bewusstseinszustand wie ein einziger Augenblick erscheinen.
Die Uhren ticken weiter, aber für uns steht die Zeit still.
Solche Augenblicke liefern den Erfahrungsinhalt für den Begriff von Ewigkeit.
In elegantem Latein definiert Augustinus Ewigkeit als «nunc stans»: Das «Jetzt», das nicht vergeht, weil es jenseits aller Zeit «steht».[8]
Ewigkeit hebt die Zeit auf. Danach sehnt sich das menschliche Herz.
Wie Goethes Faust wollen wir alle zum Augenblick sagen: «Verweile doch, du bist so schön!» Oder wie Friedrich Nietzsche (1844-1900) es ausdrückte: «… alle Lust will Ewigkeit ‒, will tiefe, tiefe Ewigkeit!»
Unser ganzes Wesen sehnt sich nach Befreiung von einer Zeit, die alles Gegenwärtige ununterbrochen zur Vergangenheit abbaut, so wie das Meer die Sandburgen, die wir als Kinder bauten, am nächsten Morgen immer wieder eingeebnet hatte. Mit unserem ganzen Leben geht es uns so:
«Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfäIlt.
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.»[9]
Der Gegenpol zu solchem Zerfall ist aber nicht einfach Bestand; damit blieben wir ja immer noch im Bereich von Zeit.
Was wir als Ewigkeit erahnen, ist nicht statisch, sondern im höchsten Grad dynamisch. Es ist jene von Zeit befreite Lebendigkeit, nach der sich alles in uns sehnt ‒ Ewiges Leben also.
Weil die uns hie und da flüchtig geschenkte Erfahrung davon weit über unsere jetzige Begrenztheit hinausgeht, schreiben wir sie dem göttlichen Leben zu, dem Heiligen Geist.
Je besser wir lernen im Jetzt zu leben, umso lebendiger werden wir. Das kann jeder Mensch durch eigene Erfahrung überprüfen. Auf Grund dieser Erfahrung vertrauen wir im Glauben, dass wir, wenn unser zeitliches Leben um ist, in Gottes ewiges Leben eingehen werden mit jener Lebendigkeit, die jetzt schon unsere eigentliche ist.
Tief innerlich verstehen wir, was Rilke meint, wenn er sagt:
«Mit kleinen Schritten gehen die Uhren neben unserem eigentlichen Tag.»[10]
Wer bekennt: Ich glaube an das ewige Leben, der verlegt das Schwergewicht seines Lebens auf das Jetzt, in dem die Zeit aufgehoben ist.
Von dieser Mitte her können wir «in Fülle» leben, weil Zeit für uns auf eine höhere Ebene hinaufgehoben ist. Wir brauchen uns nicht länger darüber Sorgen zu machen, dass unsere Zeit unaufhaltsam abläuft. Die Zeit, die so abläuft, ist für uns schon jetzt aufgehoben, sie ist außer Kraft gesetzt, abgeschafft. Aber gerade deshalb dürfen wir jeden Augenblick als Gabe und Aufgabe voll ausschöpfen. Das Jetzt in der Zeit gibt uns ja Zugang zum Jetzt, das über Zeit erhaben ist.
Wir dürfen darauf vertrauen, dass alles, was schön und gut und echt ist an der Zeit, aufgehoben und geborgen ist im ewigen Jetzt; mit jeder für uns bedeutsamen Einzelheit ist es liebend aufbewahrt dort, wo wir letztlich zuhause sind ‒ in Gott.
Weil wir an das ewige Leben glauben, dürfen wir das Leben hier ‒ wo immer wir sind ‒ im großen Jetzt, das die Zeit aufhebt, feiern.[11]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2-4, 7, 10f.)
[Ergänzend:
1. Filme
1.1. Filminterview von Ramon Pachernegg mit Bruder David (2017), siehe auch Transkription:
(08:35) «Das JETZT ist nicht ein kleiner Teil der Zeit, sondern richtig verstanden ist das JETZT die Ewigkeit, also Nicht-Zeit ‒ das Gegenteil von Zeit, denn es geht über die Zeit hinaus. Es ist falsch zu sagen, das JETZT ist in der Zeit. Es ist richtiger zu sagen, die Zeit ist im JETZT»
1.2. Wir sind daheim in dieser Welt (1975); siehe auch Transkription:
(40:09) ‹Das Erlebnis ist nicht vollendet, bevor es nicht in Erinnerung übergeführt wird. Diese Verwandlung von Sinneserfahrung in Erinnerung ist eine Verwandlung aus dem Sichtbaren, Schmeckbaren, Tastbaren, Riechbaren, Hörbaren in einen Bereich des Übersinnlichen.
