Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

hl geist georg stahl titelCopyright © - Barbara Krähmer

Wenn ich mich an die spirituellen Giganten erinnere, die zu treffen ich die Ehre hatte ‒ Mutter Teresa, Thomas Merton, Dorothy Day, S.H. der Dalai Lama ‒ kann ich noch immer die kraftvolle Energie spüren, die sie ausstrahlten.

Aber woher hatten sie diese Vitalität?

In dieser Welt gibt es keinen Mangel an Überraschungen, aber solch eine strahlende Lebendigkeit ist selten.

Mir ist aufgefallen, dass all diese Leute von tiefer Dankbarkeit waren, und so habe ich das Geheimnis verstanden.

Eine Überraschung macht uns nicht automatisch lebendig, Lebendigkeit ist eine Sache von Geben-und-Nehmen, von Erwiderung.

Wenn wir zulassen, dass die Überraschung uns lediglich stört, dann wird sie uns betäuben und unser Wachstum hemmen.

Jede Überraschung ist eine Herausforderung, dem Leben zu vertrauen und so zu wachsen.

Überraschung ist ein Samen.

Dankbarkeit sprießt, wenn wir uns dem Aufruf der Überraschung stellen.

Die Großen auf dem Gebiet des Geistes sind so sehr lebendig, weil sie von so tiefer Dankbarkeit sind.

Dankbarkeit kann durch Übung vertieft werden. Aber wo sollen Anfänger beginnen?

Der naheliegende Ausgangspunkt ist Überraschung.

Du wirst merken, dass du die Samen der Dankbarkeit wachsen lassen kannst, nur indem du ihnen Raum gibst.

Wenn Überraschung passiert, weil etwas Unerwartetes auftaucht, lasst uns nichts erwarten.

Lasst uns Alice Walkers Rat befolgen:

«Erwarte nichts. Lebe einfach von der Überraschung.»

Nichts zu erwarten, das kann bedeuten, dass du nicht für selbstverständlich nimmst, dass dein Auto startet, wenn du den Schlüssel drehst.

Versuche das, und du wirst überrascht sein von einem Technikwunder, das aufrichtige Dankbarkeit verdient.

Oder vielleicht bist du von deiner Arbeit nicht gerade begeistert, aber wenn du für einen Moment aufhören kannst, sie für selbstverständlich zu nehmen, dann wirst du die Überraschung spüren, überhaupt eine Arbeit zu haben, während Millionen andere arbeitslos sind.

Wenn dich das einen Funken Dankbarkeit spüren lässt, wirst du den ganzen Tag über ein kleines bisschen freudiger, ein kleines bisschen lebendiger sein.

Wenn wir aufhören, alles für selbstverständlich zu nehmen, werden unsere eigenen Körper zu den größten Überraschungen überhaupt.

Es erstaunt mich immer wieder, dass mein Körper in jeder Sekunde zugleich 15 Millionen rote Blutkörperchen produziert und zerstört, 15 Millionen! Das ist fast zweimal die Einwohnerzahl von New York City.

Mir wurde gesagt, dass die Blutgefäße in meinem Körper, hintereinander aufgereiht, um die ganze Welt reichen würden. Trotzdem benötigt mein Herz nur eine Minute, um mein Blut durch dieses filigrane Netzwerk und wieder zurück zu pumpen. So hat es das in den vergangenen 75 Jahren Minute für Minute, Tag für Tag getan, und es pumpt immer noch alle 24 Stunden 100.000 Herzschläge. Für mich geht es dabei um Leben und Tod, dennoch habe ich keine Ahnung davon, wie das funktioniert und es scheint trotz meiner Ahnungslosigkeit erstaunlich gut zu funktionieren.[1]

Solange wir unserer Wege gehen und die Dinge als selbstverständlich hinnehmen, werden wir das Licht nie sehen; die Wirklichkeit bleibt undurchlässig wie die Klosterfenster, bevor die Sonnenstrahlen sie zu Wänden aus Licht machen.

In dem Maß, in dem wir Überraschungen in unser Leben hereinfließen lassen, wird unser ganzes Leben lichtdurchlässig.

