Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Vernetzung ist ein Begriff, der mir persönlich hilft, dem Wirken dessen in der Welt näher zu kommen, was das Credo den Heiligen Geist nennt. Freilich sollten wir von einem Begriff nicht allzu viel erwarten; er hilft uns bestenfalls zu intellektueller Klarheit.
Wahre Einsicht muss auf persönlicher Erfahrung gründen.
Da wir in jedem Augenblick Vernetzung erleben, fällt sie uns meist gar nicht mehr auf. Alles ist ja mit allem vernetzt.
Es kann also hilfreich sein, ein Beispiel zu wählen, bei dem uns eine ganz erstaunliche Vernetzung bewusst wird. C. G. Jung spricht da von Synchronizität. Wir erleben gewisse Ereignisse als bedeutungsvoll miteinander vernetzt, ohne dass sie wie Ursache und Wirkung verbunden wären.
Die meisten Menschen können sich an synchronistische Erlebnisse erinnern. Als Anregung für Erinnerungen der Leserinnen und Leser möchte ich hier von einer meiner eigenen berichten. In den Neunzigerjahren durfte ich am Schumacher College im Südwesten Englands unterrichten. Die umliegenden Teile der Provinz Devon bieten besonders reizvolle Gelegenheiten für Wanderungen. Es traf sich, dass ich zwei aufeinander folgende Tage frei hatte, und William Thomas, ein Mitarbeiter, mit dem ich mich dort angefreundet hatte, bot sich als Führer an für einen Streifzug durch das herrlich wilde Hochland des nahegelegenen Naturschutzparks.
Wir sprachen über vielerlei, als wir so miteinander durch eine Landschaft von karger, rauer Schönheit wanderten und da kam das Gespräch auch auf Synchronizität. William erzählte mir von einem Lehrer aus Indien, der sich in den Straßen von London um körperlich und geistig «gebrochene» Menschen annahm, wie er das ausdrückte. Es traf sich nun, dass William eine ganze Liste von Bezeichnungen für Schmetterling in verschiedenen Sprachen zusammengestellt hatte ‒ butterfly, mariposa, farfalla, papillon ‒ und so fragte er diesen Lehrer, wie man den Schmetterling in Indien wohl nenne. «Warte», sagte der, «ich habe den Dialekt, mit dem ich in Indien aufwuchs, schon so lange nicht mehr gesprochen; was war nur unser Wort für Schmetterling? Schmetterling …»
In diesem Augenblick, so erzählte William weiter, kam, wie auf den Ruf des Lehrers hin, ein Schmetterling da mitten in London, und setzte sich dem Lehrer auf die Brust. Noch dazu hatte dieser Schmetterling einen gebrochenen Flügel, wie um die «gebrochenen» Menschen zu verkörpern, die dem Herzen des Lehrers so nahe standen.
Ein eindrucksvolles Beispiel von Synchronizität. Was sich aber während Williams Erzählung ereignete, war noch eindrucksvoller. Auf unserer ganzen Wanderung hatten wir noch keinen Schmetterling gesehen, aber während William sprach, bemerkte ich, dass einer auf uns zugeflattert kam. Im Augenblick als er erzählte, «und der Schmetterling setzte sich dem Lehrer auf die Brust», schwebte unser eigener Schmetterling direkt vor mir und ‒ «Nein, nein, das kann doch nicht sein!» schrie alles in mir ‒ er setzte sich mir aufs Herz.
«Vernetzung» war auch für Thomas Mertons theologisches Denken ein wichtiger Begriff. Seine Erfahrung als Mönch hatte ihn gelehrt, dass der Heilige Geist alles mit allem vernetzt. Kurz vor seiner Reise in den Fernen Osten, von wo er nicht zurückkehren sollte, verbrachten wir gemeinsam einige Tage in einem Kloster in Nordkalifornien.
