Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Es ist unmöglich, Sinnliches und Übersinnliches
säuberlich auseinanderzuhalten.
Wir finden das eine im anderen.
Nur glühend dankbare Lebensfreude kann diese Verschmelzung zustande bringen.
Eine hervorragende Metapher für die sinnliche Erfahrung dessen, was in seiner Sinnfülle unsere Sinne unendlich übersteigt, ist der brennende Dornbusch.[1]
Das wüstentrockene Dorngestrüpp steht in Flammen, trägt die Flammen und erträgt sie; es hat inmitten der Flammen Bestand.
«Wie kommt es, dass dieser Busch brennt und doch nicht verbrennt?»
Mit diesem «großen Gesicht» beginnt die Offenbarung eines unerschöpflichen Geheimnisses: Gottes Gegenwart in der Welt ‒ «non commixtionem passus, neque divisionem», wie die Antiphon der Weihnachtszeit[2] staunend singt:
«Unvermischt und doch untrennbar»,
wird das Göttliche uns zugänglich im Sinnlichen.[3]
Zwei Haltungen neigen dazu, uns für diese Begegnung blind zu machen: Weltlichkeit und Weltentrücktheit. Weltlichkeit sieht bloß den Strauch; Weltentrücktheit sieht bloß das Feuer.
Aber zu sehen, mit den Augen des Herzens, eines inmitten des andern, das ist das Geheimnis von Sakramentalität.
Das Geheimnis ist das Geheimnis von Sakramentalität, das Mysterium, dass das göttliche Leben sich durch alle Dinge vermittelt, genauso wie Sinn durch Worte vermittelt wird.
Die zwei gehören zusammen, Sinn und Wort, Gott und die Welt. Die zwei gehören zusammen, ohne Wenn und Aber, sind untrennbar: Sinn und Wort, Gott und die Welt.
Sakramentalität ist das Geheimnis, dass in unserem riesigen Erd-Haushalt alles mit allem in Verbindung steht, in Myriaden von verschiedenen Wegen, das Leben des heiligen Einen mitten in uns.
Die vielen Gemeinschaften, Kirchen, Kommunen weisen lediglich auf diese eine große Familie Gottes hin, mit mehr oder weniger erfolgreichen Modellen und bruchstückhaften Erkenntnissen davon. Ihre Feiern des Lebens sind auch auf eine Art Sakramente, weil das Leben selbst sakramental ist.
Richtig verstanden sind die Sakramente der christlichen Kirchen nicht in sich abgeschlossene Schachteln göttliche Gnaden vermittelnd.
Sie sind Brennpunkte dieses göttlichen Feuers, das alles Leben sakramental macht.
Es gibt nur eine Bedingung, um das Leben sakramental sehen zu können:
«Zieh’ deine Schuhe aus!»[4]
Erkenne, dass der Boden, auf dem wir stehen, heiliger Boden ist. Die Schuhe ausziehen ist eine Geste der Dankbarkeit und durch Dankbarkeit kommen wir in sakramentales Leben hinein.
Barfuß gehen hilft wirklich! Es gibt keinen direkteren Weg, mit der Wirklichkeit in Berührung zu kommen als durch den direkten physischen Kontakt.
Zu fühlen wie verschieden es ist, ob man auf Sand geht oder auf Gras, auf glattem, von der Sonne erwärmten Granit, auf dem Waldboden; sich durch die Kieselsteine etwas wehtun lassen, Schlamm durch die Zehen quetschen.
Es gibt so viele Wege, durch die Erde Gottes heilende Kraft dankbar zu spüren.
Immer wenn wir die Abgestumpftheit des Gewöhntseins wegnehmen oder aufhören, Dinge als selbstverständlich zu nehmen, berührt uns das Leben mit seiner ganzen Frische und wir erkennen, dass alles Leben sakramental ist.
Wenn wir unsere Lebendigkeit messen könnten, so wäre der Maßstab sicher unser Berührtsein vom heiligen Einen, dem unerschöpflichen Feuer im Herzen aller Dinge.[5]
Es ist nicht so, als ob wir von weit her zum Ort der göttlichen Gegenwart hinpilgern müssten.
Von alters her geheiligte Orte wollen Pilger nur daran erinnern, dass auch jeder andere Ort heilig ist.
Schon mit dem ersten Schritt einer Pilgerfahrt betreten wir heiligen Boden.
Darum ruft die Stimme aus dem brennenden Busch Moses zu:
«Tritt nicht herzu!»
Komm nicht näher!
Eine rabbinische Auslegung sieht darin eine Zurückweisung unserer Neigung, Gott an diesen oder jenen Ort zu binden.
«Der Ort, darauf du stehst, ist ein heilig Land.»
Wo immer es auch sei, du stehst auf geheiligtem Ort.
Werde dir dessen bewusst!
«Zieh’ deine Schuhe aus von deinen Füßen!»
Der Schuh aus toter Tierhaut bedeutet für diese Auslegung: Gewöhnung, Abstumpfung.
Nichts sonst kann uns von Gottes Gegenwart trennen.
Im Exil sein, verbannt vom heiligen Land, heißt vergessen zu haben, dass wir auf heiligem Boden stehen.
Auch «an den Flüssen Babylons», oder wo auch sonst, stehen wir auf heiligem Boden, solange uns nicht Abstumpfung davon trennt.
