Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

kreuz b kraehmer titelCopyright © - Arijana Somolanji Kurbanović

«Zauberkraft begegnet uns auf Schritt und Tritt, daran zweifle ich keinen Augenblick. Wie oft habe ich sie doch erlebt. Zuerst mein ganz automatisches Dahintrotten auf dem heißen Gehsteig, dann ein kühler Zugwind aus einer Seitenpassage ‒ und plötzlich hat das Straßenbild Farben, Klänge, Bewegung.

Oder bei Tisch: Mein unaufmerksames Hinunterlöffeln wird durch das Klirren eines Wasserglases in wache Freude an der warmen Suppe verwandelt. Sogar ein untätiges Daliegen im Bett kann durch ich weiß nicht, was, auf einmal zum wohligen Wahrnehmen von Decke und Polster werden, zu einem letzten Aufleuchten aller Sinne vor dem Einschlafen.

Ich weiß wirklich nicht, was diese geheimnisvolle Kraft ist, die da so unvermittelt alles verzaubert ‒ ja, die eigentlich  m i c h  bezaubert, indem sie mich belebt.

Jedenfalls nehme ich sie dankbar an; sie muss ja von Dir kommen.

Und Dankbarkeit legt mir auch das Zauberwort in den Mund, das Zauberwort, das mich und die Welt belebt: ‹Danke!› ‒ Amen.»[1]

In der gütigen Hand, die ihnen übers Haar streicht, können Kinder die Berührung eines Engels spüren. Aug’ in Auge mit einem Tier können wir dem Blick eines Engels begegnen. Ja, manchmal springen Engel sogar aus dem Gebüsch hervor als Kinder, die uns lachend erschrecken wollen, und uns dann umso fester umarmen.

Ich habe herausgefunden, dass durch eine ganz leichte Berührung ein kraftvoller Impuls von Güte und Wohlwollen übermittelt werden kann.

Die Welt, in der wir leben, ist so entfremdend, dass wir buchstäblich nicht mehr in Berührung miteinander sind.

Es hilft schon, wenn wir jemanden konkret wissen lassen, dass er uns wirklich etwas bedeutet.

Das schafft ein Gefühl der Zugehörigkeit, ein Gefühl, dass wir Schwestern und Brüder sind in dieser Welt, in unserem gemeinsamen Zuhause.[2]

«Mein Fuß spricht mit den Steinen, die er betritt»,

sagt Rilkes Blinde,[3] und das sollten auch unsere Füße tun. Sobald wir die Gewöhnung abgelegt haben, mehr noch als die Schuhe, dann ist schon die Möglichkeit gegeben für diese Zwiesprache.

Rasen spricht anders mit unseren Füßen als sonnenwarme Felsplatten am Fluss; ein Holzboden wieder anders. Kork, Kiesel, Kokosläufer, feuchter Sand am Meer, oder das Herbstlaub, durch das wir als Kinder so gerne wirbelnd wateten; diese und so viele andere Sprachen sind unseren Fußsohlen bereits geläufig.

Leinen, Leder, Luffa, wie verschieden sie unsere Schultern berühren. Strohhut und Wollmütze, Tropenhelm und Schleier. Kühles, Bauschiges, das den Wind einfängt, oder enganliegendes Warmes und Weiches um Hüften und Beine.

Wie so verschiedentlich uns all das anspricht, wenn wir nur darauf achten. Wie unsere Haut an jeder Stelle des Körpers anders darauf antwortet. Welche Freude argloser Dankbarkeit man daran erleben kann.

Und dann erst die Hände. Für mich ist nicht nur das Streicheln der Katze («Gypsie» heißt sie, «Zigeunerin»), für mich ist auch das Abstauben der paar Möbel in der Einsiedelei ein liebkosendes Berühren; oder das Stutzen der Sträucher im Garten; oder das Aufkehren.

«So geht man nicht mit dem Staub um», erklärte Soen Nakagawa Roshi jungen Mönchen, die das Saubermachen praktisch, schnell und gründlich erledigt haben wollten. «S o  geht das nicht. Wenn ihr den Besen in der Hand habt, soll die Hand zum Staub sagen: ‹Verzeih, aber du bist zur Zeit am falschen Platz. Erlaube, dass wir dir weiterhelfen, wo du hingehörst›»

Hände haben höfliche und unhöfliche Redeweisen. Sie lassen sich erziehen.