Überraschung ist noch nicht Dankbarkeit, aber mit ein bisschen gutem Willen wächst sie von ganz allein zu Dankbarkeit heran.[2]

Es hilft, täglich wenigstens eine Überraschung wahrzunehmen, irgend etwas, was überraschend und unvorhergesehen ist.

Vielleicht ist es das Wetter, vielleicht ein Anblick, auf den wir aufmerksam werden.

Es kann ein angenehmes oder ein unangenehmes Ereignis sein. Wenn wir unser Herz öffnen, um etwas Überraschendes hineinzulassen, wird es uns immer klarer, wie viele Überraschungen jeder Tag enthält, und mit der Zeit erkennen wir, dass wir in einem Universum leben, das irgendwie zu uns spricht. Wenn wir das erst einmal erkannt haben, hören wir ganz selbstverständlich hin, weil wir die Botschaft hören wollen.[3]

Ein Regenbogen ist immer eine Überraschung.

Das soll nicht heißen, dass man ihn nicht voraussagen könnte. Manchmal bedeutet überraschend unvorhersagbar, häufig aber bedeutet es mehr.

Überraschend im umfassenden Sinn bedeutet irgendwie grundlos, geschenkt, gratis.

Selbst das Vorhersagbare wird zur Überraschung, wenn wir aufhören, es für selbstverständlich zu halten.

Wüssten wir genug, dann wäre alles vorhersagbar, und doch bliebe alles grundlos.

Wüssten wir, wie das gesamte Universum funktioniert, dann wäre es immer noch überraschend, dass es das Universum überhaupt gibt. Mag es auch vorhersagbar sein, so ist es doch umso überraschender.

Unsere Augen öffnen sich diesem Überraschungscharakter unserer Welt im gleichen Moment, da wir aufwachen und aufhören, alles als selbstverständlich zu erachten. Regenbogen haben etwas an sich, das uns aufwachen lässt.

Es kommt vor, dass ein uns völlig Unbekannter uns am Ärmel zieht und zum Himmel zeigt:

«Haben Sie den Regenbogen bemerkt?»

Gelangweilte und langweilige Erwachsene werden zu erregten Kindern. Vielleicht verstehen wir nicht einmal, was uns da aufscheuchte, als wir jenen Regenbogen sahen.

Was war es? Es war das Geschenkhafte, das da in uns hereinplatzte, die Unentgeltlichkeit aller Dinge.

Wenn so etwas geschieht, dann ist unsere spontane Reaktion Überraschung. Plato erkannte jene Überraschung als den Anfang aller Philosophie. Sie ist auch der Beginn von Dankbarkeit.

Eine kurze Begegnung mit dem Tod kann jene Überraschung auslösen.

In meinem Leben kam das sehr früh zustande. Da ich im von den Nazis besetzten Österreich aufwuchs, gehörten Luftangriffe zu meiner täglichen Erfahrung. Und ein Luftangriff kann einem die Augen öffnen.

Ich erinnere mich an einen Tag, als die Bomben zu fallen begannen, unmittelbar nachdem die Warnsirenen abgeschaltet waren. Ich befand mich auf der Straße. Da es mir nicht gelang, schnell genug einen Luftschutzbunker zu erreichen, rannte ich in eine nur ein paar Schritte entfernte Kirche. Um mich vor Glassplittern und Trümmern zu schützen, kroch ich unter eine Kirchenbank und verbarg mein Gesicht in den Händen. Als aber die Bomben draußen explodierten und der Boden unter mir erzitterte, da war ich sicher, dass das gewölbte Dach jeden Moment einstürzen und mich lebendig begraben würde. Nun, meine Zeit war noch nicht gekommen.

Ein gleichbleibender Ton der Sirene verkündete, dass die Gefahr vorüber sei. Und da stand ich nun, reckte mich, klopfte den Staub aus meiner Kleidung und trat heraus in einen herrlichen Maimorgen.

Ich lebte. Welch eine Überraschung!

Die Gebäude, die ich vor weniger als einer Stunde noch gesehen hatte, waren jetzt rauchende Schuttberge.

