Texte und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Dein Reich komme»
«D e i n R e i c h und was damit gemeint ist, können wir wohl nur dann recht verstehen, wenn wir die geschichtliche Lage beachten, in der dieses Gebet entstanden ist.
Jesus und seine Jünger waren Juden, gewalttätig unterdrückt und ausgebeutet von der römischen Besatzungsmacht. Erst im Gegensatz zum gewalttätigen Weltreich der Römer gewinnt die Bitte um dein Reich seine volle Wucht.
Dein Reich auf Erden gewaltfrei zu verwirklichen, das war die große Leidenschaft Jesu. Dafür lebte er und dafür musste er sterben.
Da stand Gottesreich gegen Römerreich.
Politische Machthaber spüren so etwas sofort. Sie erkannten die Konkurrenz und schlugen zu. Für unpolitische Nächstenliebe ist noch nie jemand ans Kreuz geschlagen worden.
Je aufrichtiger ich dein Reich erbete, umso tatkräftiger muss ich auch bereit sein, dafür einzutreten ‒ auch politisch. Gib du mir Mut dazu und nimm mir die Angst vor den Folgen. Amen.»
«D e i n R e i c h ist ‹nicht von dieser Welt› ‒ eben nicht von der Art der Weltreiche. Sondern es ist das von jedem Menschenherzen ersehnte Friedensreich.
In der Natur steht es uns als dein Welthaushalt schon vor Augen. In der Gesellschaft muss es als Gotteshaushalt erst noch verwirklicht werden durch das freie Ja der Liebe. Denn du zwingst uns deine Ordnung nicht auf. Du bist ja Vater, nicht Gewaltherrscher.
Und doch wirst du immer wieder ‹am höchsten Thron› einer Machtpyramide dargestellt.
Das ist zwar ein aufrichtiges Bemühen, dich zu ehren, aber auch eine herzzerreissende Blasphemie.
Genau als Gegenpol zur Machtpyramide hat Jesus ja dein Reich verstanden: nicht auf Eroberung gegründet, sondern auf Umdenken: nicht auf Angstmacherei gestützt, sondern auf gegenseitiges Vertrauen; nicht durch Gewalt verwirklicht, sondern gewaltfrei. Nicht von dieser Welt, aber mitten in ihr. Amen.»
«D e i n R e i c h, wie Jesus es verstanden hat, ist kein abgegrenzter Herrschaftsbereich ‹hier oder dort›, sondern ‹mitten unter› uns, als die uns von dir geschenkte Möglichkeit, die wir verwirklichen können, wenn wir nur wollen.
Deine ‹Herrschaft›, also die Wirkkraft deiner Liebe, steht uns jederzeit zur Verfügung. Und auch eine Gelegenheit, das Ja gegenseitiger Zugehörigkeit zu sprechen, ist stets zur Hand.
Dein Reich ist das freudige Zusammenleben, das sich ereignet, wenn eine Gemeinschaft nach deiner Musik zu tanzen beginnt.
Schon ‹zwei oder drei› genügen, um damit zu beginnen: zwei Liebende, die miteinander eine Familie gründen, oder drei Freunde, die den Keim einer Gemeinschaft bilden.
Und woran können wir dein Reich erkennen?
An gelebter Liebe. Daran, dass Menschen sich bedingungslos zuhause fühlen dürfen und sich geachtet wissen in ihrer Eigenständigkeit ‒ an Menschenwürde also.
Wecke in mir die wache Bereitschaft, mich dafür einzusetzen. Amen»
«D e i n R e i c h meint nicht erst die himmlische Herrlichkeit, die wir erhoffen, wenn wir beten: ‹Lass uns eingehen in dein Reich›.
Der indische Mystiker Kabir sagt es ganz unverblümt:
‹Dass deine Seele Seligkeit finden soll, nur weil dein Leichnam verwest, ist ein Hirngespinst. Wenn du hier nichts findest, kannst du dort auch nur eine Wohnung im Totenreich erwarten.›
Ein Reich der Lebendigen ist dein Reich, und Lebendigkeit muss deshalb sein Hauptmerkmal sein, schon hier auf Erden.
Freilich bleibt im Diesseits alles Stückwerk ‒ auch dein Reich.
Die Richtschnur unsres Bauens muss ins Jenseits auslaufen.
Wir wissen ja: ‹Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen.›[1]
Jetzt und immer bist und bleibst du der Schnittpunkt aller Beziehungen und der Mittelpunkt deines Reiches.
Das Dichterwort gilt:
‹Jeder Kreis, um dich gezogen,
spannt uns den Zirkel aus der Zeit.›[2]
Amen.»
