Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

kreuz b kraehmer titelCopyright © - Klaudia Menzi-Steinberger 

In seinen «Four quartets» spricht T.S. Eliot von dem Paradox,

«still sein und dennoch vorangehen»

dem Paradox der Hoffnung.[1]

Als Pilger haben wir ein Ziel. Aber der Sinn unserer Pilgerfahrt hängt nicht davon ab, dass wir dieses Ziel erreichen.

Wichtig ist, dass wir in unserer Hoffnung offen bleiben, offen für die Überraschung, denn Gott kennt unseren Weg viel besser als wir selbst.

In diesem Wissen kann unser Herz Ruhe finden, auch während wir weiterwandern.

Hoffnung als die Tugend des Pilgers vereint Stille mit Bewegung.

Das «in Hoffnung ruhen» (Psalm 16,9) ist ganz gewiss nicht jenen vorbehalten, die am Ende des Weges sind. Auf einer Pilgerfahrt ist jeder Schritt das Ziel, denn das Ende geht dem Anfang voraus.

Ruhen wir in der Hoffnung, dann bewegen wir uns laut T. S. Eliot in dynamischer Stille:

... wie eine chinesische Vase
Regungslos und dennoch in sich unendlich bewegt ist.
Nicht das Schweigen der Geige, solange der Ton noch schwingt,
Nicht dies nur, sondern vielmehr ihr Zugleich-Sein,
Und, sagen wir, dass das Ende dem Anfang vorangeht,
Dass Ende und Anfang bestehen von jeher
Noch vor dem Anfang und noch nach dem Ende.

Dass alles immer jetzt ist. ...[2]

Die Spannung der Hoffnung zwischen dem schon jetzt und dem noch nicht ist die Grundlage für ein Verständnis von Pilgerschaft.

Wann immer wir auf etwas stoßen, das Sinn hat, dann ist dieser Sinn schon jetzt und doch noch nicht gegeben. Er ist da, aber er führt immer noch weiter.

Sinn findet man nicht wie Blaubeeren auf einer Waldlichtung ‒ als etwas, das man mit nachhause nehmen und im Einsiedlerglas aufbewahren kann. Sinn ist immer etwas Frisches. Er leuchtet uns plötzlich ein, so wie die Strahlen der Nachmittagssonne plötzlich auf unsere Waldlichtung fallen. So oft wir hinschauen, können wir in diesem Licht immer neue Wunder entdecken.

Was Glaube ist, kann man am besten dadurch deutlich machen, dass man gläubig lebt. Ebenso ist es mit der Hoffnung. Nichts wird uns mehr helfen, Hoffnung zu verstehen, als ein Pilgerleben, als «still sein und dennoch voran(zu)gehen», Tag für Tag.

Die Furcht vor den Gefahren, die uns auf dem Weg begegnen könnten, ist groß und berechtigt; das trifft in noch größerem Maße auf die Furcht vor dem Wagnis der Bindung zu.

Es bedarf großen Mutes, diese doppelte Furcht durch den Glauben zu überwinden.

Wir schaffen es, indem wir den Wagemut des Nomaden mit dem des Siedlers verbinden, und das gibt uns den Mut des Pilgers.

Der zwanghafte Siedler in uns wagt es, sich zu binden, fürchtet sich aber davor, unterwegs zu sein.

Der unstete Nomade in uns wagt den Weg, fürchtet sich aber vor der Bindung.

Nur der Pilger in uns kann diesen Zwiespalt überwinden.

Der Pilger weiß, dass sich jeder Schritt auf dem Weg als das Ziel herausstellen kann, andererseits kann sich das vermeintliche Ziel als doch nur ein Schritt auf dem Weg erweisen.

Dies hält den Pilger offen für Überraschungen. Hoffnung kennzeichnet den Pilger.[3]

Die Pilgerfahrt ist nicht eine Reise.

Der Unterschied ist vielen nicht klar: Die Pilgerfahrt hat unendlich viele Gipfelpunkte, die Reise hat ein Ziel.

Die Pilgerfahrt hat immer dort den Gipfelpunkt, wo ich bin. Jeder Schritt ist sozusagen das Ziel.

Wenn man eine Reise nach Rom oder Jerusalem macht und nicht in Rom ankommt, dann hat man das Ziel der Reise verfehlt, und dann war es eine verfehlte Reise. Aber wenn man eine Pilgerfahrt nach Jerusalem macht, dann kommt man unter Umständen gar nicht hin oder kommt schon mit dem ersten Schritt an sozusagen.

