Film, Audios und Text von Br. David Steindl-Rast OSB
(Film 13:35) Isha Johanna Schury: «Aber was ich bei Dir jetzt heraushöre, ist, dass es unabhängig von dem äußeren Umstand immer mein inneres Jetzt gibt, und das innere Jetzt kann ich jederzeit mit Freude, mit erkennender Freude füllen, indem ich zulasse, zu erkennen, dass ich bereits beschenkt bin, weil ich schon atmen darf, weil meine Augen sehen dürfen, weil meine Ohren hören dürfen, und ich einfach hier sein darf und diesen Moment jetzt erleben darf. Verstehe ich das richtig?»
David Steindl-Rast: «Darum ist es so entscheidend, dass wir innehalten und dann horchen: hinhorchen: Was will jetzt das Leben von mir?
Es gibt mir eine Gabe, immer die Gelegenheit, die das Leben jetzt mir schenkt, ist eine Gabe, aber wie es heißt: In jeder Gabe ist eine Aufgabe enthalten und sehr häufig kommt es vor, dass unsere Ideen, was wir jetzt werden müssen oder sollen oder was wir noch aus uns machen sollen usw.: Das hat sehr wenig damit zu tun, was das Leben von uns will.
Und das ist eine der großen Schwierigkeiten: Nicht seine eigenen Ideen zu haben, sondern hinzuhorchen …
Wenn ich sage: Das Leben ‒ das sind die ganzen Umstände, in denen ich mich jetzt zur Zeit befinde ‒, und dahinter steht natürlich das große Geheimnis des Lebens selber, ist uns ein unauslotbares Geheimnis.
Wenn ich sage ‹Geheimnis, dann meine ich nicht irgendwie so was wie Geheimnistuerei oder etwas Verschwiegenes. Ich meine etwas ganz Konkretes:
Wir sind im Leben immer wieder konfrontiert mit einer Wirklichkeit, die hinter allen anderen Wirklichkeiten steht, eine Wirklichkeit, die wir nicht begreifen können. Wir können sie nicht in den Griff bekommen, aber wir können sie verstehen, wenn wir hinhorchen.
(18:43) Isha Johanna Schury: «Woher weiß ich, welche Stimme gerade auf mich einspricht? Ich will sie unterscheiden, dass ich auch wirklich höre: Welche Stimme ist jetzt das wirkliche Leben und welche Stimme ist vielleicht mein Ego oder mein Brauchen, mein Wollen, meine Angst?»
David Steindl-Rast: «Vielleicht meine Güte und mein Mitleid. Wer heute nicht mit tiefem Mitleid und Schmerz auf die Welt schaut, dem fehlt etwas.
Wenn man wirklich wach ist, musss man heute schon an der Welt leiden, leider.
Aber im gegebenen Augenblick ein gutes Glas Wasser zu haben, was Millionen Menschen fehlt, und einfach jetzt dieses Glas Wasser mit Freude und Genuss zu trinken …
Alle diese Ängste und Schmerzen für die Welt sind im Augenblick nicht wichtig für dich. Was für dich dir das Leben jetzt schenkt, ist dieses Glas Wasser und an dem darfst du dich vollkommen freuen und es genießen.
Darum ist dieses Eine jetzt wichtig und das Andere ist natürlich im großen Bild viel wichtiger, aber für dich jetzt ist etwas wichtig, was dir jetzt das Leben sagt.»
(28:35) Isha Johanna Schury: «Warum haben wir immer so das Gefühl, etwas zu versäumen, Bruder David?
Die Menschen haben immer das Gefühl, sie versäumen etwas und landen nie in ihrem Jetzt, sind immer entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft, und wenn doch Liebe im Leben nur im Jetzt stattfindet, warum versäumen wir dann so gern oder so oft unser Leben?»
David Steindl-Rast: «Es ist wieder die Frage: Können wir im Jetzt wirklich leben, können wir uns Üben, im Jetzt zu leben?
Und wenn wir dankbar leben, wenn wir im Augenblick ‒ in jedem Augenblick idealerweise ‒ hinhorchen, ganz da sind, für das, was das Leben uns zuspricht in diesem Augenblick und es dann versuchen zu tun, der Aufgabe gerecht zu werden: Wenn wir das tun, dann leben wir im Augenblick.
Und im Augenblick hat dieses Gefühl, etwas zu versäumen überhaupt keinen Platz, wird sind ja so beschäftigt mit dem, was wir jetzt tun, dass uns das gar nicht in den Sinn kommt.