«‹Dein Reich k o m m e›, beten wir, und das klingt recht passiv. Wo immer wir aber aktiv unser Zusammenleben gestaltet haben, ist in der ganzen Menschheitsgeschichte kaum jemals ein Aufdämmern deines Friedensreiches erkennbar geworden. So sehr wir alle es auch ersehnen, scheinen wir uns doch völlig verirrt zu haben. Der ganze Karren ist verfahren. Ist es zu spät, umzukehren?
Ein Geschenk muss dein Reich jedenfalls sein. Du schenkst uns ja auch sonst alles, was es gibt. Aber, wie alles andre auch, bleibt es nur ein Angebot. Es wird wahrhaft zum Geschenk, wenn wir uns dankbar erweisen, indem wir aus dem Angebotenen etwas machen.
Und das tun ja doch unzählige Menschen, die sich ehrlich und aufopfernd bemühen, Ansatzpunkte für ganze neue Formen geschwisterlichen Zusammenlebens zu finden.
Lass auch mich Ansatzpunkte für Neues als dein Geschenk erkennen und sie mutig und dankbar nutzen. Amen.»
«‹Dein Reich k o m m e› ‒ so bitten wir und wissen doch, dass es schon da ist, mitten unter uns ‒ als stete Möglichkeit.
Wenn du zwei oder drei von uns zusammenführst, dann liegt darin auch schon dein Angebot, ‹in deinem Namen› beisammen zu sein.
Dein Name ist ja ‹Liebe›, und jede Begegnung ist eine neue Gelegenheit, das Ja der Liebe zum Ausdruck zu bringen.
Mit diesem Ja ‹heiligen› wir deinen Namen und empfangen mit weit offenen Armen einander und so dein Reich.
Dein Name und dein Reich sind also keimhaft gegenwärtig, wann und wo immer wir Menschen gemeinsam unser Leben gestalten.
Mach du uns wach und achtsam für dieses uns anvertraute Aufkeimen und lass uns mit Geduld auch die zartesten Pflanzen der Liebe so geduldig pflegen, dass aus ihnen dein Reich aufblühen kann. Amen.»
«‹Dein Reich k o m m e› als gesellschaftliche Wirklichkeit! In der Ordnung des Kosmos wirkst du als ihre innerste Lebendigkeit, ‹du sanftestes Gesetz›.
Im Erd-Haushalt stellt uns die Natur ein lebendiges Bild jenes harmonischen Zusammenlebens vor Augen, das dein Reich ‒ der Gottes-Haushalt ‒ uns schenken will.
Die Natur baut keine Machtpyramiden, sondern vernetzt Netzwerk mit Netzwerk, so wie in der Musik sich Motiv mit Motiv verwebt.
Wo immer wir ehrfürchtig auf die Natur achten, zeigst du uns Leitbilder für die Gestaltung deines Reiches.
Lehre uns, ihnen zu folgen, bei allem, was wir bauen.
Dann dürfen wir wohl auch der schier unerschöpflichen Erneuerungskraft der Natur vertrauen, dass sie nicht nur die Verwundungen heilt, die wir ihr zugefügt haben, sondern auch unsrer Kultur den Weg zu heilem Sein weist. Amen.»
«‹Dein Reich k o m m e› ‒ das ersehnen wir. Und wir wissen auch, dass letztlich nur du diese Sehnsucht erfüllen kannst.
Und doch dürfen wir dein Reich nicht völlig ohne unser Zutun als dein Geschenk erwarten. Was aber ist unsererseits notwendig, damit dein Reich sich unter uns ereignen kann?
Was kann ich in meinem winzigen Umkreis dazu beitragen?
Mein Einflussbereich reicht allerdings weiter, als mir oft bewusst ist. Alles hängt ja mit allem zusammen! Und jeder Anstoß setzt sich grenzenlos fort.
Sooft wir einander Gutes tun aus dem Bewusstsein, dass wir füreinander da sind, setzen wir ein unaufhaltbares Ja der Liebe in Bewegung.
Sooft wir einander gegenseitig Achtung erweisen, springt ein Fünkchen vom Glanz dieses Reiches über, das weiter und weiter leuchtet.
So beizutragen zum Kommen deines Reiches, dazu schenke mir Kraft und Entschlossenheit. Amen.»
Brigitte Kwizda-Gredler: «Wenn du von den ‹Kreisen freudigen Lebens› sprichst, höre ich die Freude als das entscheidende Wort heraus. Und Freude ist ansteckend. Darum gefällt mir das Bild für freudiges Zusammenleben, das du gerne verwendest: eine Gemeinschaft, die nach der Musik Gottes zu tanzen beginnt.»