Was mich aber auf überwältigende Art und Weise überraschte, war, dass es dort überhaupt noch irgendetwas gab.

Meine Augen fielen auf wenige Quadratmeter Rasen inmitten all dieser Zerstörung.

Es war als hätte mir ein Freund auf seiner Handfläche einen Smaragd angeboten.

Niemals, weder vorher noch nachher, habe ich Gras so überraschend grün gesehen.[4]

Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, dann haben sich alle Schicksalsschläge und alles Arge, was mir widerfahren ist, immer als die Quelle einer guten Entwicklung herausgestellt.

Wir vergessen das nur allzu oft.

Und manchmal muss man auch lange warten, um es zu erkennen. So ist aber das Leben ‒ alles Schwere und alle Schläge wenden sich letztlich doch zu unserem Besten.

Rückblickend können wir das sehen. Und wenn wir uns üben, dann können wir daraus auch Vertrauen schöpfen im Voraus. Wir vertrauen uns dann dem Leben an. Wir sind offen für die Überraschungen, die uns das Leben schenkt.

Das alles entspringt aus der Dankbarkeit.[5]

Unser Herz sehnt sich nach der Überraschung, dass ein Geschenk auch wirklich ein Geschenk ist. Unser stolzer Intellekt aber stutzt bei einer Überraschung und will sie erklären, hinwegerklären.

Der Intellekt allein bringt uns nur ein Stück weit. Er hat einen Anteil an Dankbarkeit, aber eben nur einen Anteil.

Unser Intellekt sollte wach genug sein, die vorhersagbare Hülle der Dinge bis zu ihrem Kern zu durchschauen, um dort ein Körnchen Überraschung vorzufinden.

Das allein ist eine anspruchsvolle Aufgabe.

Aber Aufrichtigkeit verlangt ebenso, dass der Intellekt genügend demütig sei, das heißt genügend bodenständig, um seine Grenzen zu kennen.

Der Geschenkcharakter aller Dinge kann erkannt, nicht aber bewiesen werden ‒ zumindest nicht durch den Intellekt. Beweise finden sich im Leben. Und am Leben ist mehr, als der Intellekt zu fassen vermag.

Auch unser Wille muss seine Rolle übernehmen. Auch er gehört zur ganzen Fülle von Dankbarkeit. Es ist die Aufgabe des Intellekts, etwas als Geschenk zu erkennen, der Wille aber muss den Geschenkcharakter anerkennen. Erkennen und anerkennen sind zwei verschiedene Aufgaben.[6]

Es spielt keine Rolle, wie taub oder intellektuell verfangen wir sind, Überraschung ist immer nahe.

Selbst wenn in unserem Leben außerordentliche Überraschungen selten sind, das ganz Normale möchte uns immer wieder aufs Neue überraschen.

Wie ein Freund mir eines Wintermorgens aus Minnesota schrieb: «Ich war vor Sonnenaufgang auf den Beinen und beobachtete Gott dabei, wie er alle Bäume weiß anmalte. Den Großteil seiner besten Arbeit tut Er, während wir schlafen, um uns beim Aufstehen zu überraschen.»

Es ist ebenso wie bei der Überraschung, die wir in unserem Regenbogen fanden.

Wir können lernen, unseren Sinn für Überraschungen nicht nur durch das Außergewöhnliche anklingen zu lassen, sondern vor allem durch einen frischen Blick für das ganz Alltägliche.

«Natur ist niemals verbraucht», sagt Gerard Manley Hopkins und preist Gottes Größe.

«Ganz tief in den Dingen lebt die köstlichste Frische.»

Die Überraschung des Unerwarteten vergeht, aber die Überraschung über jene Frische vergeht niemals.

Bei einem Regenbogen ist das offensichtlich.

Weniger offensichtlich ist die Überraschung jener Frische in den allergewöhnlichsten Dingen. Wir können lernen, sie so klar zu sehen, wie wir den puderartigen Reif auf frischen Blaubeeren sehen können, «ein Schleier aus dem Atem eines Windes», wie Robert Frost das nennt, «ein Glanz, der mit der Berührung einer Hand vergeht.»

