Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

geheimnisCopyright © - Klaudia Menzi-Steinberger

Beginnen wir mit einer Art von Erfahrung, die mehr Beachtung verdient, als man ihr gewöhnlich schenkt.

Es handelt sich dabei um oft dramatische Ereignisse, bei denen wir gar nicht Zeit haben, Entscheidungen zu treffen, und doch spontan genau das tun, was die Situation verlangt ‒ manchmal mit ganz außergewöhnlicher Kraft und Geschwindigkeit:

Ein Feuerwehrmann springt in die Flammen und rettet einen Erstickenden; eine Mutter reißt ihr Kind vor einem heranrasenden Schnellzug von den Schienen.

Später weisen beide jede Anerkennung zurück:

«Es war schon geschehen,
bevor wir überhaupt Zeit hatten, nachzudenken»,

sagen sie.

«Sie hatten nicht Zeit» nachzudenken.

Das ist der erste springende Punkt.

Wir dürfen den Satz auch umkehren und sagen:

«Die Zeit hatte sie nicht»

in ihrem Netz, denn sie waren ganz im Jetzt. Darum war die Entscheidung einfach da.

Und das ist der zweite springende Punkt: Wenn wir im Jetzt sind, ist die Entscheidung schon Tatsache ‒ auch in dem Sinn, dass die Scheidung von Ich und Selbst, die mich zum Ego macht, aufgehoben ist.

Sobald ich im Jetzt bin, kann die Kraft des Lebens frei durch mich durchfließen.

Das ist wahre Freiheit.

Sobald ich im Jetzt bin, steht die angemessene Vorgehensweise klar vor mir und ich bin dafür bereit.

Was im entscheidenden Augenblick der Feuerwehrmann und die Mutter auf so außergewöhnliche Weise erlebten, das können wir alle, wenn auch weniger auffällig, im Alltag erleben, wann immer wir wirklich im Jetzt sind:

Ich und Selbst handeln dann als eine Einheit ‒ die Entscheidung entspringt wie von selbst den Gegebenheiten.

«Wie ist das gemeint?», wird sicherlich jemand fragen.

«Muss ich überhaupt noch entscheiden, wenn die Kraft des Lebens frei durch mich durchfließt?»

Die Lebenskraft bewerkstelligt täglich tausende lebenswichtige Aufgaben für dich, die weit über deinen Verstand hinausreichen.

Sie reguliert deine Körpertemperatur, deinen Blutdruck, deinen Stoffwechsel und trifft unzählige andre dir unbewusste Entscheidungen.

Dich bei bewussten Entscheidungen in diese Wirkkraft einzublenden, kann Mühe kosten.

Wenn es sich um gewichtige Entscheidungen handelt, kann es sogar schwierige Erwägungen erfordern und langwierige Besprechungen mit andren, die von deiner Entscheidung betroffen werden.

Aber die eigentliche Entscheidung ist schon getroffen. Sie lautet:

«Ich will mich auf die Weisheit des Lebens verlassen.»

Daher geht es nun nur noch um ein fragendes Hinhorchen:

«Was will das Leben jetzt von mir?» ‒

Es geht um ein vertrauensvolles Sich-Verlassen auf die Weisheit des Lebens.

Und es geht darum, immer wieder ins Jetzt zurückzukehren.

Wenn du deine Aufgabe so verstehst, kannst du die «Qual der Wahl» dem Leben überlassen und die Last der Entscheidung fällt von deinen Schultern.

«Sich auf die Weisheit des Lebens verlassen»
und «ins Jetzt zurückkehren» ist ein und dasselbe.

Denn was du verlässt, wenn du «dich verlässt», ist das Ego.

Es gibt freie und unfreie Handlungen.

Ich-Selbst bin immer frei; mein Ego nie.

Das Ego will mit Gewalt starr und eigensinnig seine Pläne durchsetzen, wird dabei aber von der Strömung des Lebens überrollt.

Das «lch-Selbst» schwimmt in dieser Strömung, sie vertrauensvoll, zielbewusst, geschickt und vor allem gewaltfrei nutzend.

Die einzig wahre Freiheit ist Gewaltfreiheit ‒ das lch-Selbst tut der Wirklichkeit keine Gewalt an.

Die einzig freie Entscheidung ist die Heimkehr des Ich zum Selbst ‒ seine Befreiung aus der Scheidung zwischen den beiden, die es zum Ego machte.

Furcht will sich an die Vergangenheit klammern, Wunschträume schweben in der Zukunft herum, aber nur im Jetzt können wir uns nüchtern den Forderungen des Lebens stellen.