Bruder David: «Der Name Gottes ist Musik, der Tanz der Liebe ist sein Reich. Und obwohl unser Bemühen stets Stückwerk bleibt, bleibt die Hoffnung lebendig, dass das Reich Gottes wenigstens jenseits von Zeit und Raum Vollendung findet.
Paulus sagt: ‹Was Gott will, ist allen Menschen offenbar, Gott hat es uns offenbart. Schon seit Erschaffung der Welt drücken die Werke der Schöpfung seine unsichtbare Wirklichkeit aus› (frei nach Röm 1,19f.). An den Werken der Schöpfung kann unsre menschliche Vernunft also wahrnehmen, was Gott will. Das ist mir eine große Ermutigung.
So viele, die vom Christentum nichts wissen oder gar nichts wissen wollen, bauen dennoch tatkräftig mit an dem Friedensreich, das wir Christen das Reich Gottes nennen.»
«Das Lernen von der Natur ist dabei ein wesentlicher Bereich, in dem sich jederzeit Neues ereignet. Es geht um eine Forschungshaltung, die in der Fachsprache ‹Bionik› genannt wird oder auch ‹Biomimetik› ‒ die Befragung und Nachahmung der Natur, um schwierige technische, gesellschaftliche oder organisatorische Probleme zu lösen.»
«Die Natur heiligt den Namen Gottes, indem sie uns zeigt, wofür Gott eintritt.
Wenn wir vorurteilslos bereit sind, von der Natur zu lernen, dann finden wir in ihr schon samenhaft das Modell für das Reich Gottes angelegt.
Dante nennt ja die Liebe das innerste Geheimnis des Universums:
‹Liebe, die die Sonne rollt und andere Sterne›,[3]
lautet ein berühmter Ausspruch von ihm.
Vielleicht können wir die Evolution als die allmähliche Entfaltung dieses innersten Wesens verstehen ‒ als das Offenbarwerden des Reiches der Liebe, nach dem sich alles sehnt.»
Brigitte Kwizda Gredler: «So verstehe ich auch Pierre Teilhard de Chardins berühmten Ausspruch:
‹Eines Tages, nachdem wir Herr der Winde, der Wellen, der Gezeiten und der Schwerkraft geworden sind, werden wir uns in Gottes Auftrag die Kräfte der Liebe nutzbar machen. Dann wird die Menschheit zum zweiten Mal in der Weltgeschichte das Feuer entdeckt haben.›»
Bruder David: «Dann wird die Vaterunserbitte um das Kommen des Gottesreiches in Erfüllung gegangen sein.»[4]
(Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 4)
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg
Bruder David im Gespräch:
(57:20) ‹Die Gesellschaft, in der die Starken die Schwachen unterdrücken, das ist die typische menschliche Gesellschaft. Leider. Eine Gesellschaft, die aus der Angst und aus der Unterdrückung lebt.
Und der entgegen stellt Jesus das Reich Gottes. Und das Reich Gottes ist eine Übersetzung dieses tiefsten Zugehörigkeitsgefühls in eine soziologische Wirklichkeit, in gesellschaftliche Wirklichkeit.
Er ist nicht nur Mystiker, er hat nicht nur diese tiefe Erfahrung der Zugehörigkeit, die sich ausdrückt dadurch, dass er alle Menschen, auch die Ausgestoßenen als Brüder und Schwestern anspricht und sich Gott so ganz eng verbunden fühlt: diese Familie Gottes, zu der auch die Tiere und Pflanzen gehören. Das ist ganz stark angelegt, aber nicht nur dieses Mystische, sondern dann die Übersetzung dieses Mystischen in ein tägliches Leben, in Gesellschaftsformen, die unsrer Art von Gesellschaftsform, wo einer den andern frisst und beißt, entgegengesetzt ist.
Und das versucht er zu verwirklichen und das nennt er Reich Gottes, und Bekehrung ist dann eine Umkehr von der Art von Gesellschaft, die wir kennen ‒ typisch ‒ zu der andern Gesellschaft.
