Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Noch bevor die Christen als solche bezeichnet wurden, waren sie als die «Weggemeinschaft» oder «die Leute, die auf dem Weg sind» bekannt.
Damit war der Weg der Erlösung gemeint.
Sie nannten ja auch Jesus nicht nur den «Erlöser», sondern auch den «Weg» ‒ den Weg in die Freiheit, könnten wir sagen. Das Ziel dabei ist die Freiheit.
Dieses Wort drückt besser aus, was mit Erlösung eigentlich gemeint ist, nämlich Befreiung.
Schon sich auf den Weg machen, wirkt bereits befreiend.
Stetig voranzuschreiten führt uns aber zu immer größerer Freiheit.
Verbundenheit befreit.
Und gläubiges Vertrauen verbindet uns mit dem Großen Geheimnis.
Hoffnungsvolle Bereitschaft, Schritt für Schritt authentischer zu werden, verbindet uns mit unserem wahren Selbst.
Und unser liebendes Ja zur Zugehörigkeit verbindet uns mit allen Lebewesen.
Diese drei Bande der Verbundenheit aber zerreißt die Sünde.
Erlösung aber erleben wir ‒ als Gabe und Aufgabe zugleich ‒ in drei Formen der Verbundenheit.
Der Glaube befreit unser Herz durch Vertrauen auf die absolute Vertrauenswürdigkeit Gottes.
Die Hoffnung erlöst uns durch die Offenheit für Überraschung auf jedem Schritt des Weges.
Und die Liebe heilt uns durch die Herzenswärme, mit der wir das Ja Gottes empfangen und tatkräftig weiterschenken.
Letztlich geht es um das «Wirklichwerden», dieses Wort fasst eigentlich das Wesen von Erlösung am besten zusammen.[1]
Wenn wir uns nach der Ganzheit und Harmonie sehnen, die entstehen, sobald wir ganz für jeden unserer Augenblicke da sind, so haben wir doch gleichzeitig auch Angst davor.
Wo immer wir den reinen Ruf des Augenblicks erleben und jedes Mal, wenn wir der nackten Wirklichkeit gegenüberstehen, erzittern wir.
Wir haben uns daran gewöhnt, die alltäglichen Düfte der Kompromisse in uns aufzunehmen und uns durchzumogeln ‒ werden wir plötzlich herausgefordert, reinen Sauerstoff einzuatmen, fürchten wir, gleich zu verbrennen.
Deshalb sagte Rilke: «Jeder Engel ist schrecklich.»
Und doch, was könnte schöner sein als ein Engel?
Überwältigende Schönheit ist nicht hübsch. Eher ist es die Schönheit eines Gewittersturms: Er ist faszinierend und zugleich auch zum Fürchten.
«Denn das Schöne», sagt Rilke, «ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.»[2]
Wir sehnen uns nach einer Begegnung mit dem Engel. Wir sehnen uns nach einer echten Begegnung mit der Wirklichkeit, und doch fürchten wir uns gleichzeitig davor, genauso wie wir Angst vor der überwältigenden Erfahrung haben, uns zu verlieben.
Wir fliehen davor und werden dennoch unwiderstehlich davon angezogen.
T. S. Eliot bemerkt: «Die Menschen ertragen nicht sehr viel Wirklichkeit.»[3]
Warum haben wir Angst, im Jetzt zu leben?
Wir fürchten uns, wirklich zu werden, genau wie die Spielsachen im Kinderbuch «Der Plüschhase»:[4]
Sie wollen alle wirklich werden ‒ das ist der größte Traum der Spielsachen. Zugleich fürchten sie sich davor, und deshalb fragen sie ein erfahreneres Spielzeug:
«Tut Wirklichwerden weh?»
Das ist dieselbe Angst, die wir haben. Tut die Begegnung mit der Wirklichkeit weh?