Das Ego ist niemals im Jetzt; es ist immer in Vergangenheit oder Zukunft verfangen.

Aber indem ich mich im Jetzt sammle, komme ich heim zu mir selbst ‒ zum lch-Selbst.

Das Selbst ist eins und macht uns alle eins.

Als «lch-Selbst» handle ich aus dem Bewusstsein dieses Eins-Seins mit allen.

Aber dieses «radikale Ja zur Zugehörigkeit» ist unsre Definition für Liebe.

Kein Wunder also, dass das Wort «frei» ‒ wie auch «Freund» ‒ von einer indogermanischen Wurzel stammt, die «lieben» bedeutet.

Und kein Wunder, dass der heilige Augustinus sagen kann:

«Liebe und tue, was du willst.»

Freiheit ist nicht die Fähigkeit des Egos, das zu tun, was ihm in den Sinn kommt ‒ willkürlich.

Echte Freiheit stellt sich ‒ bereitwillig ‒ auf das innerste Leitprinzip des Lebens ein.

Sie sagt in Liebe «ja» zur Gemeinschaft aller mit allen und kann daher tun, was sie will.

Östliche Weisheit verweist auf diesen natürlichen Fluss der Dinge als das Tao.

«Watercourse Way» nennt Alan Watts das Tao auf Englisch.

Fließweg könnten wir es vielleicht nennen ‒ ein schönes deutsches Wort, das Geologen bei der Beschreibung von Flüssen verwenden, obwohl es nur Fachwörterbücher zu kennen scheinen.

Um mit dem Tao zu fließen, müssen wir zu unsrer ursprünglichen Geisteshaltung, zum «Anfängergeist» des Kindes zurückfinden.

Als Baby bist du ganz selbstverständlich sowohl im Fluss des Lebens als auch im Jetzt.

«Du hast noch kein lch, das sich von dem,
was geschieht, unterscheidet»,

wie Alan Watts es ausdrückt.

«Deshalb geschieht dir auch nichts. Es geschieht einfach.»

Du nimmst teil, sagt er, an

«den wundervollen Tanzfiguren... fließenden Wassers.»

Später gewinnen wir ein reflektiertes Bewusstsein von Ich und Selbst, aber gleichzeitig verlieren wir dieses Im-Fluss-Sein.

Dieser Verlust lässt sich jedoch vermeiden.

Wann immer wir im Jetzt sind, sind wir auch als Erwachsene im «Fließweg».

Dann fließt unsre Entscheidung im Einklang mit dem Universum ‒ nicht durch irgendwelche Magie, sondern durch unser vernünftiges Eingehen auf die Gelegenheit, die das Leben uns hier und jetzt bietet.

Wie beim Baby «geschieht einfach» das Lebensbejahende, aber wie bei der oben erwähnten Mutter und dem Feuerwehrmann geschieht es mit unsrer Zustimmung.

Unsre willige Entscheidung ‒ was immer sie betrifft ‒ wird von der Lebenskraft getroffen, die frei durch uns durchfließt.

Wie können wir aber sicher sein, dass wir im Einklang mit dem Universum entschieden haben?

Leider lautet die ernüchternde Antwort: 100% sicher zu sein, können wir niemals erwarten.

Wenn wir uns dessen bewusst bleiben, wie vieles in jede Entscheidung hineinspielt und wie geschickt wir uns selber, beeinflusst von schlechten Gewohnheiten, etwas vormachen können, dann werden unsre Erwartungen bescheidener ausfallen.

Wir werden uns ehrlich bemühen, unser Bestes zu tun, und alles Übrige vertrauensvoll dem Leben überlassen. Erst dann sind wir wahrhaft frei.

Diesen Befreiungsprozess immer besser verstehen und ihm immer getreuer folgen zu lernen, ist eine lebenslange Aufgabe.[1]

«Und was du über die Zeit gesagt hast, das gibt den meisten Menschen einen verhältnismäßig leichten Einstieg zu dem, denn wir sind uns dessen bewusst, dass wir sehr selten wirklich im gegenwärtigen Augenblick sind.

Wir hängen an der Vergangenheit und wir strecken uns auch aus auf die Zukunft und es bleibt sehr wenig von unserem Bewusstsein übrig, um wirklich in der Gegenwart zu sein.

Wenn wir lernen können, einfach hier zu sein, nicht viel zu denken, — unser Denken führt uns nicht dorthin, unser Denken lenkt uns ständig ab vom Bewusst-sein.

