Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

hl geist georg stahl titelCopyright © - Thorsten Scheu

Die stille Ekstase der Gregorianischen Gesänge spricht Menschen aller Glaubensrichtungen an. Was übt diese zeitlose Faszination aus? Die Gesänge sprechen auch heute unser Herz an: Sie rufen uns auf, in das Jetzt einzutreten, innezuhalten, zuzuhören und auf die Botschaft des jetzigen Augenblicks zu achten. Sie sprechen den Mönch in jedem von uns an und ebenso unsere Seele, die sich nach Frieden sehnt und nach der Verbindung mit jener letztendlichen Quelle von Sinn und Wert.

Mit Informationen übersättigt, oft jedoch jeglichen Sinnes beraubt, haben wir das Gefühl, in einem endlosen Strudel von Pflichten und Anforderungen gefangen zu sein, gefordert von Dingen, die wir erledigen und in Ordnung bringen müssen. Auch wenn wir uns bange von einer Aktivität in die nächste stürzen, spüren wir dennoch, dass es im Leben mehr geben muss als unsere geschäftlichen Termine. Unbehagen und hektisches Herumjagen sind das Ergebnis unserer verkehrten Zeitempfindung ‒ einer Zeit, die stets abzulaufen scheint.

Die westliche Kultur verstärkt diese irrtümliche Auffassung von Zeit als beschränktem Gut: ständig arbeiten wir auf Termine hin, ständig fehlt uns die Zeit, ständig ist die Zeit abgelaufen.

Die Gesänge hingegen rufen ein anderes Verhältnis zur Zeit wach, in dem Zeit wohl wertvoll, aber nicht knapp ist. Sie beschwören die Urform des klösterlichen Lebens herauf, in welcher die Zeit harmonisch dahinfließt. Die verfügbare Zeit entspricht der vorliegenden Aufgabe. Es ist immer genügend Zeit da für alles, was getan werden muss.

Die reinen, klaren und erhabenen Töne der Gesänge erinnern uns daran, dass es sehr wohl eine andere Art und Weise gibt, in dieser lauten, zerstreuten Welt zu leben, und dass diese nicht so unerreichbar ist, wie es scheint.

Wenn wir uns den Gregorianischen Gesang anhören, werden wir nicht nur der ineinander verwobenen Stimmen der Mönche gewahr, sondern auch eines beinahe unhörbaren Echos, einer zusätzlichen Tiefendimension dieser Musik. Und es ist diese heilige, transzendente Qualität der in einer hohen Kapelle gesungenen melodischen Linien, welche viele am Gregorianischen Gesang so sehr berührt.

Gerade diese Tiefendimension gleicht der Jetzt-Dimension der Zeit. Denn «jetzt» findet nicht innerhalb der chronologischen Zeit statt, sondern transzendiert sie.

Hier kann Zeit nicht als etwas, das knapp wird, begriffen werden, sondern als etwas, das wie Wasser aus einer Quelle steigt und zu jener Fülle der Zeit anschwillt, die jetzt ist.

Genau in die Mitte dieses Lebens im Jetzt holen uns die Gesänge zurück.

Der Gregorianische Gesang regt uns durch seine Harmonie, Ganzheit und Gesundheit dazu an, aus den Vorgegebenheiten und Spannungen des Arbeitstages auszutreten, unser eingefahrenes Selbst loszulassen und uns in unserem wahren Selbst einzufinden.

Der Gesang ist eine Einladung an unsere Seele, den Zynismus hinter uns zu lassen, das innere Geschwätz abzustellen und hinzuhorchen.

Die Stunden sind die «Jahreszeiten» des Tages. Früher wurden sie mystisch verstanden. Frühere Generationen, die nicht von der Uhr beherrscht wurden, verstanden die Stunden persönlich und begegneten ihnen als Boten der Ewigkeit im Fluss der Zeit, der wächst, erblüht und Früchte trägt. Im sich entfaltenden Rhythmus aller Dinge, die auf Erden wachsen und sich verändern, war die Vorgabe jeder Stunde von einer unendlich reicheren und komplexeren Eigenart als unsere sterile Uhrzeit. Man verstand sie als Boten einer anderen Dimension ‒ gleichsam als Engel ‒ die anzeigten, dass jeder Stunde ihre ureigene Bedeutung innewohnte.

Auch heute noch ‒ inmitten unserer vollgepackten Geschäftstermine ‒ können wir feststellen, dass die Zeit vor der Morgendämmerung, die frühen Morgenstunden, der Vormittag und die Mittagszeit eine eigene Qualität haben. Die Zeit mitten am Nachmittag, wenn die Schatten länger werden, hat einen anderen Charakter als die Zeit der Abenddämmerung, wenn wir das Licht einschalten.

So ist eine Gebetszeit denn eher eine unsichtbare Kraft als eine Maßeinheit.

Die Stunden, in denen die Mönche zum Gebet und zum Gesang zusammengerufen werden, sind Engel, denen wir zu bestimmten Zeitpunkten im Laufe des Tages begegnen.

Die Gebetszeiten werden «kanonische» Gebetszeiten (oder Stundengebete) genannt, weil das Wort «Kanon» ursprünglich einen Messstab bezeichnete und weil der Tag nach seinen verschiedenen Stimmungen gemessen wird. «Kanon» kann aber auch Gitter bedeuten, wie ein Spalier, an dem man Reben hochzieht. So können wir uns die Gebetszeiten auch wie einen Rahmen vorstellen, der den klösterlichen Tag und das gesamte mönchische Leben trägt und unterstützt.