Das alte Spielzeug gibt weise zur Antwort:
«Wenn du wirklich bist, macht es dir nichts aus, dass es weh tut.»[5]
Unsere Erlösung beginnt mit der Besinnung und Rückbindung auf das Große Geheimnis, das uns alle verbindet. Aus dieser Verbundenheit heraus erwächst die Kraft des Guten zur Heilung unserer Umwelt sowie auch unserer Mitwelt.
Im privaten Leben heißt das:
Ich muss Verschuldung durch Vergebung gleichsam «auffüllen»,
Unversöhnlichkeit durch Verzeihung
Missmut durch Freudigkeit.
Auch Diskriminierung ist letztlich auf einen Mangel zurückzuführen, den Mangel an Einfühlungsvermögen.
Hier braucht es Aufklärung und Herzensbildung, aber die können wir wohl nur einer neuen Generation durch entsprechende Schulbildung vermitteln.
Erlösung vom Bösen fordert jedenfalls unseren ganzen Einsatz nicht nur auf der persönlichen Ebene, sondern ganz besonders auf der gesellschaftlichen.
Wenn wir mit der gleichen Herzenswärme die uns am nächsten ebenso wie die uns am fernsten Stehenden umarmen, dann schenkt uns das eine ungeahnte innere Weite und Freiheit.
In diesem Sinne können wir alle Vermittler der heilenden Kraft des Großen Geheimnisses sein, einer Kraft, die durch den ganzen Kosmos fließt. Und in diesem Sinne sind wir alle Priesterinnen und Priester.
Je mehr ich diese heilende, erlösende Kraft durch mich selbst hindurchfließen lasse, umso mehr macht mich das auch selbst mehr und mehr heil.
Brigitte Kwizda-Gredler: «Wenn wir diese erlösende Kraft fließen lassen und weitergeben, werden wir also ganz durchlässig für das Große Geheimnis.»
Bruder David: «Dazu fällt mir ein berührendes Beispiel ein. Zur Zeit, als die Schifffahrt noch die einzige Reisemöglichkeit zwischen Amerika und Europa war, stand meine Mutter im Hafen von New York an Deck der «Bremen». Unten am Pier bemerkte sie den tränenreichen Abschied einer großen italienischen Familie, die eine schwerbehinderte junge Frau im Rollstuhl einer Gruppe von Mitreisenden anvertraute. Im Laufe der Überfahrt nahm sich meine Mutter der jungen Frau an, die ihre winzige und überhitzte Kabine am untersten Deck nur mit großer Mühe verlassen konnte. Dabei erfuhr sie, dass sich die Familie nur ein einziges Ticket leisten konnte, und darum musste die Tochter alleine nach Lourdes reisen. In Frankreich angekommen, schiffte sich die Pilgergruppe, der Teresa anvertraut war, mit ihr in Le Havre aus. Meine Mutter blieb noch bis Hamburg an Bord, konnte aber lange nicht vergessen, mit welcher felsenfesten Hoffnung die Kranke um Heilung am Gnadenort gebetet hatte. Nach vielen Monaten kam ein Brief von Teresa: Sie hatte Lourdes nie erreicht. Kein Wort darüber, unter welchen Umständen sie alleine in einem Pariser Hotelzimmer zurückgelassen wurde. Doch schon das armselige Briefpapier schien zu strahlen: Aus dem Brief sprach nichts als überströmende Dankbarkeit für all die Hilfe und Segnungen, die Teresa von unzähligen hilfsbereiten Menschen erfahren hatte. Nichts als Freude, nun wieder mit ihrer Familie in den USA vereint zu sein. Der Brief sprach überhaupt nicht von Vergebung oder Heilung, aber er gab Zeugnis von Erlösung durch Liebe. Und bei Erlösung kommt es letztlich nur auf die Liebe an.[6]
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer dem alles zuströmt!
Je wacher ich werde, umso klarer erkenne ich meine persönliche Schuld.
Nicht im Sinne kindischer Schuldgefühle und Angst vor Strafe, sondern so:
Das Leben verschenkt sich an mich, ich aber knausere.