Das Thema Vernetzung war in unseren Gesprächen lebendig geworden, und jetzt stand Merton zur Eucharistiefeier am Altar der Kapelle. Die Wand hinter dem Altar war ganz aus Glas, ein einziges großes Fenster mit Ausblick auf eine von Mammutbäumen umstandene Lichtung. Sonnenlicht strömte in leuchtenden Farben schräg durch die Kronen der uralten Bäume herab. Das Tagesevangelium sprach vom Reich Gottes als einem großen Hochzeitsfest. Niemand konnte voraussehen, wie dramatisch die Vernetzung zwischen dieser Frohbotschaft und der Natur da draußen sich uns bald darauf darstellen sollte ‒ die Vernetzung zwischen Liturgie und instinktivem Verhalten, zwischen einem Ritual von uns Menschen und einem von Insekten.
Zur Zeit der Kommunion entfaltete sich vor uns ein erstaunliches Schauspiel: Völlig gleichzeitig mit unserer Kommunionsprozession in der Kapelle setzte sich draußen eine zweite in Bewegung, eine Hochzeitsprozession fliegender Ameisen ‒ tausende im Abendlicht glitzernder Flügelchen zogen über die Waldlichtung. In solchen Augenblicken weckt uns das Wunder der Vernetzung auf, und wir sind hellwach.
Jedoch selbst wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, ereignet sich ununterbrochen die geheimnisvolle Vernetzung aller Dinge und Ereignisse um uns und in uns.
Weil Gott Liebe ist, und Liebe das gelebte «Ja» zur Zugehörigkeit, und Zugehörigkeit die Innenansicht sozusagen von dem, was wir von außen betrachtet «Vernetzung» nennen, dürfen wir sagen, dass der Heilige Geist die innigste Vernetzung von allem mit allem bewirkt.
Und weil Jesus Christus das «Ja» der Liebe zu vorbehaltsloser Zugehörigkeit vorbildhaft verwirklichte, dürfen wir ihn im Credo als «Empfangen durch den Heiligen Geist» bekennen.
Gewiss: das ist poetische Sprache; aber auf welche Weise sollten wir es denn sonst ausdrücken? Wir dürfen diese dichterische Ausdrucksweise nur nicht wörtlich nehmen. Carl Friedrich von Weizsäcker soll gesagt haben, man habe die Wahl, die Bibel wörtlich zu nehmen ‒ oder ernst. Wir wollen sie ernst nehmen. Dann werden wir uns aber nicht um ihre schwerwiegenden Anforderungen herumdrücken können.
Wir werden uns tief bewegt finden von der Kraft und Zartheit, der revolutionären Leidenschaftlichkeit und dem leidenschaftlichen Pazifismus Jesu Christi, der tatsächlich Gottes Lebensatem zu atmen scheint.
Dann wird das Beste in uns angefeuert werden durch sein Beispiel und seinen Geist in uns, den dieses Beispiel weckt.
Vernetzungen im Heiligen Geist sind nicht mechanisch zu verstehen. Die Verknüpfungen eines Fischnetzes oder selbst die Verbindungen in einem Cyber-Netzwerk bieten nur unzulängliche Bilder. Wir sollten eher an die Herzensverbindungen denken, die wir auf einem Hochzeitsfest feiern.
Wenn wir Beziehungen von Liebe und Freundschaft, von Treue und Vertrauen anknüpfen, dann können wir den Pulsschlag des Geistes in unseren Herzen fühlen.
In solchen Augenblicken beginnen wir zu ahnen, wie jene Welt aussehen könnte, nach der der Heilige Geist in uns sich sehnt.
Aber für diese Welt gibt es keinen im Voraus festgelegten Plan. Alles ist Improvisation. Jeder Einzelne von uns darf da mitträumen; wir sind Mitschöpfer.
Jesus erahnte Gottes Traum für die Welt und sprach vom Reich Gottes.
Dadurch dass wir uns um ein Herzensnetzwerk bemühen, tragen wir dazu bei, diesen Traum zu verwirklichen.
