Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Kinder in den USA lernen mit «Stop ‒ Look ‒ Go» gefahrfrei die Straße zu überqueren.
Diese drei Wörter sind auch die einfachste Formel, dankbares Leben immer wieder einzuüben. [Siehe die kurze Einführung zum Thema in Dein Herz ist gefragt (2022)]
Schauen wir sie uns hier einzeln an.
Stop ‒ alles Weitere hängt von diesem ersten Schritt ab. Innehalten und Stillwerden sind unbedingt notwendig, bevor wir hinhorchen können auf das Leben, um voll und dankbar unsre Antwort zu geben.
Was dieses Innehalten bewirken will, ist innere Ruhe.
Schweigen hilft uns dabei.
Aber viele Menschen sind heute Lärm und Getue so gewohnt, dass sie sich bei Schweigen und Stille zunächst unbehaglich fühlen. Das ist Gewohnheitssache. Wir können Schweigen und Stillwerden üben ‒ jeden Tag ein bisschen länger. Mit etwas Übung werden wir uns bald darin zuhause fühlen. Dann wird die stille Mitte in uns zu einer Quelle tiefer Freude werden.
Schweigen macht «das Ohr des Herzens», wie der heilige Benedikt es nennt, hellhörig für alles, was das Leben uns zuspricht. Dann erst können wir entsprechend antworten.
Daraus ergeben sich die beiden nächsten Schritte: hellhöriges Innewerden ist das «Look» und unsre Antwort ist das «Go».
In einem Gedicht von nicht mehr als zehn Zeilen führt uns Rilke durch diese drei Schritte ‒ vom Innehalten in der Stille («Stop») über das Innewerden («Look») zum freudigen Tun («Go»).
Der Dichter betet um eine von äußeren und inneren Störungen freie Stille, damit er in ihr einen so hohen Grad von Sammlung erlangen kann, dass seine Empfänglichkeit «bis an den Rand» des großen Geheimnisses reicht.
Dann hofft er, das Geschaute sogar «besitzen» zu können ‒ freilich «nur ein Lächeln lang», denn er muss wohl selber lächeln über die Idee, das Geheimnis zu besitzen. Im Gegenteil, das Geheimnis ergreift Besitz von uns im Augenblick, in dem wir «nur einmal so ganz stille» werden.
Diese Stille ‒ «Stop» in seiner tiefsten Bedeutung ‒ ist ja selbst ein Aspekt des großen Geheimnisses in seiner schweigenden Tiefe.
Aus ihr muss unser Innewerden kommen, damit es zum freudigen Tun führen kann, zur Bereitschaft, alles, was unser Herz vom Geschauten halten kann, «an alles Leben zu verschenken wie einen Dank».
Zunächst aber geht es um den ersten Schritt, ums Innehalten, ums «Stop», ums Stillwerden:
Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre
verstummte und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen ‒ :
Dann könnte ich in einem tausendfachen Gedanken
bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank.[1]
Look ‒ in unsrer inneren Stille verankert, können wir jetzt, als zweiten Schritt, mit allen Sinnen wach werden für alles, was es gibt.
Das «Stop» ‒ der Bruchteil eines Augenblickes, in dem wir innehalten ‒ genügte, um unser Schauen «reifen» zu lassen, und jetzt kann wahr werden, was unser Dichter in eines seiner schönsten Bilder fasst:
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.[2]
Alles, dessen wir innewerden, kommt wie eine Braut auf uns zu. Und wie begegnen wir diesem bräutlichen Entgegenkommen des Lebens?
Meist wird uns gar nicht bewusst, wie unsanft, ungeduldig, ja geradezu unverschämt und gewalttätig wir alles, was uns unter die Augen kommt, an uns reißen, einfach durch die Härte, mit der wir es anblicken.
Wir können jedoch lernen, mit sanften Blicken alles, was wir sehen, zu umarmen, wie ein Bräutigam die Braut umarmt ‒ und sich von ihr umarmen lässt.
Dann werden wir die Gelegenheit, nach der wir mit unsrem «Look» Ausschau halten, nicht in erster Linie als Möglichkeit verstehen, alles, was das Leben uns in diesem Augenblick schenkt, auszunutzen.
Es würde uns vielmehr darum gehen, es auszukosten.
Hier stoßen wir wieder auf eine oft übersehene Unterscheidung, die im abendländischen Denken unter dem lateinischen Begriffspaar «uti» (nutzen) und «frui» (auskosten) schon lange eine wichtige Rolle spielt.