Ich bleibe dem Leben etwas schuldig: mein Ja zur Welt, wie sie ist ‒ herrlich und schrecklich zugleich.
Aus Furcht versage ich meine volle Hingabe.
Heute aber will ich beginnen, meine Schuld zurückzuzahlen ‒ an einer Stelle wenigstens will ich mich großzügig verschenken.
Zeig du mir die rechte Stelle. Ich werde tatbereit Ausschau halten. Amen.»[7]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 5-7]
[Ergänzend:
2. Audios
2.1. Interreligiöser Dialog (2014)
Gespräch, Fragen nach dem Vortrag:
(00:49) Verlässlichkeit und Lebensvertrauen in Extremsituationen
2.2. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(15:21) Loslassen – Ganz in diesem Augenblick leben – Verlust hat bei schöpferischen Menschen erst das Beste herausgebracht, das Beispiel von Helen Keller / (17:59) Leiden in unserem Herzen aufheben – Das Leben gibt uns nie Aufgaben, ohne uns auch die Kraft zu geben, diese Aufgaben zu bewältigen. Auf diese Kraft können wir uns verlassen / (20:22) Das Glaubensleben ist eine durch Krisen fortschreitende Verinnerlichung / (23:22) Um den Glauben beten heißt, um Lebensvertrauen zu beten: Erlebnisberichte / (27:29) Flow, Yoga, Zen: Wenn es wahr ist und hilft, frag nicht, wer es gesagt hat, es kommt immer vom Hl. Geist (Kirchenvater)
2.3. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen ‒ Ausklang mit Rilke Gedichten und dem Thema Reinkarnation:
(11:25) ‹Blumenmuskel, der der Anemone Wiesenmorgen› (Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, V) ‒ ‹Meine Seele ist ein Weib vor dir› (Rilke, Das Stunden-Buch) ‒ ‹Was lehrt, was nährt das Leben? Lebendigkeit, Was lehrt, was nährt das Lebendigsein? Das Leben: Dieser Kreis der Liebe: Liebe ist das Ja zum Leben, das Ja zur Zugehörigkeit, das Ja zur Gemeinsamkeit ‒ Die Bekehrung ist der Übergang von der Gewalttätigsein zum Mitspielen, zum Mit-dem-Strich-des Lebens gehen, zur Offenheit, zur Empfänglichkeit›
(14:48) ‹Wir sind die Treibenden› (Rilke: Die Sonette 1. Teil, XXII): ‹Sich in dieses Ausgeruhtsein einsinken lassen, das ist Gebet. Gebet im Unterschied von den Gebeten, die Mittel zum Zweck sind. Ausgeruhtsein ist die Voraussetzung zum Handeln›
(17:20) ‹O erst dann, wenn der Flug› (Rilke, Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XXIII): Das ‹reine Wohin› ist, was wir hier Leben genannt haben oder Hl. Geist. Wenn wir mit dem ‹reinen Wohin› gehen, dann gehen wir mit dem Strich, mit dem Fluss, mit dem Strom des Lebens. Und die Bekehrung ist der Übergang von dem gegen den Strich gehen, vom ‹unreinen Wohin› zu dem ‹reinen Wohin›
3. Weitere Texte
3.1. Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 4 «Mit Körper, Denken und Geist lebendig sein», 68f.; siehe auch in Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht, Ergänzend: 3.3.:
«Vergegenwärtigen Sie sich für einen Augenblick einen Moment größten Lebendigseins in Ihrem Leben, einen Augenblick echter, im Körper verwurzelter Achtsamkeit, einen Augenblick, in dem Sie an die Wirklichkeit gerührt haben. Danach bemisst sich der Grad, in dem wir lebendig und geistlich in dieser Welt sind, der Grad, in dem wir in Berührung mit der Wirklichkeit sind.