Wir können uns dazu trainieren, uns für jenen Hauch von Überraschung empfänglich zu machen, indem wir ihn zunächst dort entdecken, wo wir ihn am leichtesten finden.

Das Kind in uns bleibt immer lebendig, immer offen für Überraschungen; nie hört es auf, vom einen oder anderen erstaunt zu sein.

Vielleicht sah ich «an diesem Morgen des Morgens Liebling», Gerard Manley Hopkins «vom Morgengrauen gezogenen Falken schweben», oder einfach die zwei Zentimeter Zahnpasta auf meiner Zahnbürste.

Für das Auge des Herzens sind sie alle gleich erstaunlich, denn die allergrößte Überraschung ist die, dass es überhaupt etwas gibt ‒ dass wir hier sind.

Den Geschmack unseres Intellekts für Überraschung können wir kultivieren. Und alles, was uns erstaunt aufschauen lässt, öffnet «die Augen unserer Augen».[7]

Wir fangen an, alles als Geschenk zu betrachten. Ein paar Zentimeter Überraschung können zu Meilen von Dankbarkeit führen.

Überraschung führt uns auf den Weg der Dankbarkeit. Dies gilt nicht nur für unseren Intellekt, sondern auch für den Willen.

Es spielt keine Rolle, wie beharrlich sich unser Wille an unsere Selbständigkeit klammert, das Leben bietet uns die Hilfe, die zum Entkommen aus dieser Falle nötig ist.

Selbständigkeit ist eine Illusion. Und früher oder später zerbricht jede Illusion am Leben. Wir alle wären nicht das, was wir sind, ohne unsere Eltern, Lehrer und Freunde. Selbst unsere Feinde helfen dabei.

Niemals hat es jemanden gegeben, der sich selbst zu dem gemacht hat, was er ist. Jeder von uns braucht andere. Früher oder später begreifen wir diese Wahrheit.

Ein plötzlicher Trauerfall, eine lange Krankheit oder irgendetwas anderes ‒ ganz überraschend hat uns das Leben eingefangen.

Eingefangen?

Überraschend befreit, sollte ich besser sagen. Vielleicht schmerzt es, aber Schmerz ist ein geringer Preis für die Freiheit von Selbsttäuschung.[8]

(Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-6, 8)

[Ergänzend:

1. Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:

(18:34) «Das Wesentliche am mit dem Herzen schauen ist das Staunen: staunen können, so wie Kinder noch staunen können mit ihrer Unbefangenheit. Oder wie Künstler staunend auf die Welt schauen und so die Überraschung geradezu herausfordern. Oder wie Mütter auf ihre Kinder schauen. So sollten wir eigentlich auf alles schauen: auf andere Menschen, auf Tiere, Pflanzen, auf die ganze Welt, mit mütterlichen Augen, die sagen: Überrasch mich! Und so schaffen wir dann einen Raum, in den die Welt hineinwachsen kann, in den auch andere Menschen hineinwachsen können. Wenn wir mit Augen schauen, die ohne Worte sagen: ‹Überrasche mich!›, dann werden wir wirklich unsere Überraschungen erleben.»

2. Audios

2.1. Interreligiöser Dialog (2014)
Bruder David: Grußwort und Vortrag:
(15:21) Das Leben will uns überraschen ‒ mit Hoffnung leben im Jetzt

2.2. TAO der Hoffnung (1994)
Diskussion:
(56:56) Offenheit für Überraschung in Angst und Panik

2.3. Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(19:29) Offen für Überraschung im Augenblick tiefster Dankbarkeit ‒ Überraschung ist ein Name Gottes

2.4. Retreat-Woche in Assisi (1989)
‹Stärke unseren Glauben› (Lk 17,5):
(49:08) Hoffnung vor dem Scherbenhaufen zerstörter Hoffnungen

3. Weitere Texte

3.1. Das Leben ist überraschend

Sinnenfreudiges Morgenlob mit Gedichten von Gerard Manley Hopkins; siehe auch Schönheit

Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht:

«Wann und wo immer ich etwas mit Ehrfurcht beachte,
beschenkt es mich mit namenloser Überraschung,
weil bei allem ‹mehr dahintersteckt›.
Heute will ich also ehrfürchtig auf alle Dinge schauen.»