Und Du? Hast Du einmal Vernetzungen erlebt, die von Dir die Ausweitung eines zu engen Bewusstseins verlangten?
(Ich habe Beispiele dieser Art angeführt, als Fingerzeig auf noch weit tiefere Vernetzungen von allem mit allem im Heiligen Geist.)
Wenn Du die Kindheitsgeschichten Jesu bei Matthäus und Lukas als Aussagen über den erwachsenen Jesus liest, fühlst du dich bereichert, oder von etwas beraubt, das dir lieb war? Oder ein bisschen von beidem?
Wer außer Jesus kommt Dir in den Sinn, wenn Du daran denkst, dass der Heilige Geist Menschen braucht, um Herz mit Herz zu verknüpfen?
(Denke dabei nicht nur an die Heiligen der verschiedenen religiösen Traditionen, sondern auch an große Künstler, Erfinder, Diplomaten, Musiker, Autoren ...)
Kennst Du Vernetzungsbemühungen (vielleicht mit Hilfe des Internets), die durch den Heiligen Geist inspiriert zu sein scheinen?
Wenn wir um uns schauen, so erleben wir die Welt als sinnträchtig: schwanger mit Bedeutung. Jedes Ding sagt etwas aus ‒ manchmal so überwältigend wie ein sommerliches Gewitter, manchmal so zart wie ein Kücken, das soeben aus dem Ei geschlüpft ist.
In jedem Ding spricht uns etwas an, wenn auch nicht in Worten und Begriffen, so doch unserem Herzen vernehmlich.
Diese Erfahrung ist uns zugänglich; wir müssen nur unsere Scheu überwinden, und ‒ Selbsttäuschung vermeidend ‒ ein wenig introspektiv experimentieren.
Wir sollten vielleicht ein paar stille Minuten ohne Ablenkung mit einem Stein oder einer Blume verbringen und uns Rechenschaft darüber geben, was wir da erleben.
Hinter den Dingen begegnen wir einer Gegenwart, die uns «entgegenwartet», wie Rilke es ausdrückt: einer Gegenwart, die uns etwas sagt, oder schweigend auf unsere Antwort wartet.
Diese allgemein menschliche Erfahrung steht hinter dem «Gott sprach … und es ward» im biblischen Schöpfungsbericht. Wir haben es mit einem dichterischen Ausdruck zu tun, dafür dass jedes Ding und jede Begebenheit als Wort verstanden werden kann. Ein horchendes Herz weiß sich von Gott angesprochen in allem, was es gibt.
Auch in unserer Alltagserfahrung können wir diese große Gegenwart spüren.
In der Begegnung mit der Wirklichkeit wird uns nämlich etwas wie Vertrauenswürdigkeit bewusst, besonders in der Ordnung der Natur.
Es ist also nicht unvernünftig, wenn der Theologe H. Richard Niebuhr von «Verlässlichkeit im Herzen aller Dinge» spricht.
In allem, was es gibt, spürt unser horchendes Herz den Pulsschlag einer großen Gegenwart, auf die wir uns gläubig verlassen dürfen.
Und je mehr wir uns darauf verlassen, umso mehr erfahren wir tatsächlich diese Verlässlichkeit.
Auch das kann jeder Mensch selber nachprüfen, und es führt folgerichtig zu Dankbarkeit.
[Credo (2015): ‹Empfangen durch den Heiligen Geist›: ‹Persönliche Erwägungen›, 89-92, 54f.]
[Ergänzend:
«Wir können unser Denken zu einem Werkzeug dieser schöpferischen Intelligenz machen, die stetig die Welt hervorbringt und erhält. Wenn wir uns dieser gütigen Kraft bereitwillig öffnen, hat sie die Kraft alles zu ändern, was nicht mit ihr in Einklang ist.»