Wir sprechen vom Bewusstsein und denken ans Denken, wir sollten die Betonung auf das Sein legen, das bewusste Sein, wo das Denken keine große Rolle mehr spielt.

Wir können das Denken verwenden wie ein Werkzeug, aber jetzt ‒ wie die meisten von uns das erleben ‒ werden wir das Werkzeug des Denkens.

Alle großen Erfindungen werden gemacht, ohne dass der Erfinder denkt.

Er denkt sehr viel vorher und nachher, aber die wirkliche Erfindung bricht durch in einem Augenblick, in dem man nicht denkt.

Alle großen künstlerischen Schöpfungen kommen von irgendwo, aber jedenfalls nicht aus dem Denken.

Und so auch für uns.

Wenn wir lernen können, das Denken als Werkzeug zu gebrauchen, und nicht immer vom Denken versklavt zu sein, dann können wir auch im gegenwärtigen Augenblick bewusst sein.»[2]

(Eröffnungsvortrag 24:59:) Und die Lebensreise ist das Leid. ‒

Das überrascht uns ‒ vielleicht ‒, besonders, wenn wir noch jung sind. Es ist aber auch in der Philosophie, die in unserer Sprache enthalten ist, völlig klar angelegt.

Denn «Leiden» heißt ursprünglich: «gehen», «fahren», «reisen».

Leiden hat ursprünglich überhaupt nichts zu tun mit erleiden.

Und wenn das Leben der Leib[3] ist, dann gehen die, die wirklich im Leib leben weiter und erfahren in ihrer Lebendigkeit das Leben.

Die aber nicht im Leib leben, die bleiben nur am Leben picken und sind die noch nicht Gestorbenen: Die pickenbleiben.[4]

Und das bringt uns zu der weiteren Frage: Was ist denn dann eigentlich das Leidige am Leid?

Und da zeigt sich, dass «Leid» im Sinn von «das Leidige» überhaupt nicht verwandt ist mit dem Wort «Leiden». Das sind zwei völlig verschiedene Wortwurzeln.

Das «Leiden», das ursprünglich «leben», «fahren», «reisen» bedeutet ‒ «gehen» auch ‒, kommt von einer Wurzel her, und das «Leid» ist ein anderes Wort, das ursprünglich das «Widerwärtige» bedeutet.

Und erst langsam, langsam vermischen sich die beiden, denn heute, wenn jemand sagt das «Leiden» und das «Leid», so ist das fast nur ein stilistischer Unterschied. Man kann das vollkommen mischen.

Wir haben die beiden eben irrtümlich so vermischt. Und erst, wenn wir die wieder auseinandernehmen, und sehen, dass «leiden» gar nicht unbedingt etwas Leidiges sein muss, weil es ursprünglich nicht das «Leidige» bedeutet, dann beginnen wir darüber nachzudenken, was denn eigentlich das Leiden leidig macht.

Das Wort «leidig» bedeutet ursprünglich «hässlich», «ungut», «unangenehm», hauptsächlich aber «widerwärtig».

Und «leider» ‒ wenn wir sagen «leider» ‒, das ist eine Steigerungsstufe: «Leid und noch Leider». Das gehört alles zusammen.

Und das «Widerwärtige»«wider» heißt «gegen» und «wärtig» ist so wie wir sagen «ostwärts» und «westwärts»: das ist die Richtung ‒ das «Widerwärtige», also das «Leid», ist das, was gegen den Strich geht.

«Leidig» ist alles, was gegen den Strich geht, was uns widerwärtig ist.

«Leiden» ‒ gehen, fahren, reisen, erfahren, erleiden ‒, ist das mit dem Strich gehen.

Das ist unsere große Herausforderung:

Wir können im Leben entweder mit der Maserung hobeln oder gegen die Maserung hobeln.

Wir können mit dem Strich gehen oder gegen den Strich gehen ‒ und das heißt: den Strich des Lebens:

Wir können mit dem Strom des Lebens schwimmen oder versuchen, gegen den Strom des Lebens zu schwimmen.

Aber da kommt dann das große Paradox herein, dass alle, die mit dem Strom des Lebens schwimmen, gewöhnlich im Leben gegen den Strom schwimmen müssen.

Und darum schwimmen so wenige mit dem Strom des Lebens.

Zu dem Wort «Leid», «leidig» ‒, wenn wir sagen: «Das tut mir leid» oder «ich hab‘s leidig» ‒, gehört die «Widerwärtigkeit». ‒

Zu dem Wort «leiden»: leben, erfahren, fahren, gehört das Veranlassungswort «leiten», das auch zu «Lotse» gehört:

Eigentlich heißt das «gehen machen»«Leiten» ist «gehen-machen», veranlasst uns zu gehen.