Hände reden, Sie können aber auch horchen.

Das hat mich Sen Soshitsu gelehrt, der Groß-Teemeister Japans, dessen Urahne Sen Rikyu, im 16. Jahrhundert der Teezeremonie ihre klassische Form gab.

In einer vornehmen Privatwohnung in New York wurde das Ehepaar Sen an jenem Abend mit einem Empfang geehrt. Man wollte den Gästen aus dem Osten das Beste westlicher Kultur darbieten. Ein berühmter Cembalist sollte auf einem Instrument spielen, das eigens für diese Gelegenheit ausgeliehen worden war.

Da stand es in seiner schlichten Schönheit, glänzend im Licht der vielen Kerzen, aber versperrt. Der Schlüssel zum Deckel der Tastatur war einfach unauffindbar.

Verwirrung, Geflüster, peinliche Stille.

Mit heiterer Gelassenheit geht Sen Soshitsu auf das Cembalo zu, lässt seine Hand bewundernd über das seidige Holz gleiten.

Völlig gesammelt scheint er dankbar zu sagen:

«Ist das nicht schon mehr als genug?»

Dann lächelt er, und alle atmen auf.

Alle nur mögliche Musik war aus dem Instrument durch seine horchende Hand in dieses Lächeln gestiegen und darin Wirklichkeit geworden.

Berührung ist immer gegenseitig. Wir können sehen, ohne gesehen zu werden und so mit allen Sinnen. Aber niemand kann berühren, ohne berührt zu werden. Daher kommt die Ehrfurcht, die echter, wacher, dankbarer Berührung eignet.

Rilke sieht diese Ehrfurcht in der Art, wie die Figuren im Bildwerk griechischer Grabsäulen einander berühren:

«Erstaunte euch nicht auf attischen Stelen die Vorsicht
menschlicher Geste? War nicht Liebe und Abschied
so leicht auf die Schultern gelegt, als wär es aus anderm
Stoffe gemacht als bei uns? Gedenkt euch der Hände,
wie sie drucklos beruhen, obwohl in den Torsen die Kraft steht.
Diese Beherrschten wussten damit: so weit sind wirs,
d i e s e s  ist unser, uns  s o  zu  berühren; stärker
stemmen die Götter uns an. Doch dies ist Sache der Götter.»[4]

Wer ehrfürchtig an-greift, wird zugleich ergriffen vom göttlichen Gegenüber, mit jener bräutlichen Ergriffenheit, die weise macht.

Es ist unmöglich, Sinnliches und Übersinnliches
säuberlich auseinanderzuhalten.
Wir finden das eine im anderen.

Nur glühend dankbare Lebensfreude kann diese Verschmelzung zustande bringen.

Das ist eine tägliche Aufgabe, ein Training, welches uns von Augenblick zu Augenblick herausfordert:

Ich esse eine Mandarine, und schon beim Abschälen spricht der leichte Widerstand der Schale zu mir, wenn ich wach genug zum Horchen bin.

Ihre Beschaffenheit, für Duft, sprechen eine unübersetzbare Sprache, die ich erlernen muss.

Jenseits des Bewusstseins, dass jede kleine Spalte ihre eigene, besondere Süße hat (auf der Seite, die von der Sonne beschienen wurde, sind sie am süßesten), liegt das Bewusstsein, dass all dies reines Geschenk ist.

Oder könnte man eine solche Nahrung jemals verdienen?

Ich halte die Hand eines Freundes in der meinen, und diese Geste wird zu einem Wort, dessen Bedeutung weit über Worte hinausgeht.

Es stellt Ansprüche an mich. Es beinhaltet ein Versprechen. Es fordert Treue und Opferbereitschaft.

Vor allem aber ist diese bedeutungsvolle Gebärde Feier von Freundschaft, die keiner Rechtfertigung durch einen praktischen Zweck bedarf.

Sie ist so überflüssig wie ein Sonett oder ein Streichquartett, so überflüssig wie all die wirklich wichtigen Dinge im Leben.

Sie ist ein überfließendes Wort Gottes, von dem ich Leben trinke.[5]

Sakramentales Leben ist das Geheimnis, dass in unserem riesigen Erd-Haushalt alles mit allem in Verbindung steht, in Myriaden von verschiedenen Wegen, das Leben des heiligen Einen mitten in uns.