Wenn wir lernen, diese beiden Lebenshaltungen ‒ denn das sind sie letztlich ‒ zu unterscheiden und zugleich zu verbinden, dann kann unser «Look», unser Innewerden, sich zu einem wahren Fest entfalten: zur Feier des Lebens.
Nicht nur unsre Augen können diese Haltung erlernen. Das «Look» hier nur aufs Schauen zu beschränken, wäre ein Missverständnis. Jeder unsrer Sinne kann aus verschlafener Stumpfheit aufwachen und sich an dem Reichtum freuen, den das Leben festlich vor uns ausbreitet.
Go ‒ auch zum Verständnis dieses dritten Schrittes kann ein Gedicht Rilkes uns helfen. Der Dichter stellt am Bild des Ballspielens dar, worum es beim echten Tun, das Innehalten und Innewerden voraussetzt, letztlich geht. Mit sich allein Ballspielen ist nicht echtes «gültiges» Tun in diesem Sinn, sondern nur Übung in «Geschicklichkeit»; und was es zustande bringt, ist «lässlich» ‒ das heißt, es zählt nicht.
Echt wird das Tun erst,
wenn du plötzlich Fänger wirst des Balles,
den eine ewige Mit-Spielerin
dir zuwarf.
Diese «Mit-Spielerin» steht hier für das große Geheimnis.
Das erkennen wir daran, dass sie «ewig» genannt wird und weil die Beziehung, die durch ihr Zuwerfen entsteht, «aus Gottes großem Brücken-Bau» stammt.
Dass diese «Mit-Spielerin» weiblich ist, erinnert daran, dass alles, dessen wir mit offenem Herzen innewerden, uns «wie eine Braut» entgegenkommt.
Wenn wir alles uns vom Schicksal Zugeworfene umarmen ‒ wie Braut oder Ball ‒ dann ist unser «Fangen-Können» nicht mehr Übung, sondern Vermögen im Sinne von Können.
So spielt das Geheimnis im All mit dem Geheimnis in dir ‒ letztlich das eine Geheimnis mit sich selbst.
«Lila» nennt der Hinduismus dieses Spiel.[3]
Um völlig in dieses Spiel einzutreten, musst du aber «zurückzuwerfen Kraft und Mut» besitzen ‒ und noch mehr: Du sollst dabei deine mutige Entscheidung und deinen Kraftaufwand völlig vergessen «und schon geworfen» haben ‒ wie von selbst.
Ein Feuerwehrmann springt in die Flammen und rettet einen Erstickenden; eine Mutter reißt ihr Kind vor einem herannahenden Schnellzug von den Schienen. Später weisen beide jede Anerkennung zurück: «Es war schon geschehen, bevor wir überhaupt Zeit hatten, nachzudenken», sagen sie.
Das Beispiel, auf das der Dichter hinweist, sind «die Wandervogelschwärme», die instinktiv tun, was bei uns Menschen willige Bereitschaft verlangt. Durch diese können aber auch wir «gültig» mitspielen und unser alltägliches Tun wird dann ‒ ganz unauffällig ‒ zu einem kosmischen Ereignis: Der Ball wird nun zum «Meteor und rast in seine Räume ...»
Nicht mehr nur unsre Räume sind es, in denen sich nun unser Tun abspielt; unser Alltag nimmt teil am großen Geheimnis, das im Kosmos spielt.
Solang du Selbstgeworfnes fängst, ist alles
Geschicklichheit und lässlicher Gewinn ‒ ;
erst wenn du plötzlich Fänger wirst des Balles,
den eine ewige Mit-Spielerin
dir zuwarf, deiner Mitte, in genau
gekonntem Schwung, in einem jener Bögen
aus Gottes großem Brücken-Bau:
erst dann ist Fangen-Können ein Vermögen, ‒
nicht deines, einer Welt. Und wenn du gar
zurückzuwerfen Kraft und Mut besäßest,
nein, wunderbarer: Mut und Kraft vergäßest
und schon geworfen hättest ... (wie das Jahr
die Vögel wirft, die Wandervogelschwärme,
die eine ältere einer jungen Wärme
hinüberschleudert über Meere ‒) erst
in diesem Wagnis spielst du gültig mit.
Erleichterst dir den Wurf nicht mehr; erschwerst
dir ihn nicht mehr. Aus deinen Händen tritt
das Meteor und rast in seine Räume ...[4]
Das gelingt uns aber nicht ein für alle Mal. Wir müssen uns wieder und wieder darum bemühen, bevor es uns zur zweiten Natur wird.