Und da, wenn wir sehen, dass etwas uns leiten kann im Leiden ‒ durch das Leben gehen und das Leben erleiden ‒, dann müssen wir uns fragen:

Was ist denn dann die leitende Kraft?

Und da ist die Antwort:

Die leitende Kraft ist das Leben selbst.

Wenn wir wirklich uns dem Leben hingeben, dem Lebensstrom, der in der Quelle des Herzens aufspringt, dann werden wir durch das Leben geleitet.

Das Leben selbst leitet uns, wenn wir uns nicht diesem Lebensstrom verschließen, abkapseln, stehenbleiben, steckenbleiben und unser Herz verschließen.[5]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1f. und 5]

[Ergänzend:

1. Krise

2. Film Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (2019) und Mitschrift 10f.:

(47:43) «Eine Frage, die man sich stellen könnte ‒ so wie:

Habe ich das Leben oder hat das Leben mich? ‒

Führe ich mein Leben oder führt mich etwas im Leben?

Und natürlich die ganze Idee von Augenblick für Augenblick hinhorchen, stillwerden ‒ hinhorchen und dann antworten.

Und das heißt, dass das Leben mich führt.

Und Lebensvertrauen ist das Vertrauen darauf, dass das Leben mich führt.

Je älter ich werde, umso klarer ist es mir, dass alles Pläne machen, ungeheuer gefährlich ist.

Augenblick für Augenblick gibt uns das Leben ja schon alles, was wir brauchen für den nächsten Augenblick, und wenn wir da unsere eigenen Ideen haben, kommen die so leicht in den Weg.

Alan Watts ‒ vielleicht kennt Ihr seine Bücher ‒, er hat auch sehr viel getan, den Buddhismus im Westen verständlich zu machen, und er hat seine Autobiographie genannt: In my own way:

Das kann einerseits heißen: Ich bin meinen eigenen Weg gegangen, aber es kann auch heißen: Ich bin mir ständig in den Weg gekommen. ‒ Absichtlich hat er so formuliert.

Also sich vom Leben führen lassen: Wie kann man das?

Das ist so ein leuchtendes Beispiel: Menschen, die sich vom Leben führen lassen: Das führt dann viele andere einfach durch die Leuchtkraft schon.»

3. Audios

Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Gesamter Vortrag und Fragerunde:
(01:32:46) Das Leben durch uns fließen lassen, dann ereignet sich Lebensbejahendes ‒ Sehr häufig kommt das zustande, was wir wollen, wenn wir nicht mehr drücken ‒ Situationen, in denen wir nicht Zeit gehabt haben, uns etwas zu überlegen und ganz genau das Richtige getan haben
(01:36:02) Was will jetzt das Leben? ‒ Gerade die Bemühungen können in den Weg kommen: Vielleicht hat das Leben etwas anderes vor ‒ Tun, was wir freudig tun, wozu wir begabt sind ‒ Was bietet mir das Leben für eine Gelegenheit an? ‒ Bruder David bringt ein witziges Beispiel und lobt den Willen und die Hingabe von Menschen, die im Leben immer wieder anstoßen

Löwe, Lamm und Kind (1992)
Themen der Fragerunde:
‹Jeden Tag stehen wir vor der Entscheidung›]

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[1] Orientierung finden: ‹Entscheidung ‒ Was will das Leben jetzt von mir?›, 86-89

[2] Transkription des Gesprächs  von Willigis Jäger mit Bruder David  im Film 1 der DVD ‹Der Atem der Stille: Mystik heute›, Aurum Verlag in
J. Kamphausen Verlag & Distribution  GmbH und Benediktushof 2006

[3] Siehe im Eröffnungsvortrag: ‹Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen› (1992):
(19:04) leben, kleben und Leben, Leib

[4] Sitzen bleiben, zurück bleiben, hängen bleiben, kleben bleiben (Bruder David sagt: «bickenbleiben»)

[5] Eröffnungsvortrag: ‹Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen› (1992):
(24:59) Was die Sprache uns lehrt anhand der beiden Wortwurzeln ‹Leid› im Sinn von ‹gehen›, ‹fahren›, ‹reisen› und ‹Leid› im Sinn von ‹das Leidige›, ‹Widerwärtige›

Siehe auch die Mitschrift des Vortrags im Tagungsband Schmerz ‒ Stachel des Lebens (1992), 23f.

 

Quellenangaben

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