Die mönchische Beziehung zur Zeit wird geformt durch die Stunden des Gebetes; dadurch steigert sich unsere Aufmerksamkeit für die feinen Unterschiedlichkeiten im Ablauf des Tages. Und je größer diese Sensibilität wird, desto empfindlicher werden wir für den gegenwärtigen Augenblick.

Die Wechselgesänge jeder Stunde helfen den Mönchen, voll in die flüchtige Dimension des Jetzt einzutreten.

Der Gesang bereitet uns darauf vor, auf den Ruf jeder Stunde zu antworten; denn das wirkliche Leben findet weder in der Uhrzeit noch in der chronologischen Zeit (nach dem Griechischen chronos) statt, sondern in dem, was die Griechen kairos nannten: der Zeit als Gelegenheit oder als Begegnung.

Aus der mönchischen Perspektive ist die Zeit immer eine Reihe von Gelegenheiten, von Begegnungen.

Wir leben im Jetzt, indem wir uns auf den Ruf eines jeden Augenblicks einstimmen, indem wir hören, was jede Stunde und jede Situation von uns verlangt, und indem wir darauf antworten.

Die Gebetszeiten sind noch in einem anderen Sinn mönchische Tagzeiten. Das englische Wort «season» (oder das französische «saison») hat eine lateinische Wurzel, die «säen» bedeutet.

So sind denn die Stunden des Tages die eigentlichen Stationen oder Abschnitte des Tages, zu denen wir in uns, und draußen in der Welt, bestimmte Samen säen. Die Samen, die wir säen, sind die Tugenden, die jeder Stunde eigen sind.

Tun wir einen Schritt aus der bloßen Uhrzeit hinaus, in der wir lediglich reagieren, und gehen stattdessen in die Tageszeit der Stunden ein, indem wir bewusst auf die Botschaft des Engels einer bestimmten Stunde antworten.

Jede Stunde des klösterlichen Tages stellt eine unverwechselbare Aufforderung dar und verlangt daher nach einer einmaligen Antwort.

Dieses wechselseitige Spiel von Botschaft und Antwort findet wiederum ihren symbolischen Ausdruck in der antiphonalen Struktur der Gesänge.

Anrufung und Antwort ist das Wesen dieser Musik. Die Gesänge sind kein Vortrag eines Solisten, sondern die Darbietung eines Chorals. Und die ganze Gemeinde singt, nicht nur einige spezialisierte Sänger. Wichtig ist nicht der Sänger, sondern der Gesang und eine über sich selbst hinausgehende Antwortbereitschaft, die dieser Gesang erfordert.

Die Regel des heiligen Benedikt - das «Spalier» (denn Regel heißt griechisch canon), das Gitterwerk, das 1500 Jahre lang das mönchische Leben getragen hat ‒ erinnert die Mönche daran, dass sie sich jedes Mal, wenn sie singen, in Gegenwart von Engelchören befinden. Und sie singen wie die Engel, von denen man sagt, sie würden einander gegenseitig anrufen und in nie endendem Lobpreis antworten.

So drückt sich auch das spirituelle Leben als Ganzes aus, das wesensgemäß ein Leben der Liebe ist, in der wir Gott und einander zuhören und antworten. Liebe (Agape) ist keine Privatangelegenheit.

In den Gesängen, die nicht so sehr ein akustisches Phänomen als vielmehr eine innere Erfahrung sind, begegnen wir einer Wirklichkeit, die wirklicher ist als das, was wir in unserem geschäftigen Alltagsleben erleben. Weshalb ist das so?

Einer der Gründe für ein Gefühl des Unbehagens in unserem Alltagsleben könnte darin liegen, dass wir entweder über die Vergangenheit grübeln oder uns Sorgen über die Zukunft machen und deshalb nicht im Hier und Jetzt sind, wo unser wirkliches Selbst weilt.

Die Gesänge rufen uns aus der chronologischen Zeit heraus, in der «jetzt» niemals gefunden werden kann, und in das ewige Jetzt hinein, das gar nicht in der Zeit zu finden ist.

Wenn wir uns die Zeit als Linie vorstellen, die von der Zukunft in die Vergangenheit reicht, dann frisst die Vergangenheit die Zukunft ständig und ohne den geringsten Rest auf.

Solange wir uns «jetzt» als eine ganz kurze Zeitstrecke vorstellen, hält uns nichts davon ab, diese Strecke zu halbieren und dann nochmals in zwei zu teilen.

Weil sich die chronologische Zeit immer weiter teilen lässt, gibt es kein «jetzt» auf unseren Uhren, und in der Uhrzeit lässt sich keine «stille Mitte»[1] finden. Es ist ein Gedankenexperiment, das uns klar machen kann, wie wir im Jetzt etwas erfahren, das in der Zeit gar nicht enthalten ist, sondern weit über sie hinausgeht: die Ewigkeit.

Die Ewigkeit ist nicht eine lange, lange Zeit. Sie ist, wie Augustin sagte: «Das Jetzt, das nicht vergeht.»

Wir können die Ewigkeit nicht dadurch erreichen, dass wir einfach in einer chronologischen Reihenfolge vorangehen, und dennoch ist sie uns in jedem Augenblick als geheimnisvolle Fülle der Zeit zugänglich.

Wir werden ab und zu, in den Augenblicken, in denen wir am lebendigsten sind, in unseren Gipfelerlebnissen, in das Mysterium der Zeit aufgenommen.

Von solchen Momenten sagen wir etwa: «Die Zeit stand still» oder: «So viel hatte in einem einzigen winzigen Augenblick Platz» oder: «Stunden vergingen, und es war wie im Nu, wie eine Sekunde.»

