Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

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«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Wenn etwas gut Gewürztes mir schmeckt, frage ich mich selten, warum. Und doch liegt in jedem einzelnen Gewürz nicht nur ein Geheimnis der Kochkunst, sondern die ganze Freude schenkende und heilende Kraft von Mutter Erde. Jedes legt uns einen Einfall von Dir in den Mund, auf den ihre Namen nur von Ferne hinweisen können. Deine Idee in Dillkraut, Ingwer oder Pfeffer zu erschmecken, heißt, immer neue Sprachen zu entdecken, in denen du zu mir sprichst. Heute will ich Dich in wenigstens einem Gewürz zu mir reden hören. Amen»[1]

Wie Ergriffenheit ursprünglich auf den Tastsinn zurückweist, so Weisheit auf den Geschmackssinn.

Hier ist das allerdings nicht so offensichtlich. Im Lateinischen ist es deutlicher. Da ist «sapientia», die Weisheit, jene Tugend, die wir durch «sapere» erwarben, durch ein verfeinertes, überhöhtes Schmecken.

Sehen können wir in große Entfernung, in unvorstellbar große Entfernung, wenn wir nachts unter dem Sternenhimmel stehen. Auch hören können wir noch weit. Riechen schon kaum mehr. Betasten setzt nächste Nähe voraus, bleibt aber doch immer oberflächlich, äußerlich.

Von allen unseren Sinnen ist der Geschmackssinn der innerlichste. So erschmeckt Weisheit den innersten Sinn einer Sache.

Wie aber sollen wir je dieses Ziel erlangen, wenn wir nicht damit beginnen, unseren Geschmack auf der sinnlichen Ebene zu entwickeln?

«Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist!» ruft der Psalmist uns zu (Ps.34,9).

Werden wir aber Übersinnliches zu schätzen wissen, wenn wir für Sinnliches undankbar sind?

«Mund auf! Augen zu!» spielten wir gern als Kinder. Solange wir dem Geschmeckten noch keinen Namen geben, wird es zum unmittelbaren Erlebnis:

«Wo sonst Worte waren, fließen Funde.»

Rilke fordert uns heraus in seinem Sonett: «Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt.»[2]

Wir meinen etwas schon zu kennen, nur weil wir ihm einen Namen gegeben haben. Wenn wir uns aber dem Schmecken einmal wirklich hingeben, dann wird uns «langsam namenlos im Munde».

Voller Apfel, Birne und Banane,
Stachelbeere …
Alles dieses spricht
Tod und Leben in den Mund … Ich ahne …
Lest es einem Kind vom Angesicht,

wenn es sie erschmeckt. Dies kommt von weit.
Wird euch langsam namenlos im Munde?

Wo sonst Worte waren, fließen Funde,
aus dem Fruchtfleisch überrascht befreit.

Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt.
Diese Süße, die sich erst verdichtet,
um, im Schmecken leise aufgerichtet,

klar zu werden, wach und transparent,
doppeldeutig, sonnig, erdig, hiesig
:
O Erfahrung, Fühlung, Freude , riesig!

«Lest es einem Kind vom Angesicht.»

Dem Kind in uns selbst. Was wir an jedem unserer Sinne verfolgen konnten, wird am Geschmackssinn vielleicht besonders deutlich: die Entfaltung der Dankbarkeit von kindlich arglosem Erkennen der Gabe, über ehrfürchtiges Anerkennen des Gebers, zum Bekennen der Gnade in Weisheit.

Die göttliche Weisheit hat ein Festmahl bereitet

Das ganze Erdenrund, auf seinen sieben Säulen ruhend, wird zur Festhalle. Alles, was unsere Sinne erfreuen kann, ist uns aufgetischt.

Alle Welt ist willkommen.

Die Weisheit baute ihr Haus
und hieb sieben Säulen,
schlachtete ihr Vieh,

und trug ihren Wein auf,
und bereitete ihren Tisch,
und sandte ihre Dirnen aus, zu rufen

oben auf den Höhen der Stadt;
Wer unverständig ist, der mache sich hierher!›
und zum Narren sprach sie:

‹Kommet, zehret von meinem Brot,
und trinkt den Wein, den ich schenke.›
[3]

«Frucht ist mir schon seit langem ein wichtiges Wort. In seiner einen Silbe ballt es die Kraft, die schon in Frühling und Sommer anklingt, mit gesteigerter Wucht zusammen. Frucht weist auf Fülle und Erfüllung hin ‒ als Gabe und als Aufgabe. Als Gabe schenkst du mir diese Verkörperung vollkommener Reife, sooft ich eine plumpe Frucht in Händen halten und ihren süßen Saft verkosten darf. Aber auch als Hinweis auf meine eigene Aufgabe werden mir Früchte zum Bild eigenen Reifens und Fruchtbringens.