Jeder Augenblick enthält so viele Überraschungen (2019):

«Ob krank oder gesund, wir sollten unseren Sinn für Überraschungen schärfen. Der Anfang der Dankbarkeit ist, sich vom Leben überraschen zu lassen – nicht von außergewöhnlichen Dingen, sondern von ganz alltäglichen! Es ist beispielsweise unglaublich, wie mein Blut tagtäglich Sauerstoff zu den Zellen transportiert. Oder wenn ich jetzt aus dem Fenster schaue, staune ich über die Schönheit des Abendlichts auf dem See. In solchen Momenten wird das Geschenkhafte der Welt deutlich. Nichts ist selbstverständlich, sondern alles ist geschenkt, unentgeltlich. Wir müssen aufwachen und aufhören, alles als selbstverständlich hinzunehmen.»

Die Innehalten ‒ Schauen ‒ Handeln ‒ Technik im Buch Dankbar leben (2018):

«Zuerst einmal können wir nicht damit beginnen, dankbar zu sein, es sei denn, wir wachen auf.

Aufwachen zu was? Zu Überraschungen!

Solange uns nichts überrascht, gehen wir wie betäubt durchs Leben.

Wir brauchen Übung, um zu einer Überraschung aufzuwachen. Ich schlage vor, eine einfache Frage als eine Art Wecker zu verwenden: ‹Ist das nicht überraschend?›

‹Ja, natürlich!›, ist die richtige Antwort, egal, wann und wo und unter welchen Umständen diese Frage gestellt wird.

Ist es nicht letztendlich überraschend, dass da überhaupt etwas ist anstatt nichts?

Fragen Sie sich selbst mindestens zweimal am Tag: ‹Ist das nicht überraschend?›, und Sie werden schon bald wacher durch die überraschende Welt gehen, in der wir leben.

Überraschung kann uns ein Anstoß sein, genug, um uns aufzuwecken und uns daran zu hindern, alles für selbstverständlich zu halten.»

Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 68f.:

Wir sagen, das Leben überrascht mich. (Schmunzelnd:) Und das Leben überrascht uns immer. Keine Gefahr! Wenn’s lebendig ist, ist es überraschend, wenn es nicht überraschend ist, sind wir schon im Bereich des Mechanischen, die Maschine. Das Leben ist grundsätzlich Überraschung.»

3.2. Hoffnung ist Offenheit für Überraschung

Stop ‒ Look ‒ Go:

«2. Durch ‹Look› üben wir eine Haltung, die traditionell Hoffnung genannt wird.

Hoffnung unterscheidet sich von unsren Hoffnungen, denn diese sind immer auf etwas gerichtet, das wir uns vorstellen können.

Hoffnung aber ist radikale Offenheit für Überraschung ‒ für das Unvorstellbare. Wenn dies die Einstellung ist, mit der wir schauen, hinhorchen und alle andren Sinne öffnen, dann kommt zum Lebensvertrauen eine neue Dimension hinzu: Bereitschaft für die Anforderungen, die das Leben an uns stellt.»

Weihnachtsgrüße 2019:

«Hoffnung, so verstanden, unterscheidet sich von Hoffnungen. Auch wenn all unsere Hoffnungen zerschlagen werden, diese Hoffnung überlebt als ‹radikale Offenheit für Überraschung›. Das Leben ist immer überraschend, und dem Leben dürfen wir vertrauen. Darum ist es diese, unsere gemeinsame Hoffnung, die ich Euch ans Herz lege und die ich uns allen von ganzem Herzen erwünsche und erbete.»

Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Hoffnung: Offenheit für Überraschungen›, 115, 117, 122 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 115, 117, 121f.]:

«Wichtig ist, dass wir in unserer Hoffnung offen bleiben, offen für die Überraschung, denn Gott kennt unseren Weg viel besser als wir selbst. In diesem Wissen kann unser Herz Ruhe finden, auch während wir weiterwandern. Hoffnung als die Tugend des Pilgers vereint Stille mit Bewegung.»