Unser Zeitgefühl verändert sich in solchen Momenten der tiefen und intensiven Erfahrung, und dann wissen wir, was Jetzt bedeutet.

Wir fühlen uns in jenem Jetzt, in jener Ewigkeit zu Hause, weil das der einzige Ort ist, wo wir wirklich sind.

Wir können nicht in der Zukunft sein, wir können nicht in der Vergangenheit sein; wir können nur in der Gegenwart sein.

Wir sind nur in dem Maße wirklich, in dem wir im gegenwärtigen Hier und Jetzt leben.

Opus Dei nennen es die Mönche, wenn sie die Stunden des klösterlichen Tages besingen: das Werk Gottes. Wenn wir verliebt sind, ist der Lobpreis des geliebten Geschöpfes, das uns gegenübersteht, keine Mühe. Ebenso wenig sind es die Gesänge der Mönche. Der Gregorianische Gesang ist ein Lobpreis, der von Herzen kommt. Wenn die Gesänge auch manchmal ein Schmerzensschrei oder ein Ausdruck unserer Not sind, so behalten sie dennoch stets die Ober- und Untertöne des Lobpreisens bei. Lobpreisen ist unsere Antwort auf die Herrlichkeit Gottes, darauf, dass Gottes Gegenwart in allem, in jedem Menschen und in jeder Situation erstrahlt. Je liebevoller wir sind, desto öfter sehen wir diese strahlende Herrlichkeit. Je öfter wir sie erstrahlen sehen, desto eher ist Lobpreisen unsere spontane Antwort darauf. Das ist es, wozu der Mensch gemacht ist. Wir sind wesensgemäß diejenigen, die lobsingen. Das ist unser höchstes Ziel.[2]

In der traditionellen christlichen Spiritualität heißt es, dass alles sub specie aeternitatis anzusehen ist, was soviel heißt, wie die Dinge vom Gesichtspunkt der Ewigkeit aus zu betrachten.

Im Alltagsleben sind wir versucht, den Dingen ein subjektives Maß anzulegen, sei es den irdischen Erfolg, das Erreichen unserer Ziele oder die Erfüllung der Erwartungen anderer. Unser Leben hat aber nur dann Tiefe und Sinn, wenn wir es von einer höheren Warte aus betrachten und unsere zeitlichen Ziele am ewigen Jetzt messen. Dieses Jetzt hallt in den Gesängen nach.

Wir wissen, dass es uns nicht wirklich glücklich macht, nur Ziele auf der pragmatischen, materiellen, zeitlichen (und damit auch befristeten) Ebene zu erreichen.

Wenn uns etwas mit einer tiefen und anhaltenden Freude erfüllt, dann bedeutet dies, wirklich zu sein, ganz lebendig und gegenwärtig im Jetzt zu Hause zu sein.

Doch wer kann lange in diesem gesegneten Bereich verweilen? Wir stellen uns gerne vor, die großen spirituellen Meister, die großen Asketen, könnten das. Können sie?

In einer alten Geschichte aus den Anfängen des christlichen Klosterlebens kommt das schön zum Ausdruck: Ein junger Mönch reist zu einem alten, hoch geachteten Mönch weit draußen in der ägyptischen Wüste und berichtet ihm, dass er immer wieder seinen Geistesfrieden verliert. Der junge Mönch sucht eine Anleitung, um seinen inneren Frieden zu bewahren. Zu seinem großen Erstaunen antwortet ihm der alte Mann: «Ich habe dieses Gewand nun siebzig Jahre getragen, und nicht einen einzigen Tag lang habe ich Frieden gefunden.»

Wenn sogar dieser erfahrene Mönch feststellt, dass der Frieden des Augenblicks ständig bedroht ist, was sollen wir dann erst dazu sagen? Was zählt, ist aber nicht, dass dieser Friede ein fester Besitz ist, sondern vielmehr, dass wir nie aufhören, danach zu streben. Vollkommenheit heißt nicht etwas erreichen; Vollkommenheit liegt im unermüdlichen Streben.[3]

Die gregorianischen Gesänge erscheinen vollkommen, auch wenn sie nicht von Berufssängern vorgetragen werden. Es gehört zur Eigentümlichkeit dieser Musik, dass jeder lernen kann, im Choral mitzusingen.

Diese Gesänge sind eine Volkskunst: Ihre Unvollkommenheit gehört zu ihrer Vollkommenheit. Sie haben für alle Arten von Stimmen und Gesangstalenten Platz; im Kloster werden die Gesänge von allen gesungen, die gerade da sind und die den Geist der Gemeinsamkeit teilen. So sind Unvollkommenheiten unvermeidlich, genau wie im Leben. Und gerade darum geht es: Eine bemerkenswert überirdische Schönheit entsteht, wenn ganz normale Leute mit all ihren Unzulänglichkeiten sich diesem Gesang hingeben.

Singen ist ein wesentlicher Bestandteil vieler religiöser Überlieferungen ‒ der buddhistischen, jüdischen, hinduistischen, islamischen und anderer. Das kommt daher, dass an einem gewissen Punkt der religiösen Erfahrung das Herz einfach singen will, das Singen bricht aus ihm heraus.

Obwohl es widersprüchlich scheint, kann man sagen, dass das Wort dann entsteht, wenn das Schweigen seine Fülle gefunden hat.

Wie es im Buch der Weisheit heißt: «Denn während tiefes Schweigen alles umfing und die Nacht in ihrem schnellen Laufe bis zur Mitte vorgerückt war» – als also die Nacht am dunkelsten und tiefsten war –, «da sprang sein allmächtiges Wort vom Himmel her, vom königlichen Thron» (Weish 18,14f.):

In der Weihnacht beginnt das Schweigen zu singen.