Der Dichter Rainer Maria Rilke hat das so schön ausgedrückt. Er vergleicht uns Menschen mit Bienen, die den Nektar des Sichtbaren in die großen goldenen Honigwaben des Unsichtbaren sammeln. Das ist unsere große menschliche Aufgabe.›
2. Audios
2.1. Vertrauen in das Leben (2014)
Vortrag:
(38:21) ‹Stirb und Werde› – Auferstehung meint etwas anderes – ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke) – ‹Euer Leben ist verborgen in Gott› (Kol 3,3)
2.2. Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Dem Welthaushalt freudig dienen: Pater Johannes und Bruder David im Gespräch:
(06:23) Ein bayerischer Biergarten im Himmel: Das Jetzt ist nicht in der Zeit ‒ die Zeit ist im Jetzt
2.3. Die Weisheit, die alle verbindet (2010)
Gespräch:
(11:56) Im Jetzt leben ‒ ‹All is always now› (T. S. Eliot)‚ ‹Nunc stans›: das Jetzt, das nicht vergeht (Augustinus) / (14:04) Warum gib es überhaupt Zeit? Bruder David zu Zeit und die Gelegenheit, Jetzt und Sterben, Tod / (15:44) Wie viele Gelegenheiten hast du verpasst in deinem Leben? ‹Was immer wir wählen, wird uns geschenkt, und was wir zurückweisen, wird uns am Ende auch geschenkt› (Tania Blixen [Isak Dinesen]: ‹Babettes Fest›)
2.4. Wähle das Leben (1992)
Vortrag in folgende Themen zusammengefasst:
(17:35) ‹Nunc stans› – Ankommen in der Ewigkeit
(26:02) Wenn jedes Jetzt meines Lebens gegenwärtig ist / (28:44) Nicht ohne meinen Hund
2.5. «Im Paradoxen Sinn erfahren»: Vortrag der Tagung Aufwachsen in Widersprüchen (1989); siehe die Transkription des Vortrags, abgedruckt im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 61f.; siehe auch Jetzt im Doppelbereich: Ergänzend: 2.3.:
(11:07) «Im tiefsten fragt unser Herz das, von Anfang an: W e r b i n i c h? ‒ Was bedeutet aber diese Frage? Die Betonung müsste da auf dem ‹b i n› liegen.
Ich muss mit dieser Spannung leben, dass ich der bin der dieses ‹bin› nie in der Zeit findet und es doch in der Zeit verwirklichen muss.»
2.6. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen ‒ Ausklang mit Rilke Gedichten und dem Thema Reinkarnation:
(39:47) Im Jetzt leben: Deshalb das Desinteresse der jüdischen Propheten an Themen, die in den Religionen ihrer Nachbarvölker einen zentralen Platz einnehmen. ‒ «Von einem einzigen Punkt aus, wenn ich wirklich da bin, habe ich zu allem Zugang»: Br. David ermutigt zum wissenden Nichtwissen
3. Weitere Texte
3.2. Jetzt im Stundengebet: Ergänzend: 1.3. Audio und 2. Sext ‒ INBRUNST UND HINGABE, 94f.
3.3. Orientierung finden (2021): ‹Das Jetzt ‒ im Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit›, 81f.:
«Wir stellen uns typisch die Zeit als eine Linie vor, auf der das Jetzt der kurze Abschnitt zwischen Vergangenheit und Zukunft ist. Aber wie kurz dieser Abschnitt auch sein mag, wir können ihn in die Hälfte teilen. Dann ist die eine Hälfte n i c h t, weil sie vergangen, also nicht mehr ist; die andre Hälfte ist auch n i c h t, weil sie zukünftig, also noch nicht ist. Wir können diesen Teilungsprozess ad infinitum fortsetzen. Es zeigt sich also, dass dieses Jetzt, mit dem wir doch so vertraut sind, gar nicht in der Zeit ist. Im Gegenteil, wir sind berechtigt zu sagen: Die Zeit ist im Jetzt.
Alle Vergangenheit war ja einmal jetzt, und wenn die Zukunft kommt, wird sie jetzt sein.