Ich verstehe schon, was du damit meinst: immer das Gefühl haben, ich versäume etwas, aber das kommt nur davon, dass wir eben nicht wirklich im Jetzt leben.
Die Übung der Dankbarkeit ‒ Dankbarkeit als ein spiritueller Weg, das ist er ja ‒, auf diesem Weg zu gehen, ist eigentlich ein sehr sicheres Mittel, nicht in diese Angst zu verfallen, etwas zu versäumen.»
(37:05) David Steindl-Rast: «Und wir erleben immer wieder, dass das Leben es besser meint und besser weiß als wir. Das Leben ist weiser als unser kleiner Verstand.»
Isha Johanna Schury: «Ja! Das heißt, wir könnten uns dieses ganze Tamtam schenken mit ‹Finde deinen Lebenssinn, finde dies, finde jenes›: Macht das Sinn? Wahrscheinlich nicht so viel, oder?»
David Steindl-Rast: «Es ist schon eine sehr gute Frage: ‹Wie kann ich meinen Lebenssinn finden›? Und die Antwort ist: ‹Nicht dadurch, dass ich in mir grüble und mir selber Pläne mache ‒ das ist ja ein winziger Teil des ganzen Lebens ‒, sondern ich kann den Sinn meines Lebens dadurch finden, dass ich auf das Leben selber, wie es mir gerade jetzt in diesem Augenblick begegnet, hinhorche und antworte.»
(43:56) Isha Johanna Schury: «Ich hätte dich jetzt gefragt, ob sich aus dir noch etwas mitteilen möchte, abschließend für unser Gespräch, wo du das Gefühl hast, das möchte noch hinaus?»
David Steindl-Rast: «Vielleicht den Gedanken, den Tod allzeit vor Augen zu haben.
Das ist ein Satz aus der Regel des hl. Benedikt, der mich schon, bevor ich Benediktiner geworden bin, sehr berührt hat, und ich habe erkannt ‒ damals war ich so ungefähr 19 oder 20 Jahre, höchstens ‒, dann habe ich erkannt, dass unser ganzes Leben bis dahin dadurch geprägt war, dass wir den Tod allezeit vor Augen hatten. Das war ja mitten im Krieg und unsere Freunde sind immer wieder gefallen an der Front, die Bomben sind gefallen links und rechts, also, wir hatten den Tod allezeit vor Augen.
Und rückblickend, damals habe ich gesehen: ‹Ah, darum waren wir so glücklich!
Darum waren wir so freudig! Weil wir ‒ damals hätte ich das nie so ausdrücken können ‒, weil wir im Jetzt leben mussten.
Wenn man den Tod vor Augen hat, muss man im Jetzt leben.
Warum ich dann Mönch geworden bin und Benediktiner, hat viel damit zu tun, dass ich wirklich den Tod täglich vor Augen halten wollte. Und ich muss sagen, wenn ich auch sonst Vieles besser machen hätte können, aber das ist mir jedenfalls gelungen. Ich bin vollkommen überzeugt, dass es keinen Tag in meinem Leben gegeben hat, an dem ich nicht viele Male den Tod vor Augen hatte.
Und darum muss ich sagen, ich hatte wirklich ein sehr freudiges Leben. Dafür bin ich auch sehr dankbar.»
[Filminterview Was am Ende wirklich zählt (2022); siehe auch Transkription]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 2 Nachmittag:
‹Im Jetzt sein und im Selbst sein ist identisch› (Bruder David)
1.2. Wie uns dankbar leben heil und gesund macht (2011): Audio und Transkription:
(08:50) ‹Und da könnte man es ganz einfach sagen: Spiritualität ist aus der Ganzheit leben. Das ist dann diese Lebendigkeit, die aus der Ganzheit kommt, aus der Verbundenheit mit allen und allem.
Und da muss ich eben wieder auf ein persönliches Erlebnis zurückgreifen, denn wir wollen ja nicht etwas über die Sache sagen, sondern Ihr Erlebnis wecken: Wo haben Sie diese Einheit mit allen erlebt? Wo haben Sie diesen Geist, Lebensatem, diese Lebendigkeit, die alles verbindet, wo haben Sie die erlebt? (S. 3)
(15:02) Worauf es ankommt, ist, wir erleben dieses Einssein mit allem, und zwar mit uns selbst, mit allen und allem und mit dem Grund des Lebens, dem Lebensgrund. Und in diesen Augenblicken sind wir über ‒ da müssen Sie wirklich genau aufpassen, war das auch wirklich so bei mir? ‒, da sind wir irgendwie über die Zeit erhaben.