Dieses Buch ist eine Reise durch die Stunden des mönchischen Tages. Um die Musik der Stille zu hören und ihre Botschaft zu erlauschen, müssen wir aus der Uhrzeit in den klösterlichen Fluss der Zeit eintreten, der sich in den Horen, den Stunden des Gebetes äußert.

Wir müssen die Gewohnheit zu reagieren aufgeben und lernen, auf das zu antworten, was im Augenblick gegeben ist.

Wenn wir mit dieser inneren Haltung dem Engel jeder Stunde begegnen, dann werden wir offen sein für den Samen, den der Engel uns zu säen aufträgt, und die Tugend, die sich daraus entfaltet, wird in unserem Leben Frucht tragen.

[Musik der Stille (2023): ‹Einführung›, 15-17, 27-32]

[Ergänzend:

1. Audios

1.1. Gregorianische Gesänge, siehe QR Code in Musik der Stille (2023), 32:
Antiphona I: Sancta Maria, sucurre miseris ‒ Psalmus 109 Dixit Dominus; Interpretation: Heinrich Isaac-Ensemble, Karlsuhe; Leitung: Hans-Georg Renner

1.2.Lebendige Spiritualität (2015)
Schweigen:
(57:56) Im Gespräch: Das Geheimnis als Vater und Mutter (Gleichnis vom verlorenen Sohn) – Als tiefes Schweigen (Weihnachtsantiphon, Weish 18,14f.)

1.3. Mit allen Sinnen leben (1993)
Teil 3: ‹Die Rose, welche hier dein äußeres Auge sieht, die hat von Ewigkeit in Gott also geblüht› (Angelus Silesius):
(06:39) ‹Es ist jetzt 12 Uhr›: Das Läuten zum Angelus Gebet ist Anstoß zu einer Betrachtung über den Einbruch der Ewigkeit in der Zeit, in der auch die Katzen nicht fehlen

2. Weitere Auszüge aus : Musik der Stille (2023):

Beginn des Vorworts von Anselm Grün, 1f.:

«Der heilige Benedikt hat den Tag für seine Mönche so geordnet, dass sie siebenmal am Tag das Lob Gottes singen und in den nächtlichen Vigilien das Wort Gottes meditieren. Die frühen Mönche hatten noch ein Gespür für die Heiligkeit der Zeit. Jede Stunde sollte durch ein Gebet geheiligt werden. Heilig ist das, was der Welt entzogen wird, worüber die Welt keine Macht hat.

Durch die Heiligung der Zeit im Stundengebet wird deutlich, dass nicht wir es sind, die über die Zeit verfügen, dass die Zeit viel mehr Gott gehört und dass sie uns geschenkt ist. Jeder Augenblick ist, so verstanden, eine angenehme Zeit, eine Zeit der Gnade.

Jede Stunde hat ihre eigene Qualität. Das wird im Charakter der einzelnen Gebetszeiten deutlich, vor allem in den Hymnen.

Der Benediktiner David Steindl-Rast beschreibt die Gnade, die jede Stunde für uns bereithält. Und er verbindet das Geheimnis der Stunden mit der Musik des gregorianischen Chorals.

Der gregorianische Choral kennt acht verschiedene Töne. In diesen acht Tönen singt er die Psalmen. Wie jede Stunde ihre eigene Qualität hat, so auch jeder Choralton. Jeder Ton eröffnet einen Klangraum, in dem Gott anders erklingt. Jeder Ton eröffnet im Herzen des Singenden einen eigenen Geschmack. Und jeder Ton öffnet auch im Herzen der Sänger Räume, damit alle Bereiche der menschlichen Seele von Gottes Heil durchdrungen werden. Der ganze Mensch soll durch das Singen des Chorals geheilt werden.»

‹Die Tagzeiten›, 23-26; Text vollständig in Sinn und Feier:

«Die Glocke erweckt uns zum Jetzt und fordert uns auf, das zu tun, wofür es Zeit ist, weil es jeden Moment Zeit ist, etwas zu tun, auch wenn es bloß Zeit zum Schlafen ist.

Ein altes Motto lautet: ‹Age quod agis› ‒ ‹Tue, was du tust›.

Freiheit liegt darin, das, was du tust, wirklich zu tun.

Die liebevolle Antwort auf die Aufforderung eines jeden Augenblicks befreit uns aus der Tretmühle der Uhrzeit und öffnet eine Tür ins Jetzt.

Der Gesang lehrt uns noch etwas anderes über das Leben in der Gegenwart. Von einem Pragmatischen Gesichtspunkt aus ist er eine nutzlose Aktivität, er vollbringt nichts. Wir sind derart auf das Nützliche ausgerichtet, dass wir das Sinnvolle vergessen, das unserem Leben Freude, Tiefe und Wert verleiht. Musikhören oder Singen heißt etwas tun, was keinem praktischen Zweck dient. Es ist nur Feiern und Lobpreisen, es heißt nur, die Freude und Schönheit des Lebens, die Herrlichkeit Gottes zu kosten.

Musik sogar mitten in einem ganz zielgerichteten Tag anzuhören, erinnert uns daran, unserer Erfahrung eine andere Dimension hinzuzufügen, die Dimension des Sinnes, die das Ganze der Mühe wert macht.

Sich auf die Gesänge einzulassen, kann eine Art nüchterner Ekstase auslösen. Ekstase heißt wörtlich außerhalb von sich stehen.

Wenn wir singen oder Gesängen zuhören, haben wir Zugang zu jener Dimension, die außerhalb der Zeit ist: dem Jetzt.