‹Alles ist immer jetzt›, sagt T. S. Eliot ‒ ‹all is always now›.
Nur was jetzt ist, ist, sonst war es oder es wird erst sein, ist also nicht.
Wie erstaunlich: Mitten in der Vergänglichkeit erleben wir etwas, das Dauer hat ‒ das Jetzt. Johann Gottfried Herder (I744-1803) schrieb:
Ein Traum, ein Traum ist unser Leben
auf Erden hier.
Wie Schatten auf den Wogen schweben
und schwinden wir,
und messen unsre trägen Tritte
nach Raum und Zeit;
und sind (und wissen's nicht) in Mitte
der Ewigkeit.
Das Jetzt ist ‹der Schnittpunkt des Zeitlosen mit der Zeit› (T. S. Eliot) ‒ der Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit.
Ewigkeit ist ja nicht eine endlos lange Zeit, sondern der Gegenpol zu Zeit, ‹das beständige Jetzt›, das ‹nunc stans›, wie Augustinus Ewigkeit definiert. Wenn deine Zeit um ist, bleibt nur deine Ewigkeit.
Schon heute lebst du aber im Doppelbereich, gehörst also beiden Bereichen an.
Außen stehst du mitten in der Zeit; innen in dir aber ist die ‹Mitte des Immer, drin du atmest und ahnst›, wie Rilke in der ‹Elegie an Marina› schreibt.
Und für T. S. Eliot ist das Jetzt ‹der Augenblick in und außerhalb der Zeit› ‒ die Ewigkeit inmitten der Zeit.
Mein Selbst gehört zum Bereich der Ewigkeit. Mein Ich gehört zum Bereich von Raum und Zeit. Aber diese beiden sind der eine untrennbare Doppelbereich. Ich selbst bin eins ‒ nicht aus zwei Hälften zusammengesetzt. In diesem Bewusstsein zu leben, heißt im Jetzt leben. Nur dann bin ich ‹Ich-Selbst›.»
3.4. Credo (2015): ‹gestorben›, 128f.:
«Meine Generation im Wien jener Zeit wuchs in Todesnähe heran. Über unseren Teenager-Jahren hingen die Gewitterwolken des Zweiten Weltkriegs, und täglich schlugen Blitze ein. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen ist mir meine Jugend als eine Zeit strahlender Lebensfreude in Erinnerung. Bombenangriffe töteten täglich Unzählige; unsere etwas älteren Freunde fielen einer nach dem andern, an der Front; wir selber konnten an keine Zukunft denken. ‒
Dann war der Krieg plötzlich zu Ende, und ich wurde mir bewusst, dass ein Leben vor mir lag. Das kam wie ein Schock.
Da erinnerte ich mich an eine Mahnung aus der Regel des hl. Benedikt ‹Den Tod allzeit vor Augen haben!› und es war mir auf einmal klar: Mit diesem Bewusstsein sind wir ja aufgewachsen!
Zugleich sah ich aber ein, dass wir gerade deshalb so intensiv gelebt hatten. Wir mussten immer im Augenblick leben, und das ist ja der Schlüssel zur Lebensfreude. Es ist auch der springende Punkt im Mönchsleben.
Die Mönche der verschiedensten Religionen ‒ das sollte ich später erfahren ‒ sind sich darin einig dass alles darauf ankommt, im Jetzt zu leben.
Um die Lebensfreude, mit der ich aufgewachsen war, nicht versickern zu lassen, wurde ich schließlich selber Mönch. Und ich muss gestehen ich würde es wieder tun.
Auch das Mahnwort ‹memento mori› ‒ ‹Denk an das Sterben› ‒, das oft auf klösterlichen Sonnenuhren zu lesen ist, zielt auf das Im-Jetzt-leben ab.
Darum findet man nicht selten auch die Version ‹vergiss nicht zu leben!› Dies ist ja gemeint mit dem ‹Vergiss das Sterben nicht›. Also: ‹Carpe diem!› Nütze jeden Augenblick! Ein ‹guter Tod› ist ja die Frucht eines vollen Lebens. Diese Frucht reift mit jedem Atemzug; wenn wir rückhaltlos leben, dürfen hoffen, dass sie mit unserem letzten Atemzug ausgereift sein wird.»
3.5. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 89-91:
«Das Jetzt ist ein ganz geheimnisvolles Geschenk.