Lass mich jede Frucht bewusst und dankbar wie aus Deinen Händen empfangen, als reines Geschenk dieses Jahres. Und schenk mir Zeit und Gelassenheit, Frucht zu bringen für andere und in Herzensfrieden auszureifen, Dir entgegen. Amen.»[4]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 3f.]

[Ergänzend:

1. Orientierung finden (2021): «Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens», 104-106, 117:

«Jeder unsrer Sinne kann aus verschlafener Stumpfheit aufwachen und sich an dem Reichtum freuen, den das Leben festlich vor uns ausbreitet. Dazu lädt Rilke in einem seiner ‹Sonette an Orpheus› unsren Geschmacksinn ein.

Mit der Herausforderung ‹Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt›, will er uns bewusstmachen, wie leichtfertig und anmaßend wir oft annehmen, etwas zu kennen, nur weil wir es benennen können.

Wenn wir uns stattdessen darauf einlassen, es wie Kinder einfach zu erschmecken, dann fragt uns der Dichter:

‹Wird euch langsam namenlos im Munde?›

Und wir werden zugeben müssen:

‹Wo sonst Worte waren, fließen Funde.›

‹Doppeldeutig› sind diese Funde und darum ‹hiesig›, denn wir leben ja hier im Doppelbereich ‒ im Doppelbereich auch von ‹Tod und Leben›.[5]

Dieser Apfel, diese Birne, sie sind lebendig und sie sterben im gleichen Augenblick, in dem wir von ihnen leben.

Schon mit dieser Erfahrung, wenn wir sie auch nur ‹ahnen›, stehen wir mitten im großen Geheimnis.

Voller Apfel, Birne und Banane,
Stachelbeere ... Alles dieses spricht
Tod und Leben in den Mund ... Ich ahne ...
Lest es einem Kind vom Angesicht,

wenn es sie erschmeckt. Dies kommt von weit.
Wird euch langsam namenlos im Munde?
Wo sonst Worte waren, fließen Funde,
aus dem Fruchtfleisch überrascht befreit.

Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt.
Diese Süße, die sich erst verdichtet,
um, im Schmecken leise aufgerichtet,

klar zu werden, wach und transparent,
doppeldeutig, sonnig, erdig, hiesig ‒ :
O Erfahrung, Fühlung, Freude ‒ riesig!

Das beseligte Stammeln der letzten Zeilen zeugt von Ergriffenheit.

Wer mit solcher Intensität ‹offen und Empfänger› wird ‒ der Ausdruck entstammt einem andren der ‹Sonette an Orpheus›[6] ‒, mit welchem der Sinne auch immer, den ergreift das Geheimnis, das der Dichter hier im Erschmecken der Früchte erahnt.

Es spricht ihn an, es ‹spricht (ihm) ... in den Mund›, wie er es so gewagt ausdrückt, aber nicht mit Worten:

‹Wo sonst Worte waren, fließen Funde›:

Jetzt erwachen unsre Sinne und bemerken mit Staunen und Freude die unzähligen Gelegenheiten, aus Freudenquellen zu trinken: Wir können sehen, hören, riechen, schmecken, betasten ‒ Gelegenheiten, uns zu freuen, auf die wir bisher kaum geachtet haben. Unsre Sinne erwachen. Wir entdecken zunehmend mehr von der Fülle unsrer Lebendigkeit.»

2. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 48-50 und 40, 81

3. Audios

Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(55:40) ‹Voller Apfel, Birne und Banane› (R. M. Rilke, Die Sonette 1. Teil, XIII):
‹Wo sonst Worte waren, fließen Funde›: ‹Worte: das sind Begriffe ‒ Funde sind Ergriffenheit›[7]
(58:41) Bruder David liest das Gedicht noch einmal
(59:56) ‹Kostet und seht, wie gut der Herr ist› (Ps 34,9) ‒ Das Wort ‹Sapientia› ‒ Weisheit ‒ kommt von ‹sapere›: schmecken, Geschmack für das Geheimnisvolle. Und das beginnt mit dem Schmecken lernen: sich Zeit lassen zum Essen

Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökologie: Pater Johannes und Bruder David im Dialog:
(00:00) Wie Spiritualität mit Ökologie zusammengehören / (03:58) Logos und Sophia im Prolog des Johannesevangeliums ‒ Weisheit, Weisung, Herzensweisheit und ein Name für Gott
Ökologische Grundprinzipien:
(07:25) Inkarnation der Weisheit in der Schöpfung, im Leben und im Alltag: Wenn die Weisheit alles geschaffen hat, dann begegnen wir in allem, was es gibt, der Wirklichkeit Gottes
(39:18) ‹Ihr Schlachtvieh hat sie geschlachtet, ihren Wein gemischt, auch ihren Tisch hat sie gedeckt› (Spr 9,2)

Spiritualität im Alltag in Dienten (1994)
Vortrag:
(40:29) «Das tägliche Brot ist nicht nur, was wir essen ‒ das tägliche Brot ist alles, was uns täglich zukommt. Das Gott will uns nähren mit allem, was uns täglich begegnet: Jeder Augenblick, jeder Mensch, jeder Gegenstand, alles, was uns begegnet ist Wort Gottes, auf das wir horchen können. Da kommt das Gehorchen herein, dieses tiefe Hinhorchen, aus dem die Antwort entspringt. Und das nährt uns: Wir können ‹vom Worte Gottes leben›. Und zu dieser Bitte ‹gib uns heute unser tägliches Brot› gehört die Geistgabe der Weisheit, ‹sapientia› vom lat. ‹sapere›, schmecken, und ist eigentlich der richtige Geschmack, das ‹Geschmeck› für das Wort Gottes, für die Gabe Gottes.»

Retreat-Woche in Assisi (1989)
Amen: Unsere Antwort auf die ‹amunah›, die Treue Gottes:
(05:29) Voller Apfel, Birne und Banane‘ (Rilke, Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XIII): Br. David liest und deutet das Sonett Zeile für Zeile

Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt
Schmecken, Auskosten ‒ ‹Voller Apfel, Birne und Banane› (R. M. Rilke, Die Sonette)]

__________________

[1] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 100

[2] R. M. Rilke: ‹Voller Apfel, Birne und Banane› (Die Sonette, 1. Teil, XIII)

[3] Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Durch die Sinne Sinn finden› (2021), 73-76; der Bibeltext nach der Lutherbibel 1912 ist aus Spr 9,1-5

[4] Erwachende Worte (2023): ‹14 Frucht›, 45

[5] DOPPELBEREICH, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 132f.:

«Ursprünglich bedeutet der Doppelbereich bei Rilke, der diesen Begriff prägte, die ‹Nicht-Zweiheit› (A-Dwaita) der Bereiche von Lebenden und Verstorbenen. In den ‹Sonetten an Orpheus› entwickelt der Dichter dieses Thema, zum Beispiel unter dem Bild der ‹Spieglung im Teich›. Das schöne deutsche Wort ‹Doppelbereich› lässt sich aber auf viele andre Gebiete anwenden. Was durch die Beziehung von ‹A-Dwaita› entsteht, ist immer ein Doppelbereich»

Bruder David geht auf die ‹Spieglung im Teich› ein in Orientierung finden (2021): ‹Innen / Aussen ‒ Zwei Aspekte der Wirklichkeit›, 76 und in TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II,  99-101

[6] «Blumenmuskel, der der Anemone
Wiesenmorgen nach und nach erschließt,
bis in ihren Schoß das polyphone
Licht der lauten Himmel sich ergießt,

in den stillen Blütenstern gespannter
Muskel des unendlichen Empfangs,
manchmal so von Fülle übermannter,
dass der Ruhewink des Untergangs

kaum vermag die weitzurückgeschnellten
Blätterränder dir zurückzugeben:
du, Entschluss und Kraft von 
w i e viel  Welten!

Wir, Gewaltsamen, wir währen länger.
Aber w a n n, in welchem aller Leben,
sind wir endlich offen und Empfänger?»

R. M. Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, V

Siehe auch: TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I,  81 und TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II,  86

[7] Orientierung finden (2021), 42:

«Nur durch Ergriffenheit verstehen wir Musik, und auch das Geheimnis verstehen wir nur in Augenblicken von Ergriffenheit. Beides wird uns geschenkt: Wir müssen uns nur willig ergreifen lassen.

‹Begriffe machen wissend, Ergriffenheit macht weise›,

sagt der große mittelalterliche Mystiker Bernhard von Clairvaux (1090-1153). Weisheit ist das Ziel unsrer Bemühungen um Orientierung. Dabei wird es also letztlich um unsre Beziehung zum Geheimnis gehen.»



Quellenangaben

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