Paradoxerweise brechen wir aus der Uhrzeit genau dann aus, wenn wir ganz im Augenblick sind.

Der Augenblick und die Ekstase gehören zusammen: Wenn wir wirklich hier, jetzt, in diesem Augenblick sind, dann sind wir ganz spontan auch ekstatisch.

T. S. Eliot spricht von ‹Musik, so innig gehört, dass sie nicht gehört wird, weil man selbst die Musik ist, solange sie forttönt.›[4]

Und in dieser Erfahrung sieht er einen Aspekt vom ‹Augenblick in und außer der Zeit›.[5]

Wenn wir lernen, die beiden miteinander zu verbinden und in und außer der Zeit zu leben, dann lassen wir aus der Polarität zwischen Zeit und Jetzt, zwischen Augenblick und Ekstase eine schöpferische Spannung entstehen.

Dank dieser inneren Einstellung können wir ein volles und schöpferisches Leben leben.»

‹Die Tagzeiten›, 26f.; siehe auch Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht: Ergänzend: 3.4. und Erlösende Kraft:

«Die Beschäftigung mit dem Gesang entwickelt jene Haltung des Zuhörens und Antwortens in uns, die wir auf jede Handlung im Laufe des Tages übertragen können.

Wenn wir uns nach der Ganzheit und Harmonie sehnen, die entstehen, sobald wir ganz für jeden unserer Augenblicke da sind, so haben wir doch gleichzeitig auch Angst davor.

Wo immer wir den reinen Ruf des Augenblicks erleben und jedes Mal, wenn wir der nackten Wirklichkeit gegenüberstehen, erzittern wir.

Wir haben uns daran gewöhnt, die alltäglichen Düfte der Kompromisse in uns aufzunehmen und uns durchzumogeln ‒ werden wir plötzlich herausgefordert, reinen Sauerstoff einzuatmen, fürchten wir, gleich zu verbrennen.

Deshalb sagte Rilke: ‹Jeder Engel ist schrecklich.›

Und doch, was könnte schöner sein als ein Engel? Überwältigende Schönheit ist nicht hübsch. Eher ist es die Schönheit eines Gewittersturms: Er ist faszinierend und zugleich auch zum Fürchten.

‹Denn das Schöne›, sagt Rilke, ‹ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.›[6]

Wir sehnen uns nach einer Begegnung mit dem Engel. Wir sehnen uns nach einer echten Begegnung mit der Wirklichkeit, und doch fürchten wir uns gleichzeitig davor, genauso wie wir Angst vor der überwältigenden Erfahrung haben, uns zu verlieben. Wir fliehen davor und werden dennoch unwiderstehlich davon angezogen.

T. S. Eliot bemerkt: ‹Die Menschen ertragen nicht sehr viel Wirklichkeit.›[7]

Warum haben wir Angst, im Jetzt zu leben? Wir fürchten uns, wirklich zu werden, genau wie die Spielsachen im Kinderbuch ‹Der Plüschhase›. Sie wollen alle wirklich werden ‒ das ist der größte Traum der Spielsachen, Zugleich fürchten sie sich davor, und deshalb fragen sie ein erfahreneres Spielzeug: ‹Tut Wirklichwerden weh?› Das ist dieselbe Angst, die wir haben. Tut die Begegnung mit der Wirklichkeit weh? Das alte Spielzeug gibt weise zur Antwort: ‹Wenn du wirklich bist, macht es dir nichts aus, dass es weh tut.›»

Vigil ‒ NACHTWACHE›, 36-39:

«DIE VIGIL IST DER SCHOSS der Stille und die längste Stunde. Der Gang zum Oratorium noch vor der Morgendämmerung unter dem Sternenhimmel, wenn die Mönche sich zur Vigil einfinden, erfüllt uns mit Ehrfurcht und ist ein geeigneter Beginn des klösterlichen Tages.

Die Vigil lädt dazu ein, sich der Nacht hinzugeben und trotz der großen Furcht, die sie einflößen kann, auf die Dunkelheit zu vertrauen. Es gilt zu lernen, dem Mysterium mit jenem Mut entgegenzutreten, der lebendig macht. Dann entdecken wir, was im Prolog zum Johannesevangelium mit dem geheimnisvollen Wort ausgesprochen wird: ‹Das Licht leuchtet in der Finsternis›. Das heißt nicht, dass das Licht in die Finsternis hineinleuchtet, wie etwa der Strahl einer Taschenlampe in ein dunkles Zelt. Nein, das Erfreuliche an der Botschaft des Johannesevangeliums ist, dass das Licht mitten in der Finsternis leuchtet. Das ist eine große Offenbarung; die Finsternis selbst leuchtet.

Deswegen singt der Psalmist: ‹Zur Finsternis will ich sprechen: Sei mein Licht!› Die Finsternis selbst als Licht zu erkennen, kann sehr tröstlich sein. Wenn Finsternis in uns herrscht, dann rufen wir mit dem Propheten aus: ‹Wächter, ist die Nacht bald hin?› Wann wird es endlich Tag?

Die Herausforderung besteht darin, tief genug zu schauen, um zu erkennen, dass diese Finsternis alles ist, was wir brauchen, und in ihr finden, was wir suchen. Wenn wir uns in den Gregorianischen Gesang vertiefen, dann hören wir Klang gewordene Finsternis, eine Finsternis, die leuchtet.