Aber ich möchte nicht einfach so die Gesellschaft abschreiben. … das ist das Gute, dass es heutzutage ‒ wahrscheinlich wie immer in der Geschichte ‒, viele Zellen gibt, viele Ansatzpunkte, wo Menschen schon in einer Familie, in einer Freundschaft, in einer Pfarre, in irgendeinem Freundeskreis genau das zu verwirklichen beginnen. Und sie kommen in Konflikt mit der vorherrschenden Gesellschaft.›
1.2. Audio Löwe, Lamm und Kind (1992)
Vortrag:
(40:25) ‹Hier ist das Friedensreich schon da›: Bruder David schließt mit einem Erlebnis aus der chassidischen Tradition:
«Das Bild des Messias strahlte in einer anderen solchen Gnadenstunde auf, als sich Vertreter vieler Religionen 1972 auf Mount Saviour[5] trafen. … Ich weiß nicht mehr, ob es Reb Shlomo Carlebach war oder Reb Zalman Schachter, der bei unserem letzten gemeinsamen Abendessen eine chassidische Geschichte erzählte, die uns zu Herzen ging, weil sie von dem sprach, was unter uns Wirklichkeit geworden war: ‹Der gelehrte Rabbiner und seine Schüler waren beisammen und so glühend war die Liebe unter ihnen, dass der Meister einen von ihnen zum Fenster schickte: ‹Schnell, schau hinaus, ob der Messias nicht gekommen ist!› Enttäuscht kam die Antwort: ‹Alles da draußen wie eh und je.› ‹Aber Rabbi›, fragte ein anderer Schüler, ‹müssten wir hinausschauen, wenn der Messias gekommen wäre? Würden wir es nicht hier herinnen gleich wissen?› ‹Ja! Aber hier›, sagte der Meister strahlend, ‹hier ist der Messias ja gekommen!›»[6]
2. Weitere Texte
2.1. Osterbrief 2023
«Jesus hat ein Zusammenleben gelehrt, das er ‹Reich Gottes› nannte, das wir aber auch ‹Gotteshaushalt› nennen könnten, Gemeinschaftsleben, das dem Gemeinsinn der Vögel näher steht, als der Gesellschaftsordnung seiner und unserer Zeit. Er sagte: ‹Schaut euch die Vögel des Himmels an› (Mt 6,26) und baute eine auf ‹Wir-Denken› gegründete Gemeinschaft: Das ‹Reich Gottes›. Es war, wie wir heute sagen würden, ‹der Natur nachgebildet› ‒ der Natur, in deren innerstem Mysterium wir ‹Gott› begegnen. Dafür lebte und dafür musste er sterben, denn die Machtpyramide des ‹Ich-Denkens› erkannte, dass sie an ihrer Wurzel bedroht war.»
2.2. Vom mystischen Wasser kochen ‒ 99 Namen hat Gott im Islam (2019): Interview von Josef Bruckmoser mit Bruder David:
«Sind Ihnen von diesen 99 Namen einige besonders nahe gekommen?»
«Interessanterweise fällt mir keiner ein, aber es fallen mir viele ein, die mir eher unsympathisch sind, wie z. B. der König oder der Mächtige. Das sind Bezeichnungen für Gott, die sich auch weitgehend mit dem Christentum decken. Solche Namen Gottes kommen der Pyramide der Macht im Christentum wie im Islam sehr gelegen, weil weltliche wie religiöse Machthaber diesen Anspruch Gottes für sich selbst ausnützen. Das steht meinem Verständnis von Christentum völlig entgegen. Wenn Jesus vom Reich Gottes spricht, ist es genau das Gegenteil einer weltlichen Machtpyramide, an deren Spitze ein König sitzt. Das Reich Gottes ist keine Pyramide, es ist ein Netzwerk von Netzwerken. So hat Jesus das als Wanderprediger mit seinen Leuten gelebt. Seine mystische Erfahrung der Nähe Gottes machte ihn zum Revolutionär. Er hat gesellschaftliche und religiöse Macht untergraben und wurde dafür am Ende hingerichtet. Papst Franziskus versucht, die kirchliche Machtpyramide durch menschliche Beziehungen und Netzwerke zu ersetzen. Zwischen ihm und Vertretern dieser Machtpyramide spielt sich leider ein schwerer Zusammenstoß ab.]»
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[1] «An Zimmern
Die Linien des Lebens sind verschieden
Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.»
Friedrich Hölderlin
[2] R. M. Rilke: ‹Wer seines Lebens viele Widersinne› (Das Stunden-Buch); das Gedicht in Sinnorgan Herz und
(29:15) im Audio Fragen, die uns bewegen (2005)
[3] Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: «L'amor che move il sole e I'altre stelle» ‒ «die Liebe, die alles bewegt.» ‒ Das zentrale Geheimnis des kosmischen Rundtanzes ist die Liebe.
[4] Das Vaterunser (2022): ‹Dein Reich komme›, 49-53 und ‹Reich Gottes als konkrete Aufgabe›, 55f.
[5] Bruder David trat 1953 in das kurz zuvor neu gegründete Benediktinerkloster Mount Saviour in Elmira, NY, ein.
[6] Ich bin durch Dich so ich (2016), 98