«Die Überraschung in der Überraschung jeder neuen Entdeckung besteht darin, dass es immer noch Neues zu entdecken gibt. Hoffnung hält die Gegenwart offen für eine völlig neue Zukunft. Wir wollen jedoch nicht vergessen, dass es wenig Sinn hat, von Gott, Vergangenheit und Zukunft in einem Atem zu sprechen. Gott lebt im ‹Jetzt, das nicht vergeht›.

Hoffnung hält uns im doppelten Sinne offen: für eine Zukunft in der Zeit und für eine Zukunft jenseits von Zeit, für Gottes Jetzt.»

«Warten ist nur dann ein Ausdruck von Hoffnung, wenn es ein ‹Warten auf den Herrn› ist, auf Gott, dessen Name Überraschungen heißt ‒ und auf sonst nichts. Solange wir auf eine Verbesserung der Situation warten, machen unsere Ambitionen einigen Lärm. Und wenn wir auf eine Verschlechterung der Situation warten, dann werden unsere Ängste laut. Die Stille, die in jeder beliebigen Situation auf das Aufleuchten des kommenden Herrn wartet ‒ das ist die Stille biblischer Hoffnung.»

3.3. Überraschung ist ein Name Gottes

Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Hoffnung: Offenheit für Überraschungen›, 109 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 109]; siehe auch ST 139:

«Überraschung aber ist ein Name Gottes.

Tatsächlich ist Überraschung vielleicht der einzige Name, mit dem wir es wagen dürfen, den Namenlosen zu benennen. Zwar gelingt es auch dem Namen Überraschung nicht, Gott zu benennen. Indem wir ihn aussprechen, gelingt es uns aber zumindest, unser Herz für die Erkenntnis offen zuhalten, dass Gott mit keinem Namen eingefangen werden kann. Und das macht gerade aus unserer Unzulänglichkeit einen Erfolg.»

Das Vaterunser (2022): ‹Geheiligt werde dein Name ‒ Mein liebster Gottesname heißt Überraschung›, 46:

«Die Ergriffenheit, die mir vor dem Bild des Gottes Shiva in Chidambaram in Indien geschenkt wurde, kann ich nicht unterscheiden von dem, was mich manchmal beim Beten des Vaterunsers ereignet.

Es sollte uns daher gelingen, uns den Gottesnamen ‹Vater› immer wieder frisch zu eigen zu machen und ihn rühmend zu beten. Wir dürfen auch selber immer wieder neue Gottesnahmen erfinden.

Mein eigener liebster Gottesname ist ‹Überraschung›.»]

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[1] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Wunder des Lebens›, 57-61; siehe auch Lass dich überraschen (2019): ‹Jede Überraschung fordert uns auf, dem Leben zu vertrauen und so zu wachsen›

[2] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Staunen wie ein Kind›, 48; siehe auch Musik der Stille (2023), 55

[3] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Lass dich überraschen›, 51; siehe auch Der spirituelle Weg (1996): ‹Zen-Buddhismus und Christentum im täglichen Leben, ein Dialog› von Robert Aitken mit David Steindl-Rast›, TEIL 2, 102

[4] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Nichts ist selbstverständlich›, 52-56; siehe auch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Staunen und Dankbarkeit›, 16f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 13f.]; siehe auch ST 137f.

[5] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Alles zu unserem Besten›, 113f.; siehe auch Spiritualität und Verantwortung: Christa Spannbauer im Gespräch mit Br. David (2009)

[6] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Erwachen›, 78f.; siehe auch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Staunen und Dankbarkeit›, 19f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 16f.]

[7] Siehe auch den Titel der Festschrift zum 80. Geburtstag von Bruder David Die Augen meiner Augen sind geöffnet (2006), inspiriert vom Gedicht XAIRE / 65 von E. E. Cummings im Beitrag von Max Milz Nicht quantifizierbar: Anm. 3

[8] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Staunen und Dankbarkeit›, 26f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 23f.]



Quellenangaben

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