Der Name unseres Exils ist nicht Babylon oder Ägypten, sondern Gewöhnung.[6]
Die Askese des Raumes fördert die Loslösung in Bezug auf den Ort, wo immer wir auch seien. Ihr Ziel ist,
da wirklich gegenwärtig zu sein,
wo wir gerade sind.
Dies ist der erste Schritt ‒ und wie oft gelingt er uns nicht!
Wir sind uns selbst voraus oder bleiben hinter uns zurück. Vielleicht aber schauen wir weder voraus in eine Zukunft, die noch nicht da ist, noch halten wir an einer Vergangenheit fest, die schon vorbei ist ‒ und sind doch nicht in der Gegenwart.
Wir sind hier und doch nicht hier, weil wir nicht wach sind.
Gegenwärtig zu sein, bedeutet,
zur Wirklichkeit des Ortes aufzuwachen.
«Die Schuhe ausziehen» ‒ das ist die Askese des Raumes.
«Die Schuhe auszuziehen» bedeutet, wirklich dazustehen, in voller Lebendigkeit.
Die Schuhe oder Sandalen, die wir ausziehen, sind aus der Haut toter Tiere gefertigt.
Solange wir sie tragen, ist etwas Totes zwischen den lebendigen Sohlen unserer Füße und dem Boden, auf dem wir stehen.
Dieses Tote abzustreifen bedeutet, Gewohnheit abzustreifen, jenes Gewohntsein, das Gleichgültigkeit und Langeweile mit sich bringt.
Es bedeutet, in ursprünglicher Frische für den Ort wach zu werden, an dem wir stehen.
Zuerst ist dies ein ganz besonderer Ort, der heilige Bezirk, den wir barfuß betreten.
Aber dann kommt der nächste entscheidende Schritt: Wir erkennen, dass wir auf heiligem Boden stehen, wo immer wir die Schuhe ausziehen.
«Rundum in jeder Richtung, soweit Raum reicht, reicht das Heiligtum.»[7]
Pater Damasus[8] wurde nie müde, diese Bibelstelle seinen Mönchen zu zitieren. Wir müssen nur einfach unsere Schuhe ausziehen, dann werden wir dies verstehen.
Ganz deutlich wird dies, wenn der Heilige Benedikt sagt, dass jeder Topf und jede Pfanne im Kloster wie ein heiliges Altargefäß behandelt werden sollte.[9]
Das heißt soviel wie:
«Zieht eure Schuhe aus und erkennt, dass ihr auf heiligem Boden steht; allerorten ist Gottes Tempel.»
Jeder Ort ist heiliger Boden, denn jeder Ort kann Stätte der Begegnung werden, der Begegnung mit göttlicher Gegenwart.
Sobald wir die Schuhe des Daran-Gewöhnt-Seins ausziehen und zum Leben erwachen, erkennen wir:
Wenn nicht hier, wo sonst?
Wann, wenn nicht jetzt?
Jetzt, hier oder nie und nirgends stehen wir vor der letzten Wirklichkeit.[10]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 3, 5f., 10]
[Ergänzend:
Audio Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag:
(26:54) Spüren, tasten ‒ Der brennende Dornbusch: ‹Zieh’ deine Schuhe aus› ‒
Deutung des Exils als ‹Gewöhnung›, ‹Abstumpfung›]
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[1] Exodus 3,1-5 (Lutherbibel 2017):
«Mose aber hütete die Schafe Jitros, seines Schwiegervaters, des Priesters in Midian, und trieb die Schafe über die Wüste hinaus und kam an den Berg Gottes, den Horeb. Und der Engel des HERRN erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch. Und er sah, dass der Busch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt wurde. Da sprach er: Ich will hingehen und diese wundersame Erscheinung besehen, warum der Busch nicht verbrennt. Als aber der HERR sah, dass er hinging, um zu sehen, rief Gott ihn aus dem Busch und sprach: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich. Er sprach: Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land!»
[2] «Mirabile mysterium declaratur hodie:
innovantur nature,
Deus homo factus est;
id quod fuit permansit,
et quod non erat assumpsit:
non commixtionem passus, neque divisionem.»
«Ein wunderbares Geheimnis wird heute verkündet:
Die Natur erneuert sich,
Gott wurde Mensch.
Das, was er war, blieb er,
und das, was er nicht war, nahm er auf.
Er erlitt keine Vermischung und keine Teilung.»
[3] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 69f.
[4] Exodus 3,5
[5] Sakramentales Leben ‒ «Zieh’ deine Schuhe aus!» (1979), aus dem Amerikanischen Englisch übersetzt von Eve Landis; siehe auch diesen Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 8 ‹Auf heiligem Grund stehen›, 112-119
[6] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 70f.
[7] Ezechiel 43,12
[8] Pater Damasus Winzen, der Gründer des Klosters Mount Savour
[9] Siehe auch Dankbarkeit als Schlüsselwort benediktinischer Spiritualität (2018):
«Darum scheint mir manchmal, dass «dankbar leben» sogar unser Motto ‹Ora et labora› ersetzen könnte. Es geschieht ja durch dankbares Leben, dass die Arbeit selbst zum Gebet wird - und alle Geräte des Klosters zu heiligem Altargerät (RB 31,10).»
[10] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Umwelt als Guru (2021), 26f.