Der Nachtwind ist die natürliche Stimme der Vigil. Der Wind ist ein Symbol für Geist, den spiritus, ein Wort, das auch ‹Atem› und ‹atmen› bedeutet. Der Heilige Geist oder spiritus sanctus ist jener Lebensatem, der in der Finsternis weht. Der Gesang ist hörbar gewordener Geist. Er ist ein Symbol für den Wind, der im Geist weht, und wir wissen nicht, von woher er kommt und wohin er fährt. Er ist voller Überraschung und ganz und gar schöpferisch.

Um in diesem Choral mitzusingen, lernt man als Mönch, richtig zu atmen. Wer bewusst atmet, lernt, in seiner Mitte und dort gegenwärtig zu sein, wo er sich gerade befindet.

In einem seiner Gedichte spricht Robert Frost scherzhaft vom Wind, der nicht wusste, wie er blasen sollte, bis wir Menschen ihn in uns aufnahmen und ihm Stimme verliehen. Gesang – wie Poesie – ist der Wind, wie er sein sollte: ‹Der Zweck war Gesang›.[8]

Wir alle haben mit dunklen Zeiten zu kämpfen, wie Jakob, der nachts mit der göttlichen Gegenwart in Form eines dunklen Engels rang, der so verführerisch schön und doch so beängstigend war. Am Ende der Nacht sagt der Engel: ‹Lass’ mich los›. Jakob aber antwortet: ‹Ich lasse dich nicht, bis du mich gesegnet hast›. Als die Dämmerung anbrach, segnete ihn der Engel, aber er verletzte ihn auch, indem er ihn am Hüftgelenk berührte. Von jenem Tag an hinkte Jakob. Es gibt diese geheimnisvolle Verletztheit, die mit einem großen Segen einhergeht.[9]

Wenn wir der Nacht wirklich in ihrer ganzen Schönheit und ihrem ganzen Schrecken entgegentreten, dann haben wir keinerlei Zusicherung, dass wir unversehrt davonkommen. Gehst du aber verletzt daraus hervor, kann dies auch ein Zeichen des Segens sein, den du dort empfangen hast.

DIE STUNDE DER VIGIL ist auch ein Zeichen für das Erwachen, das wir inmitten unseres Lebens vollbringen sollen. Die Welt, in der wir leben, ist in der Tat eine umnachtete Welt. Das Wachen in der Nacht, das Warten auf Licht, ist eine Wachsamkeit, die uns eindringlich darauf hinweist, den Tag hindurch aus der Welt des Schlafs in eine andere Wirklichkeit zu erwachen.»

‹Laudes ‒ TAGESANBRUCH›, 50f., 57-58:

«Die Musik schwingt sich empor: Es ist ein Gesang der Freude und ein Gesang der Dankbarkeit. Diese festliche Stimmung der Dankbarkeit und Freude zieht sich den ganzen Tag durch die Gesänge hindurch, sogar dann, wenn sie gemessener und zurückhaltender werden. Welche Gesänge wir uns auch anhören, es ist ein Widerhall dieser tiefen Freude darin zu hören, weil Freude selbst mitten im Leiden und mitten im Schmerz angebracht ist.

Freude ist jene Art von Glück, das nicht davon abhängt, was uns zustößt. Meist sind wir glücklich, wenn uns etwas glückt und unglücklich, wenn es uns missglückt. Wissen wir aber wirklich, was gut für uns ist? Was erlaubt uns, so wählerisch zu sein? Wahre Freude finden wir erst, wenn wir uns aus ganzem Herzen auf die Gelegenheit einlassen, die uns gerade jetzt geschenkt ist. Nur in dieser Hingabe finden wir wahre Freude und beständiges Glück, unabhängig davon, was sonst geschieht.»

«Die Gregorianischen Gesänge sprechen das Kind in uns an, weil sie die reine Freude am Lebendigsein ausdrücken. Die Freude äußert sich im Lobpreis Gottes und durchzieht sogar die klagenden Melodien der Gesänge. Freude ist etwas, das wir pflegen können: wenn wir erst einmal diese dankbare Freude in den Gesängen hören und ihre Schönheit unser Herz ergreift, dann können wir auf leichte und natürliche Weise anfangen, Dankbarkeit zu üben.»

«Die schlanken melodischen Linien des Gregorianischen Chorals in ihrer Einfachheit und überirdischen Schönheit wecken unsere volle Aufmerksamkeit. Sie entspringen einer tiefen Stille, und haben die Kraft, uns selbst still werden zu lassen, wenn wir sie nicht nur mit den Ohren aufnehmen, sondern mit dem Herzen. Diese Musik stumpft niemals unser Gehör ab, sondern verfeinert es. Ihre ‹asketische› Schönheit und ihre lautere Sinnlichkeit vermitteln den Hörenden mühelos Sammlung und jene besondere Lebenshaltung, die daraus entspringt.»

‹Prim ‒ BEWUSSTER BEGINN, 72-75; siehe Stop ‒ Look ‒ Go: Ergänzend: 1.:

«Wenn der Dirigent den Taktstock hebt, verharrt das ganze Orchester einen Augenblick in Stille ‒ danach erst setzt es mit dem ersten Abschlag des Taktstocks ein. Würde der Dirigent einfach aufs Podium steigen und unverzüglich damit beginnen, den Taktstock zu schwingen, könnte nie Musik daraus entstehen, sondern lediglich ein klanglicher Wirrwarr. Dieser Augenblick der Stille, bevor die Musik anhebt, ist auch beim Singen unerlässlich.»

«Man singt ja gemeinsam mit anderen, und gerade deshalb ist der Gesang so schön. Es ist nicht nur eine Stimme, die singt, sondern da singt eine Gemeinschaft. Und die Gemeinschaft singt nicht einfach nur, sondern sie singt ganz bewusst mit der gesamten Schöpfung, mit den Vögeln, den Bäumen, dem Wasser und den Engeln, mit der sichtbaren und der unsichtbaren Kreatur.»