Es gibt nur eine Bedingung, um das Leben sakramental sehen zu können:

«Zieh’ deine Schuhe aus!»[6]

Erkenne, dass der Boden, auf dem wir stehen, heiliger Boden ist. Die Schuhe ausziehen ist eine Geste der Dankbarkeit und durch Dankbarkeit kommen wir in sakramentales Leben hinein.

Barfuß gehen hilft wirklich! Es gibt keinen direkteren Weg, mit der Wirklichkeit in Berührung zu kommen als durch den direkten physischen Kontakt.

Zu fühlen wie verschieden es ist, ob man auf Sand geht oder auf Gras, auf glattem, von der Sonne erwärmten Granit, auf dem Waldboden; sich durch die Kieselsteine etwas wehtun lassen, Schlamm durch die Zehen quetschen.

Es gibt so viele Wege, durch die Erde Gottes heilende Kraft dankbar zu spüren.

Immer wenn wir die Abgestumpftheit des Gewöhntseins wegnehmen oder aufhören, Dinge als selbstverständlich zu nehmen, berührt uns das Leben mit seiner ganzen Frische und wir erkennen, dass alles Leben sakramental ist.

Wenn wir unsere Lebendigkeit messen könnten, so wäre der Maßstab sicher unser Berührtsein vom heiligen Einen, dem unerschöpflichen Feuer im Herzen aller Dinge.[7]

«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Zu den schönsten Morgenstunden meines Lebens
gehört das Barfußlaufen durch taufrisches Gras.
Zwar hab ich das gar nicht so oft erlebt,
in meiner Erinnerung aber steigt es immer wieder auf
und ich freue mich daran.
Könnte ich das eigentlich nicht täglich tun?
Du schenkst mir Fantasie genug, die Heilkraft zu fühlen,
die aus dem kühlen, feuchten Rasen aufsteigt;
jeder Grashalm weckt frische Lebendigkeit in meinen Fußsohlen.
Heute soll meine Fantasie mir dienlich sein:
Taufrisches Barfußlaufen (auf dem Bettvorleger)
soll mein freudiges Morgenlob werden. Amen»
[8]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1f., 5, 7f.]

[Ergänzend:

1. Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:

(27:56) Der Tastsinn spielt eine ganz wichtige Rolle auf den Höhepunkten, den Durchgangspunkten unseres Lebens: in der Geburt, in der Liebesbegegnung, beim alten Menschen, im Tod, beim Sterbenden. Die Zärtlichkeit der Berührung. Etwas ungeheuer Wichtiges. Wir haben oft so harte Griffe. Wir denken nur ans Angreifen und nicht ans berührt werden.

(31:32) Wir vergessen allzu leicht, dass die Berührung, der Tastsinn, der Sinn ist, der immer gegenseitig ist. Berührung ist immer gegenseitig. Wir können sehen, ohne gesehen zu werden, wir können hören, ohne gehört zu werden usw., aber wir können nie etwas berühren, ohne selbst berührt zu werden.

Und uns so anrühren zu lassen von den Dingen, die wir berühren, das setzt voraus, dass wir es bewusst tun. Und wenn uns dann etwas berührt, dann wird es uns auch anrühren und wird uns auch zu Herzen gehen. Und darin liegt etwas zutiefst Dialogisches in diesem Sinn des Berührens und des berührt werdens. Wir erfassen etwas nur wirklich, wenn wir uns davon auch berühren lassen.

(34:54) Wenn wir Hausarbeit wirklich mit offenem Herzen tun, dann wird das Aufkehren, das Abstauben, das Zusammenräumen eine Art Liebkosung unserer Wohnung.

Wenn wir mit wirklich offenem Herzen das Geschirr berühren, während wir es abwaschen, dann wird uns auch das zu einem ganz tiefen Erlebnis. Bei der Teezeremonie zum Beispiel in Japan werden schwere Geräte aufgehoben wie wenn sie ganz leicht wären und leichte Geräte als ob sie ganz schwer wären. Wenn wir das einmal beim Geschirrabwaschen versuchen, einen kleinen Teelöffel aufzuheben als wäre er ganz schwer ‒ einen schweren Kessel aufzuheben als wäre er ganz leicht, dann wird uns auch das zu einem neuen Erlebnis. Wir sind dann vielleicht ganz anders darauf eingestimmt, dass das warme Wasser wirklich warm ist und das kalte Wasser wirklich kalt. Durch alle diese Erlebnisse spricht uns die Wirklichkeit an und das kann zu einem viel tieferen Bewusstsein führen.