Leo Tolstoi erzählt die Geschichte von zwei alten russischen Bauern, die sich auf eine Pilgerfahrt nach Jerusalem machen. Wochenlang wandern Sie von Dorf zu Dorf, immer in Richtung auf das Schwarze Meer, wo Sie hoffen, ein Schiff in das Heilige Land zu finden. Aber bevor Sie den Hafen erreichen, werden Sie voneinander getrennt.

Während der eine an einem Häuschen anhält, um seinen Wasserschlauch zu füllen, geht der andere noch ein Stück weiter, lässt sich dann im Schatten nieder und ist bald eingeschlafen. Als er aufwacht, fragt er sich: «Ist mein Freund noch hinter mir? Nein, er muss mich überholt haben, als ich hier schlief.»

In der Hoffnung, seinen Freund einzuholen, geht er weiter. «Spätestens beim Warten auf das Schiff werden wir uns wiederfinden», denkt er.

Aber im Hafen findet sich keine Spur des Freundes. Tagelang wartet er, dann segelt er allein ins Heilige Land.

Erst in Jerusalem holt unser Pilger doch noch den anderen ein. Er sieht ihn ganz vorne beim Altar, aber bevor er sich einen Weg durch die Menge der Pilger bahnen kann, verliert er seinen Freund wieder aus den Augen. Er fragt nach ihm, doch niemand weiß, wo er wohnt.

Ein weiteres Mal sieht er ihn in der Menge, und noch ein drittes Mal, näher den heiligen Stätten, als er selbst herankommt. Aber niemals holt er ihn ein, und als die Zeit kommt, Jerusalem zu verlassen, da muss er sich allein auf die Heimreise machen.

Viele Monate später kehrt er heim ins Dorf. Und da ist auch sein verlorengegangener Reisebegleiter. Er war ja gar nicht in Jerusalem gewesen. In jenem Häuschen, bei dem er angehalten hatte, um etwas Wasser zu bekommen, fand er eine ganze Familie, die im Sterben lag. Sie war arm und verschuldet, krank, fast verhungert und sogar zu schwach, um sich selbst Wasser zu holen. Mitleid überwältigte ihn. Er machte sich auf und brachte ihnen Wasser, kaufte Lebensmittel und pflegte Sie gesund. Jeden Tag dachte er: «Morgen werde ich meine Pilgerfahrt fortsetzen.»

Als er ihnen aber geholfen hatte, ihre Schulden zu bezahlen, da blieb ihm gerade genug Geld, um nachhause zurückzukehren.

Der andere Alte, der ihn in Jerusalem gesehen hatte, fragte sich nun, wer von ihnen das wahre Ziel der Pilgerfahrt erreicht habe.[4]

[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 3f.]

[Ergänzend:

1. Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Demut ‒ Der Weg zum Gipfel:
(05:46) Pilgerfahrt im Unterschied zur Reise: ‹Die beiden Alten› (Leo N. Tolstoi) ‒ (11:16) ‹Das Leben ist ja Pilgerschaft, wenn man es richtig versteht, und es kommt nur darauf an, im gegebenen Augenblick das zu tun, was das Leben uns aufgibt›

2. Common Sense: Was dem Common Sense im Weg steht (2014), 94f.:

«In jedem von uns steckt einer, der sesshaft werden möchte, und einer, der suchend unterwegs bleiben will.

Hinter beiden Antrieben steckt ein Stück Angst. Der Sesshafte hat Angst vor Veränderung; der Sucher und Entdecker hat Angst vor Langeweile.

Als Abenteurer können wir derart vom Suchen besessen sein, dass wir auf keinen Fall etwas finden wollen, denn damit hätte ja unser Suchen ein Ende.

Als Sesshafte dagegen können wir so sehr auf das Finden aus sein, dass wir das Suchen vorschnell abbrechen.

In Wirklichkeit sind wir dazu bestimmt, Pilger zu sein. lm Pilgern sind der Sesshafte und der Sucher vereint.

Pilger brauchen zweierlei Art von Mut: den Mut des Abenteurers, über das Vertraute hinauszugehen, und den Mut des Sesshaften, sich in der Gegenwart daheim zu fühlen.

Auf einer Pilgerfahrt ist jeder Schritt schon ein Ziel und jedes Ziel kann sich wiederum als Schritt auf einem Weg erweisen, der immer wieder weiter führt.

Als Pilger müssen wir überall und zugleich nirgends daheim sein; genau aus diesem Grund dürfen wir uns an nichts endgültig klammern.

Dieses Anklammern ist unser eigentliches Hindernis auf der Pilgerfahrt durchs Leben. Wir klammern uns immer dann spontan an etwas, wenn wir Angst haben.