«Solange wir unsere Arbeit aus Liebe tun für diejenigen, die uns etwas bedeuten, macht sie Sinn. Die Liebe ist der beste Grund für unsere Mühsal. Liebe verwandelt alles, was wir tun und erleiden, zu einer Musik, die sich erhebt und weit hinaufschwingt wie ein Lobgesang.»

Terz ‒ SEGEN, 88f.:

«Unser Unbehagen in der Welt, die wir uns geschaffen haben, spricht von unserer Sehnsucht, am Strom der Gnaden teilzuhaben, Gottes Geist in einer wahren Begeisterung zu erleben und zu spüren, dass Lebensfreude mehr ist als ein flüchtiges Gefühl. Der Gregorianische Gesang ist die Musik, die unsere Verbindung zum Ganzen ausdrückt. Er sagt uns, dass wir letztlich nicht verwaist und entfremdet sind. Der Geist des Universums belebt unseren Leib und fließt als Gesang aus unserem Mund»

Sext ‒ INBRUNST UND HINGABE, 94f.,100, 102f.; siehe auch Besinnung:

«Am Mittag läutet es zum Angelus. Die Glocken läuten, wenn der Tag seinen Höhepunkt erreicht hat, und zu diesem Zeitpunkt beten wir den Angelus. Dieses Gebet ist nach den ersten Worten der Verkündigung im Lukas-Evangelium benannt ‹Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft und sie empfing vom Heiligen Geist.› In dem Bild der Gottesmutterschaft Marias feiern wir den Einbruch der Ewigkeit in die Zeit. Und genau das verkündigt eigentlich jeder Engel: dass das Ewige jetzt in unsere Zeit einbricht.»

«DIE SEXT IST mit der Stille und dem Frieden des Mittags verbunden, aber sie lenkt den Blick auch auf Krisen und Gefahr.»

«Der Mittagsteufel ist die Stimme der Negativität, der Verzweiflung und der Depression. Sein Gegenspieler, der ihm entgegengesetzte Engel, ist die Freude. Das Gegenteil von Freude ist nicht die Traurigkeit, sondern die Faulheit, welche die Mühe scheut, auf den geschenkten Augenblick voll und ganz zu antworten, und die Trübsinnigkeit, die daraus entspringt.

Die Gregorianischen Gesänge erinnern uns daran, dass Leid ‒ etwa Kummer über einen Schicksalsschlag, den Tod eines Kindes, das Ende einer Freundschaft, große Enttäuschung – mit Freude doch letztlich vereinbar ist. Sie können inmitten der Freude tieftraurig klingen, niemals aber trübsinnig. In vielen Gesängen ertönen Psalmen, die alle Wechselfälle des Lebens umfassen. Trotzdem schleicht sich nie Verzagtheit ein, weil diese Musik im tiefsten Glauben wurzelt.»

Non ‒ DIE SCHATTEN WERDEN LÄNGER, 107:

«Früher am Tag schwangen Kraft und Begeisterung mit, doch mit der Non begegnen wir der Wirklichkeit, dass im Menschenleben nichts für immer währt. Wie gehen wir mit der Tatsache um, dass wir etwas nicht ewig behalten können? Wie gehen wir mit der unausweichlichen Unbeständigkeit des Lebens um? Genau das ist die Frage dieser Stunde.

Die Gesänge verkörpern sowohl die Vergänglichkeit als auch Dauerhaftigkeit. Keine Note klingt länger an als etwa eine Sekunde. Die Gesänge sind Bewegung und Veränderung. Dennoch vermitteln die ununterbrochenen Gesänge durch alle rhythmischen und melodischen Wechsel hindurch eine Qualität von Dauerhaftigkeit und Zeitlosigkeit.»

Vesper ‒ DAS LICHTERANZÜNDEN, 122f.; siehe auch Erlösende Kraft: 3.2.:

«Schon das Anhören des Gregorianischen Gesangs wirkt versöhnlich. Auch andere Musik kann uns besänftigen und uns verwandeln. Diese Gesänge aber, die Klang gewordenes Gebet sind, wirken mit einer ganz besonderen Kraft auf uns. Wir sind nie frei von Konflikten oder Widersprüchen, aber gemeinsames Beten und Singen heilt und versöhnt.

Wenn wir tagein, tagaus in den acht Gebetszeiten in der Gemeinschaft singen, dann sinkt die rhythmische Ruhe der Gesänge tief in unsere Seele. Wir tragen sie dann in uns, wohin wir auch gehen. Diese Stille ist unsere innere Klausur. Und es mag wohl sein, dass diejenigen, die ein Einsiedlerleben in der Abgeschiedenheit wählen, das nur tun können, weil sie vorher jahrelang in Gemeinschaft gebetet und gesungen haben. Sogar wer diese Gesänge zu Hause hört, wird ihren mönchischen Geist tief in sich aufnehmen und ihre heilige Ruhe zu einer wesentlichen Dimension seines Innenlebens machen können.»

«Wir rücken näher zusammen, wenn es dunkel wird. Die Stunde der Vesper ist ein Aufruf zur Nachbarlichkeit. Diese dunkle Stunde der Weltgeschichte lädt uns ein, unsere Nachbarn näher kennenzulernen und mit ihnen gemeinsam zu arbeiten und zu feiern. Wenn das Gemeinschaftsbewusstsein, das den Gregorianischen Gesang prägt, zu einem stärkeren Füreinandersorgen führt, dann kann das ein großes Geschenk der Mönche an die Welt sein.»