Wir meinen, das Jetzt sei diese kleine und kleinste Strecke auf dieser Linie der Zeit, die aus der Vergangenheit kommt und in die Zukunft geht: Links ist die Vergangenheit, die ist nicht, weil sie nicht mehr ist, und rechts ist die Zukunft, die ist noch nicht, also auch nicht.
T.S. Eliot: ‹All is always now› ‒ im Jetzt,
und das ist nicht diese winzig kleine Strecke dazwischen.
Solange es eine Strecke ist, können wir sie in die Hälfte teilen und die eine Hälfte ist nicht, weil sie nicht mehr ist und die andere Hälfte ist nicht, weil sie noch nicht ist, und wenn jemand sagt: ‚Das ist Haarspalterei!‘ Stimmt! Aber solange es ein Haar ist, kann man es spalten. (Gelächter). ‒
Und wir kommen zu der Einsicht, dass das Jetzt gar nicht in der Zeit ist, im Gegenteil: Die Zeit ist im Jetzt.
Wenn wir uns an die Vergangenheit erinnern, sind wir im Jetzt in der Vergangenheit.
Wir können uns nicht an die Vergangenheit erinnern und in der Vergangenheit sein.
Die ganze Vergangenheit ist eingeheimst in das Jetzt.
Und wenn wir an die Zukunft denken, ist sie auch Jetzt und wenn die Zukunft kommt, wird sie Jetzt sein:
‹All is always now› — ‹Alles ist immer Jetzt›.
Und die Zeit ist einfach eine Ausdrucksweise dieses übervollen Jetzt, das uns nicht nur diese eine Gelegenheit geben will, sondern die vielen Gelegenheiten.
E s teilt aus, es schenkt und schenkt und schenkt eine Gelegenheit nach der andern: Das ist das Jetzt.
Das Jetzt ist das Geheimnis, das Jetzt ist auch die Ewigkeit.
Das ist ja die Definition von Ewigkeit in der westlichen Tradition: ‹Nunc stans›, ‹Stehendes Jetzt›: Sehr elegant auf Lateinisch, nur zwei Wörter: nunc heißt jetzt und stans: es bleibt stehen.
Das Jetzt, das nicht vergeht.
Das ist die Ewigkeit, Ewigkeit ist nicht eine lange, lange Zeit.
Dieses Jetzt ist nicht nur das Jetzt des sich Freuens, sondern auch das Jetzt des Ringens, des Sturmes, – nicht nur das Bauen, sondern auch das Ringen ist das Tun.»]
___________________
[1] Credo (2015): ‹Geboren aus Maria der Jungfrau›, 94:
«Die dichterische Vorstellungskraft der frühen Christen sah im Jungfrauenschoß, aus dem der neue Adam geboren wird, ein Spiegelbild der jungfräulichen Erde, aus welcher der alte Adam im Paradies geformt wurde. In beiden Bildern bedeutet Jungfräulichkeit einen taufrischen Neubeginn. So wie ein Skifahrer durch ‹jungfräulichen› Pulverschnee die erste Spur zieht, so bahnt Jesus einen ganz neuen Weg zu Gott. Das ist die entscheidende Aussage dieses Glaubenssatzes.»
[2] Credo (2015): ‹Geboren aus Maria der Jungfrau›, 99f. und 101
[3] Credo (2015): ‹Am dritten Tage auferstanden von den Toten›, 155
[4] Credo (2015): ‹Auferstehung der Toten›, 212
[5] T. S. Eliot: Four quartets: Burnt Norton, V; siehe auch in Ergänzend: 3.3. und in Stillehalten
[6] Rilke im Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz; siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 105f.
[7] Credo (2015): ‹Auferstehung der Toten›, 217-220; siehe auch Seele
[8] Der Ausdruck nunc stans findet sich erstmals bei Thomas von Aquin (1225-1274). Er hat eine lange Vorgeschichte, beginnend mit Platon (428-348 v. Chr.) und weiterführenden Beiträgen von Plotin (205-270), Augustinus (354-430), Boethius (ca. 480-524) und späteren Denkern zum Thema ‹Zeit und Ewigkeit›.
[9] R. M. Rilke, 8. Duineser Elegie
[10] Credo (2015): ‹Das ewige Leben›, 223f.; R. M. Rilke: ‹Heil dem Geist, der uns verbinden mag›,
das vollständige Sonett in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II, 96f.