Es kann ein Augenblick sein, in dem sich so viel ereignet, als ob es Stunden gewesen wären, fast ein Leben lang. Es kann aber auch sein, dass eine ganze Stunde plötzlich vorüber ist, wie wenn es nur ein Augenblick gewesen wäre.
Also die Zeit verschiebt sich in diesen Gipfelerlebnissen, wir sind im Jetzt! Das ist das Entscheidende, wir sind wirklich im Jetzt. Und meistens sind wir nicht im Jetzt. Meistens sind unsere Gedanken 49% schon in der Zukunft und können es nicht erwarten oder fürchten, befürchten, was sich ereignen wird und 49% hängen noch an der Vergangenheit und bedauern, dass wir nicht mehr dort sind, oder beweinen die Umstände, dass wir uns als Opfer ansehen. Wir hängen an der Vergangenheit, wir strecken uns aus in die Zukunft. Und ungefähr 2% sind da für unser Bewusstsein, im Augenblick zu leben, im Jetzt zu leben. Und in diesen Augenblicken der Gipfelerlebnisse ‒ das ist für Maslow auch so bedeutend ‒, sind wir im Jetzt: vollkommen, 100% im Jetzt. Und darum erleben wir diese große Befreiung.
Es ist eine Befreiung von der Zeit. Wir sind jetzt im Jetzt ‒, wir sind wirklich Wir selbst. Nicht unser kleines Ich, sondern unser Selbst. (S. 4f.)
(23:29) In dem Augenblick, wo wir dankbar sind ‒ wieder, erinnern Sie sich an einen Augenblick, in dem Sie wirklich dankbar waren ‒, sind wir im Jetzt. Man kann für die Vergangenheit dankbar sein, man kann für die Zukunft dankbar sein, dankbar sein kann man immer nur im Jetzt.
Sind wir im Jetzt, sind wir Wir selbst. (S. 7)
(27:57) Wie kann man das also jetzt im Alltag auch üben? Wie kann man das praktizieren? Wie können wir es methodisch tun? Und wie können wir uns methodisch immer wieder an die Gelegenheit erinnern, die uns da geboten wird, und diese Gelegenheit verwenden im Jetzt?
Wie können wir immer wieder ins Jetzt kommen? Denn das ist das Ziel jeder spirituellen Übung. (S. 8)
(33:56) Wenn wir im Jetzt leben lernen, und das lernen wir durch die Dankbarkeit: Jedes Mal, wo wir dankbar sind, verschieben wir unser Gewicht vom Ich auf das Selbst. (S. 10)
(35:52) Und wenn wir im Selbst sind und im Jetzt sind, dann sind wir über den Tod erhaben. Dann brauchen wir keine Furcht mehr vor dem Tod haben.
Denn der Tod kommt, wenn meine Zeit um ist, aber das heißt gar nicht, dass mein Selbst davon betroffen wird.
Das Jetzt ist nicht in der Zeit.
Das wird Sie vielleicht überraschen, wenn ich sage, das Jetzt ist nicht in der Zeit. Aber unsere westliche Philosophie hat das schon sehr lange gewusst:
Die Zeit ist im Jetzt!
Wir stellen uns das meistens so vor, dass die Zeit eine lange, lange Linie ist. Auf der einen Seite ist die Vergangenheit, auf der anderen Seite ist die Zukunft. Wo ist jetzt das Jetzt? Es ist der kleine Abschnitt zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Wenn es ein kleiner Abschnitt ist, lade ich Sie dazu ein, diesen kleinen Abschnitt in die Hälfte zu schneiden und die eine Hälfte ist nicht, weil sie nicht mehr ist, und die andere Hälfte ist nicht, weil sie noch nicht ist: Wo ist das Jetzt? Das ist Haarspalten. Gut ‒, solang es ein Haar ist, können wir es spalten.
Wir können es spalten, bis wir finden, dass das Jetzt, das wir erleben, zu unserem Leben gehört, nicht in der Zeit ist: In der Zeit frisst die Vergangenheit nahtlos die Zukunft auf. (S. 10f.)