T. S. Eliot sagte: ‹Der Mensch kann nicht viel Wirklichkeit aushalten.›[8] Aber in verschiedenen Graden können wir die Wirklichkeit aushalten, und die Lebendigsten von uns haben es fertiggebracht, mehr Wirklichkeit auszuhalten als die anderen. Was wir aber möchten, ist, dass wir fähig werden, in Berührung mit der Wirklichkeit zu kommen, mit der ganzen Wirklichkeit, und nicht bestimmte Aspekte abblocken zu müssen.»
3.2. Musik der Stille (2023): ‹Vesper: Das Lichteranzünden›, 122f.:
«Der Höhepunkt der Vesper[9] ist das Singen des Magnifikat, jenes Liedes im Lukas-Evangelium, das Maria zur Begrüßung ihrer Base Elisabeth singt:
‹Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.›
Dieses Lied, das Gott für unsere Rettung und letztendliche Versöhnung preist, wird jeden Tag das ganze Jahr hindurch zur Vesper gesungen. Der Abendgottesdienst sieht in der mütterlichen Gestalt Mariens die Mütterlichkeit Gottes, der uns bedingungslos liebt wie eine Mutter. Das Magnifikat zur Vesper entspricht der Hymne des Zacharias, die sich im selben Kapitel bei Lukas findet und in den Laudes gesungen wird. Dort verkündet Zacharias:
‹Gepriesen sei der Herr ... Denn er hat sein Volk besucht und ihm Erlösung geschaffen.›
Diese beiden großen Hymnen sind die Pfeiler des Morgens und des Abends, die den Tag stützen, und in beiden feiern wir unsere Erlösung.
Die Wurzel der Erlösung ist die Heilung des Grabens, der sich durch die Welt zieht, jener Spaltung, die wir als Entfremdung uns selbst und anderen gegenüber erleben und die uns von unserem Wesenskern fernhält; wir empfinden die Gesänge intuitiv als Gegenmittel.
Schon das Anhören des Gregorianischen Gesangs wirkt versöhnlich. Auch andere Musik kann uns besänftigen und uns verwandeln.
Diese Gesänge aber, die Klang gewordenes Gebet sind, wirken mit einer ganz besonderen Kraft auf uns.
Wir sind nie frei von Konflikten oder Widersprüchen, aber gemeinsames Beten und Singen heilt und versöhnt.»]
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[1] Das Vaterunser (2022): ‹Das Böse als das noch nicht Gute›: Gespräch von Brigitte Kwizia-Gredler mit Bruder David, 105f.
[2] R. M. Rilke, Duineser Elegien, Die Erste Elegie
[3] «Go, go go, said the bird: human kind
Cannot bear much reality.
Time past and time future
What might have been and what has been
Point to one end, which ist always present.»
(T. S. Eliot, Four Quartets, Burnt Norton, I)
[4] Siehe auch in Das Vaterunser (2022), 106:
«In dem klassischen Kinderbuch von Margery Williams ‹The Velveteen Rabbit›, das es als ‹Der Samthase› auch auf Deutsch gibt, reden bei Nacht die Puppen und Teddybären über ihren sehnlichsten Wunsch: wirklich zu werden. ‹Tut Wirklichwerden weh?›, fragen sie das alte, erfahrene Schaukelpferd. Das aber weiß: Einem, der wirklich wird, macht es nichts aus, dass das wehtut.»
[5] Musik der Stille (2023): ‹Einführung›, 26f.; ebenso in Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht: Ergänzend: 3.4.
[6] Das Vaterunser (2022): ‹Das Böse als das noch nicht Gute›: Gespräch von Brigitte Kwizda-Gredler mit Bruder David, 107-109
[7] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 23
[8] Bernardin Schellenberger übersetzt «reality» mit «Realität». Aber es geht um die numinose Wirklichkeit im Unterschied zu Realität im gängigen Sprachgebrauch des Wortes.
[9] Unter der ‹Vesper› (vom Lateinischen ‹vespera›: Abend) wird das kirchliche Abendlob verstanden. Die Vesper ist jenes Gebet, das nach Abschluss der Arbeit des Tages verrichtet wird.