2. Audios

2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(01:01:13) ‹Dass unsere Hände wären, wie unsere Augen sind› (Rilke, Schmargendorfer Tagebuch) – ‹Erstaunte euch nicht auf attischen Stelen die Vorsicht menschlicher Geste?› (Rilke, Die zweite Elegie) – Das empfängliche Tasten ist das Behüten ‒ letztlich, das Geheimnis hegen: ‹Meine Hand ist dir viel zu breit› (Rilke,
Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I, 76f.) – ‹Ich habe dich bei deiner Hand gefasst und habe dich behütet.› (Jes 42,6)

Rilke in einem Brief: Arco, am 10. März 1899 (Schmargendorfer Tagebuch):

«… denn in unserem Schauen liegt unser wahrstes Erwerben. Wollte Gott, dass unsere Hände wären, wie unsere Augen sind: so bereit im Erfassen, so hell im Halten, so sorglos im Loslassen aller Dinge; dann könnten wir wahrhaft reich werden. Reich aber werden wir nicht dadurch, dass etwas in unseren Händen wohnt und welkt, sondern es soll alles durch ihren Griff hindurchströmen wie durch das festliche Tor des Einzugs und der Heimkehr. Nicht wie ein Sarg sollen uns die Hände sein: ein Bett nur, darin die Dinge dämmernden Schlafes pflegen und Träume tun, aus deren Dunkel heraus ihre liebsten Verborgenheiten reden. Jenseits der Hände aber sollen die Dinge weiterwandern, stämmig und stark, und wir sollen von ihnen nichts behalten als das mutige Morgenlied, das hinter ihren verhallenden Schritten schwebt und schimmert.»

Denn Besitz ist Armut und Angst, Besessenhaben allein ist unbesorgtes Besitzen.

2.2. Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag:
(26:54) Spüren, tasten ‒ Der brennende Dornbusch: ‹Zieh’ deine Schuhe aus› ‒
Deutung des Exils als ‹Gewöhnung›, ‹Abstumpfung›:

«‹Tritt nicht herzu!› Komm nicht näher. Eine rabbinische Auslegung sieht darin eine Zurückweisung unserer Neigung, Gott an diesen oder jenen Ort zu binden.

‹Der Ort, darauf du stehst, ist ein heilig Land.›

Wo immer es auch sei, du stehst auf geheiligtem Ort. Werde dir dessen bewusst!

‹Zieh’ deine Schuhe aus von deinen Füßen!›

Der Schuh aus toter Tierhaut bedeutet für diese Auslegung: Gewöhnung, Abstumpfung.

Nichts sonst kann uns von Gottes Gegenwart trennen. Im Exil sein, verbannt vom heiligen Land, heißt vergessen zu haben, dass wir auf heiligem Boden stehen.

Auch ‹an den Flüssen Babylons›, oder wo auch sonst, stehen wir auf heiligem Boden, solange uns nicht Abstumpfung davon trennt.

Der Name unseres Exils ist nicht Babylon oder Ägypten, sondern Gewöhnung.»[9]

2.3. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Zweites Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
Teil 2:

(13:06) Einander behandeln: Die Hand massieren, den Puls greifen

2.4. Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt:
Tasten, greifen, begreifen, Begriffe im Unterschied zu Ergriffenheit, Rührung ‒ gerührt sein, berühren ‒ berührt sein]

__________________

[1] Erwachende Worte (2023): ‹55 Zauberkraft›, 127

[2] Musik der Stille (2023), 8 und 61

[3] R. M. Rilke: ‹Die Blinde› (Das Buch der Bilder, 2. Buch, 2. Teil)

[4] R. M. Rilke, Duineser Elegien, Die Zweite Elegie

[5] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 71-73, 69, 16; siehe auch Horchen und Gehorchen

[6] Moses und der brennende Dornbusch in Exodus 3,1-6

[7] Sakramentales Leben ‒ «Zieh’ deine Schuhe aus!» (1979), aus dem Amerikanischen Englisch übersetzt von Eve Landis; siehe auch diesen Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 8 ‹Auf heiligem Grund stehen›, 112-119

[8] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 71

[9] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne, 70f.



Quellenangaben

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