1.3. Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Vertiefungsseminar:
(00:43) Dankbarkeit, der kürzeste Weg ins Jetzt zu kommen
1.4. Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Peak Experience, mystische Erfahrung, vier Kennzeichen (Mitschrift):
Wir sind JETZT im Augenblick, wir sind völlig gegenwärtig, JETZT im Augenblick
Fragen im anschließenden Gespräch:
Erlösung aus der Verstrickung in der Zeit
1.5. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
2.1. Der Weg zu Fülle und Nichts ‒ Vortrag und Kanon auch als Mitschrift:
(34:19) Chronos: Zeit der Uhren und Kairos: Zeit zum Entschluss, völlig im Jetzt zu sein ‹dieses einzige Mal› (Rilke: Die Neunte Elegie)
1.6. Retreat-Woche in Assisi (1989); siehe auch Erlösende Kraft: Ergänzend: 2.3.:
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen ‒ Ausklang mit Rilke Gedichten und dem Thema Reinkarnation:
(14:48) ‹Wir sind die Treibenden› (Rilke: Die Sonette 1. Teil, XXII): ‹Sich in dieses Ausgeruhtsein einsinken lassen, das ist Gebet. Gebet im Unterschied von den Gebeten, die Mittel zum Zweck sind. Ausgeruhtsein ist die Voraussetzung zum Handeln›
2. Weitere Texte
2.1. Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Text und Anm. 2:
«Beides muss unser Sinnbild der Wirklichkeit ausdrücken können, Bewegung und Ruhe. Da bietet sich das Bild eines Reigens an, der ohne Anfang und Ende in sich ruht, während er sich doch unaufhörlich bewegt. Wir tanzen nicht, um irgendwo anzukommen. Tanzen bezweckt nichts. Es ist zweckfrei, aber sinnvoll. Und doch zielen wir beim Tanzen auf etwas ab: Wir wollen der Musik den bestmöglichen Ausdruck verleihen und perfekt im Schritt sein, jetzt und jetzt und jetzt.»
Dr. Henning Klingen: «Angesprochen auf das Ende aller Dinge, auch auf sein eigenes, benutzt Steindl-Rast gerne das bekannte Bild einer tickenden Uhr. Diese mache allerdings für ihn nicht Tick-Tack, sondern ‹Jetzt-Jetzt-Jetzt-Jetzt.›»
2.2. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 20:
Ein Teilnehmer fragt, welche Formen und Wege es gibt, um ins Schweigen zu kommen und darin zu wachsen. Er erwähnt Zen-Meditation.
Bruder David: «Das Stichwort für dieses ins Schweigen kommen, ist ‹Innehalten›.
Der Grund, warum wir nicht immer schon im Schweigen sind, ist: Wir sind die Eilenden, Wir sind die Treibenden, sagt Rilke (Sonette an Orpheus 1. Teil, XXII):
Wir sind die Treibenden,
Aber den Schritt der Zeit,
nehmt ihn als Kleinigkeit
im immer Bleibenden.[1]
Und das Bleibende ist das Jetzt, das große Jetzt, der Augenblick und wir sind meistens so in der Zeit gefangen, wir hängen noch an der Vergangenheit und weinen, dass sie nicht mehr da ist, oder fühlen uns als Opfer der Vergangenheit, oder wir sind ganz ungeduldig in der Zukunft. Also wir sind in der Zeit gefangen. Das ist wie ein reißender Strom ‒ und ein reißender Strom ist noch ein zu schönes Bild, weil es nicht so organisch ist wie ein reißender Strom ‒, sondern ganz mechanisch: Wir sind in dieser mechanischen Zeit der Schweizer Uhren eingefangen, und im Augenblick des Innehaltens ‒ ein schönes Wort, ‹Innerlichkeit› ist da drin ‒ wird es schon schweigen, wird es schon still. Das werden wir dann gleich ein bisschen üben.»
Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 83-85:
«Zeit hat zwei Aspekte: Einen Positiven und einen Negativen. Der Negative ist, dass wir uns in der Zeit verfangen.
Die meisten von uns müssen zugeben, dass wir oft an der Vergangenheit hängen oder die Vergangenheit bedauern und sehr mit der Vergangenheit beschäftigt sind oder / und zugleich auf die Zukunft schon nicht mehr warten können, und auch mit ihr beschäftigt sind, oder uns vor der Zukunft fürchten, und es bleibt ganz wenig Energie übrig, um im Jetzt zu sein.
Und auf dieses Jetzt kommt wieder alles an. Im Jetzt zu sein, das ist das Entscheidende.
T.S. Eliot, den ich schon mehrmals zitiert habe, sagt:
‹All is always now.› ‒ ‹Alles ist immer Jetzt.›[2]
Das klingt zuerst wie eine Binsenwahrheit, aber es ist eine ganz tiefe Einsicht.
Es ist nur Jetzt.
Wenn wir nicht im Jetzt sind, dann sind wir nicht wirklich da.
Was sich in uns an die Vergangenheit klammert oder auf die Zukunft schon ausrichtet, ist nicht da.
Das heißt nicht, dass man sich nicht erinnern soll. Erinnerung ist etwas Wunderbares:
Im Jetzt kann Erinnerung sein oder Planung, ist etwas ganz Wichtiges, kann auch Jetzt sein.