2. Osterbrief 2023:
«Jesus hat ein Zusammenleben gelehrt, das er ‹Reich Gottes› nannte, das wir aber auch ‹Gotteshaushalt› nennen könnten, Gemeinschaftsleben, das dem Gemeinsinn der Vögel näher steht, als der Gesellschaftsordnung seiner und unserer Zeit. Er sagte: ‹Schaut euch die Vögel des Himmels an› (Mt 6,26) und baute eine auf ‹Wir-Denken› gegründete Gemeinschaft: Das ‹Reich Gottes›. Es war, wie wir heute sagen würden, ‹der Natur nachgebildet› ‒ der Natur, in deren innerstem Mysterium wir ‹Gott› begegnen. Dafür lebte und dafür musste er sterben, denn die Machtpyramide des ‹Ich-Denkens› erkannte, dass sie an ihrer Wurzel bedroht war.»
3. Arbeit und Schweigen, Beitrag von Bruder David im Buch Geist und Natur (1989), 300:
«Einer der frühen Kirchenväter hat schon deutlich gesagt: ‹Wenn es wahr ist, frag nicht, wer es gesagt hat. Die Wahrheit kommt immer vom Heiligen Geist›. Wenn wir das nur auch heute noch wüssten!»
Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg
Bruder David im Gespräch zur Frage:
(27:29) Flow, Yoga, Zen: Wenn es wahr ist und hilft, frag nicht, wer es gesagt hat, es kommt immer vom Hl. Geist (Kirchenvater)
4. Erinnerungen an die letzten Tage von Thomas Merton im Westen (1968); siehe auch Kosmische Intelligenz Ergänzend: 2.:
«‹Das Wichtigste ist, dass wir hier sind, in einem Haus des Gebets. Hier gibt es eine wahre und echte Verwirklichung des zisterziensischen Geistes, eine Atmosphäre des Gebets. Genießt es! Nehmt es in euch auf. Alles, die Redwood-Wälder, das Meer, den Himmel, die Wellen, die Vögel, die Seelöwen. In all dem werdet ihr eure Antworten finden. Da ist alles vernetzt›. (Die Vorstellung der ‹Vernetzung› war für Thomas Merton von geheimnisvoller Bedeutung.)
… An diesem Tag hatten wir als Evangelium das Gleichnis vom Reich Gottes als einem großen Hochzeitsfest gehört. Gleichzeitig mit dem Kommuniongang begannen fliegende Ameisen durch den ganzen Wald auszuschwärmen und erhellten ihn mit Zehntausenden von glitzernden Flügelchen wie in einem Hochzeitszug. Alles ‹vernetzt›.
Dort zu beginnen, wo du bist und dich der Vernetzungen bewusst zu werden, war Thomas Mertons Zugang zum Beten.»
5. Der Anspruch von Menschen und Tieren (1994):
Audio: Archetypen (C.G. Jung)[1] und das Erleben von Schamanen
Audio: Erlebnisse im Zug, beim Sterben, mit einer Osterkerze
Audio: Eine Kosmologie, die unser Leben bereichert]
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[1] C. G. Jung: «Eine junge Patientin hatte in einem entscheidenden Moment ihrer Behandlung einen Traum, in welchem sie einen goldenen Skarabäus zum Geschenk erhielt. Ich saß, während sie mir den Traum erzählte, mit dem Rücken gegen das geschlossene Fenster. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Geräusch, wie wenn etwas leise an das Fenster klopfte. Ich drehte mich um und sah, dass ein fliegendes Insekt von außen gegen das Fenster stieß. Ich öffnete das Fenster und fing das Tier im Fluge. Es war die nächste Analogie zu einem goldenen Skarabäus, welche unsere Breiten aufzubringen vermochten, nämlich ein Scarabaeide (Blatthornkäfer), Cetonia aurata, der gemeine Rosenkäfer, der sich offenbar veranlasst gefühlt hatte, entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten in ein dunkles Zimmer gerade in diesem Moment einzudringen.» [Quelle: Synchronizität (Wikipedia)]