Komplet ‒ DER KREIS SCHLIESST SICH, 132f.:

«In Rilkes Stunden-Buch heißt es in einem Gedicht von geheimnisvoller Schönheit: ‹Ich komme aus meinen Schwingen heim, mit denen ich mich verlor.› Die Aktivität hat mich verschluckt, ich war besessen von Bewegung und Tun, und jetzt trete ich hinaus aus meinen Schwingen, um still zu sein.

Ich war Gesang, und Gott, der Reim,
rauscht noch in meinem Ohr.
Ich werde wieder still und schlicht,
und meine Stimme steht;
es senkte sich mein Angesicht
zu besserem Gebet.
[10]

Er nennt dieses Gebet der Stille ‹ein besseres Gebet›, zumindest besser für diese Stunde. Die Komplet ist die Stunde, in der wir die Rückkehr der Gesänge, der Worte in die Stille feiern, aus der sie kommen.»

Das grosse Schweigen ‒ die MATRIX DER Zeit, 142f., entlässt uns am Schluss wieder in den Alltag; siehe auch Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 3.4.:

«Wir haben nun alle mönchischen Tageszeiten durchlaufen, den Kreis geschlossen und sind im großen Schweigen angelangt, der Brücke der Stille zwischen Komplet und Vigil, die erneut den Kreislauf der Stunden eröffnet. …

Die Botschaft der Stunden lädt uns ein, täglich nach dem wirklichen Tagesrhythmus zu leben. Aufmerksam, bewusst und absichtsvoll zu leben, unser Leben von innen heraus zu lenken und uns nicht von den Forderungen der Uhr oder äußeren Terminen oder von bloßen Reaktionen auf irgendwelche Geschehnisse fortreißen zu lassen.

Wenn wir dem wirklichen Rhythmus zufolge leben, werden wir selbst wirklicher.

Wir lernen, auf die Musik dieses Augenblicks zu lauschen, lernen, ihr süßes Flehen und ihre nüchternen Anweisungen zu hören.

Wir lernen, im Herzen ein wenig zu tanzen, unsere inneren Pforten einen Spalt weiter zu öffnen und auf die Musik der Stille, den göttlichen Herzschlag des Universums, zu horchen.»]

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[1] R. M. Rilke: ‹Mitte des Immer, drin du atmest und ahnst› (Elegie an Marina Zwetajewa-Efron)

[2] Im Retreat-Woche in Assisi (1989) weist Bruder David bereits zu Beginn im Audio ‹Stärke unseren Glauben› (Lk 17,5) auf den wunden Punkt der Verkündigung hin: Die Trennung von Glauben und Loben.

[3] In Zeit der grossen Glocken:

«In dem Augenblick, wo wir unsere Zeit loslassen, haben wir alle Zeit der Welt.

Wir sind jenseits der Zeit, weil wir in der Gegenwart sind, im Jetzt, das Zeit überwindet.

Das Jetzt ist nicht in der Zeit. Jetzt geht über Zeit hinaus.

Nur wir Menschen wissen, was ‹jetzt› bedeutet, weil wir ‹existieren›, ‒ weil wir aus der Zeit ‹herausragen›. Das ist ja die Bedeutung von Existenz. Und all diese klösterlichen Glocken wollen uns einfach erinnern: Jetzt! ‒ und sonst nichts.

Freilich können wir nicht behaupten, dass es uns schon gelungen sei. Um nochmals Eliot zu zitieren:

‹For most of us, this ist the aim
Never here to be realised;
Who are only undefeated
Because we have gone on trying.›

‹For us, there is only the trying. The rest ist not our business.›

‹Das Ziel hienieden
Den meisten von uns unerreichbar,
Wir, die nur unbesiegt bleiben,
Weil wir es stets aufs Neue versuchten.›

‹Für uns gilt nur der Versuch. Der Rest ist nicht unsere Sache.›»

T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V und East Coker, V

[4] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V, in der Übertragung von Norbert Hummelt [Suhrkamp Verlag 2015, 60f.]; siehe auch Mystische Erfahrung: Anm. 1 und Stillehalten:

‹For most of us, there is only the unattended
Moment, the moment in and out of time,
The distraction fit, lost in a shaft of
                                            sunlight,
The wild thyme unseen, or the winter lightning
Or the waterfall, or music heard so deeply
That it is not heard at all, but your are the music
While the music lasts.›

‹Für die meisten von uns gibt es bloß den unbeachteten
Augenblick, in der Zeit und außerhalb der Zeit,
Einen Anfall von Zerstreuung, verirrt in einem Schacht aus
                                               Sonnenlicht,
Den wilden Thymian ungesehen, das Wintergewitter
Oder den Wasserfall, oder Musik, so tief gehört
Daß sie unhörbar wird, und Sie selbst die Musik sind
Solange sie währt.›

[5] Siehe Anm. 4

[6] R. M. Rilke: Erste Duineser Elegie

[7] T. S. Eliot: Four Quartets, Burnt Norton, I; siehe auch Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht: Ergänzend: 3.3. und Erlösende Kraft: Ergänzend: 3.1.:

‹Go, go go, said the bird: human kind
Cannot bear much reality.

Time past and time future
What might have been and what has been
Point to one end, which ist always present.›

[8] Robert Frost: ‹The aim was song›

[9] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II, 94f.:

«Das ist unser Wachstum eigentlich, nicht Siege, sondern vom immer Größeren besiegt zu sein.»

[10] R. M Rilke: ‹Ich komme aus meinen Schwingen heim› (Das Stunden-Buch)



Quellenangaben

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