Das ist ein naturgegebener und gesunder Reflex. Wenn Sie erschreckt werden, versuchen bereits neugeborene Kinder, sich mit Armen und Beinen an die Mutter zu klammern.

Dieser Instinkt resultiert womöglich aus einer Zeit, in der es überlebenswichtig war, sich an die Mutter zu klammern, die von Ast zu Ast sprang. Diesen Instinkt behalten wir zeitlebens bei.

Sobald Gefahr droht, greifen wir nach etwas und klammern uns daran, nicht nur physisch, sondern auch mental.

Alles Neue wirkt zunächst immer gefährlich.

Wir brauchen eine gewisse Zeit, um unsere rein instinktive Reaktion überwinden zu lernen.

Wollen wir reifer und weiter werden und neues Gelände betreten, dann müssen wir zwangsläufig lernen, Altes und Vertrautes loszulassen.»

3. Audio und Texte zum Pilger-Ritual

3.1. Audio Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Vortrag und wortgetreue Mitschrift:
Die Mystische Erfahrung ist religionsschöpferisch (04
Mitschrift):

(08:56) «Und Sie selbst auch wieder in ihrer eigenen Privatreligion, wenn Sie wollen, feiern Sie Ihre mystischen Erlebnisse. Nehmen wir an, Sie haben so ein mystisches Erlebnis auf einem bestimmten Berg erfahren, ein Gipfelerlebnis:

Es ist sehr leicht möglich, dass Sie immer wieder einmal ‒ sagen wir zu einem besonders festlichen Anlass ‒ zu diesem Berg zurückwandern. Sie wollen das wiedererleben.

Sie können es vielleicht nicht einmal mehr wiedererleben, aber Sie machen eine Pilgerfahrt oder Sie erinnern sich an diesen Tag: Sie haben schon einen rituellen Kalender begonnen: Es ist nur der Beginn, aber der Beginn ist da.»

3.2. Schönheit aus: Auf dem Weg der Stille (2016), 137f.:

«Mit etwas Schönem tritt unser ganzes Wesen in Resonanz, so wie vielleicht ein kristallener Lampenschirm jedes Mal klirrt, wenn man auf dem Klavier ein Cis-Dur anschlägt.

Wenn dieses Gefühl der Resonanz (oder unter anderen Umständen der Dissonanz) unsere Interaktion mit der Welt bestimmt, sprechen wir von Emotionen.

Wie freudig treten die Emotionen mit der Schönheit unserer mystischen Erfahrung in Resonanz!

Je stärker Sie anschlagen, desto intensiver genießen wir diese Erfahrung. Es kann dann sein, dass wir uns noch nach vielen Jahren genau an den entsprechenden Tag und die Stunde erinnern.

Vielleicht gehen wir dann wieder zu der Gartenbank, auf der uns der Gesang einer Drossel ganz hingerissen hatte.

Auch wenn wir diesen Vogel womöglich nie mehr hören, kann uns das trotzdem zum Ritual werden, und damit ist dann eine Art von Pilger-Ritual an einem für uns ganz persönlichen heiligen Ort entstanden.»

3.3. Religionen ‒ drei Ausdrucksformen, in Ergänzend: 3.5., aus Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 180:

«Überprüfen Sie dies anhand Ihrer eigenen Erfahrung.

Manche Rituale da draußen, in den traditionellen historischen Religionen, mögen bizarr anmuten.

Doch vielleicht zelebrieren Sie alle Jahre wieder eine tiefe spirituelle Erfahrung. Nun, dann haben Sie einen rituellen Kalender, so wie die meisten Religionen.

Vielleicht kehren Sie ständig an den Ort zurück, an dem diese Erfahrung Sie überwältigt hat.

Nun, dies ist dann das Ritual des Pilgerns.

Angenommen, Sie haben dieses Erlebnis an einem Strand gehabt, dann ist jeder Strand auf dieser Welt nun ein heiliger Ort für Sie, weil er Sie immer an diese Erfahrung denken lässt.

Auch ein Baum kann auf diese Weise für Sie ein heiliger Baum werden. Das Ritual ‒ das lebendige Ritual ‒ ist die Zelebrierung des mystischen Erlebnisses. Es ist ein Gedenken an dieses Erlebnis.»]

__________________________

[1] T. S. Eliot: Four quartets: East Coker, V; siehe auch in Stillehalten

[2] T. S. Eliot: Four quartets: Burnt Norton, V; siehe auch in Stillehalten

[3] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 114-116, 118, 112f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 114-116, 118, 112f.]

[4] Audio in Ergänzend: 1 und Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 113f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 113f.]: ‹Die beiden Alten› (Novelle von Leo Tolstoi)



Quellenangaben

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