Aber es muss immer Jetzt sein, denn wenn’s nicht Jetzt ist, war es nur oder wird sein, und das i s t nicht.
Und wir wollen sein!
Nur im Sein, in der Lebendigkeit des Jetzt-Seins begegnen wir dem Geheimnis.
Der negative Aspekt der Zeit ist, dass wir in ihr gefangen sind.
Der positive Aspekt der Zeit ist, dass sie uns immer wieder neue Gelegenheiten schenkt.
Wir können uns hier überhaupt fragen: Warum soll es überhaupt Zeit geben? Warum ist nicht alles Jetzt?
Wenn alles nur Jetzt wäre, gibt es nur diese eine Gelegenheit, und das Leben ist so großzügig, dass es uns, wenn man diese Gelegenheit verpasst, eine neue Gelegenheit gibt.
Und wenn wir diese Gelegenheit beim Schopf ergreifen, führt es zu einer weiteren Gelegenheit. Immer wieder eine neue Gelegenheit, solange wir leben, von Anfang bis Ende eine große Gelegenheit nach der andern.
Und dieses Innewerden bezieht sich letztlich auf die Gelegenheit.
Das Innehalten, damit wir diesen Automatismus der Zeit brechen und wirklich im Jetzt sind. ‒
Das Innewerden bezieht sich auf: die Gelegenheit innewerden.
Wozu ist jetzt, das Jetzt, die Gelegenheit?
Und meistens ist es die Gelegenheit uns zu freuen. Uns einfach an dem Geschenk zu freuen.
Wir können es kaum glauben, das ist 99% der Zeit, einfach jeder Augenblick eine Gelegenheit, uns zu freuen.
Aber wenn wir beginnen innezuhalten, innezuwerden, und dann zu antworten auf die Gelegenheit, die uns geboten wird, wird uns plötzlich b e w u s s t, dass eine Gelegenheit nach der andern eigentlich Gelegenheit ist, uns zu freuen.
Man kann das nur übersehen, weil wir entweder so in der Zeit befangen waren, dass wir gar nicht in der Gegenwart waren, oder weil wir alles so als gegeben hingenommen haben und nicht weiter darüber nachdenken.
Durch das Innehalten wachen wir dann auf und werden wirklich inne, was uns jetzt geschenkt ist.
Im Augenblick nachdenken, innehalten, innewerden: Was wird uns jetzt geschenkt?»
Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 88f., 91:
Eine Teilnehmerin fragt Bruder David:
«Wo ist die Entscheidung in dem Stop ‒ Look ‒ Go?»
Bruder David: «Das Entscheidende ist im Augenblick zu sein. ‒
Und das Stop ‒ Look ‒ Go ist eine Methode ins Jetzt zu kommen.
Wenn wir im Jetzt sind, dann fließt die Entscheidung schon durch uns durch und wir brauchen uns gar nicht mehr kompliziert zu entscheiden.
Wir sind eins im Selbst, im Jetzt, und es fließt durch.
Und wir kennen diese Situation, nicht von außen, sondern von innen.
Wir alle haben diese Situationen erlebt, in denen es sich einfach getan hat.
Und nachher fragt man sich, wie hast du denn das gemacht? —
Keine Ahnung! Es hat sich wie von selbst ergeben.
Es ergibt sich.»
Bruder David bringt das Beispiel eines Feuerwehrmannes, der ein Kind aus den Flammen rettet. Und der Reporter fragt: «Wie war das, diese Entscheidung zu fassen?» «Entscheidung? — Ich hab es schon getan, bevor ich etwas gewusst hatte.»
«… Das ist dieselbe innere Kraft, Lebenskraft, die wir durch uns fließen lassen, wenn wir im Jetzt sind.»
Ein Mann meldet sich: Er kann nicht gut zuhören. … Er strengt sich an …
Bruder David: «Nur immer wieder üben und keine Energie daran verschwenden, sich zu ärgern, weil’s nicht gelungen ist. Die Energie wird schon gebraucht für den nächsten Ausgenblick und die nächste Gelegenheit.
Immer wieder anfangen. Das ist eben das große Geschenk, dass das Leben uns noch eine Gelegenheit und noch eine Gelegenheit gibt.»]
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[1] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Gedichte, 3; siehe auch Arbeit und Schweigen (1989), 296; Orientierung finden (2021), 98, und Audio in Ergänzend: 1.5.
[2] T. S. Eliot: Four quartets: Burnt Norton, V; siehe auch in Stillehalten