Der Dichter weiß, was es uns so schwermacht, an diesem Ballspiel teilzunehmen. In der 4. Duineser Elegie finden wir die Ursache ‒ und auch hier im Bild der Zugvögel:
Wir sind nicht einig.
Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zug-
vögel verständigt. Überholt und spät,
so drängen wir uns plötzlich Winden auf
und fallen ein auf teilnahmslosen Teich.
«Wir sind nicht einig» mit uns selbst, weil wir im Ego stecken, also auch «nicht einig» untereinander und wegen unsrer Eigenwilligkeit auch «nicht einig» mit dem Fließweg des Lebens.
Weil wir nicht stillwerden und hinhorchen, versäumen wir den rechten Augenblick.
Dann «drängen wir uns plötzlich» dem Geschehen auf, anstatt mit ihm zu fließen.
Und doch ist das Einzige, worauf es ankommt, Harmonie mit dem Leben.
Nur wenn wir im Einklang mit dem Leben handeln, fließt die Kraft des Lebens durch uns.
Und dabei geht es um die grundlegenden Haltungen zum Leben ‒ und zum großen Geheimnis. Unser Dreischritt von «Stop ‒ Look ‒ Go» lässt uns diese Haltungen klarer erkennen.
1. Durch «Stop» üben wir das für alle andren Haltungen grundlegende Lebensvertrauen.
Unsre hektischen Aktivitäten sind oft vergebliche Versuche, diese Haltung stillen Vertrauens durch Kontrolle zu ersetzen. In der Sprache spiritueller Traditionen heißt radikales Lebensvertrauen: Glauben.
2. Durch »Look» üben wir eine Haltung, die traditionell Hoffnung genannt wird.
Hoffnung unterscheidet sich von unsren Hoffnungen, denn diese sind immer auf etwas gerichtet, das wir uns vorstellen können.
Hoffnung aber ist radikale Offenheit für Überraschung ‒ für das Unvorstellbare. Wenn dies die Einstellung ist, mit der wir schauen, hinhorchen und alle andren Sinne öffnen, dann kommt zum Lebensvertrauen eine neue Dimension hinzu: Bereitschaft für die Anforderungen, die das Leben an uns stellt.
3. Durch «Go» antworten wir dann auf diese Anforderungen. Dadurch treten wir bereitwillig in Beziehung zu dem ganzen unendlich weit verzweigten Netzwerk des Lebens.
Durch diese Bereitwilligkeit sagen wir ein radikales Ja zur Zugehörigkeit ‒ nicht mit unsren Lippen, sondern durch unser Tun.
Dies aber kennen wir schon als die Definition für Liebe.
So wie sich die Haltung des Glaubens vom Für-wahr-Halten unterscheidet und die Hoffnung von den Hoffnungen, so unterscheidet sich die Liebe von unsren Vorlieben, unsrem Verlangen.
Durch «Stop ‒ Look ‒ Go» können wir die Haltungen von Glauben, Hoffnung und Liebe ‒ also unsre Beziehung zum Geheimnis als Mitte unsrer grundlegenden Orientierung im Leben ‒ immer wieder erneuern und so Sinn finden.
Sogar jedes Kind kann unsrem einfachen Dreischritt «Stop ‒ Look ‒ Go» folgen und so bleibende Lebensfreude finden durch dankbares Leben. Denn «Stop ‒ Look ‒ Go» ist der Dreischritt der Dankbarkeit.[5]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 5]
[Ergänzend:
1. Musik der Stille (2023) 72-74
«In der Prim[6] verpflichten wir uns, heute alles so zu tun, als würden wir Kindern beibringen, die Straße zu überqueren: anhalten, hinschauen und dann gehen.
Um den Tag richtig gut zu beginnen, ist der erste Schritt: anhalten. Es ist so leicht, sich unverzüglich mitten in irgendetwas hineinzustürzen, das man sich vorgenommen hat, ohne bewusst damit zu beginnen. Jeder bewusste Anfang beginnt mit einem Innehalten, auch wenn es nur für den Bruchteil einer Sekunde ist. Tun wir das nicht, werden wir einfach mitgerissen, wie dies nur allzu oft vorkommt.
Dieser bewusste Beginn findet seinen Ausdruck in den Gesängen, wo alles davon abhängt, im richtigen Zeitpunkt einzusetzen. Um im richtigen Moment einzusetzen, müssen wir zuerst innehalten.
Wenn der Dirigent den Taktstock hebt, verharrt das ganze Orchester einen Augenblick in Stille ‒ danach erst setzt es mit dem ersten Abschlag des Taktstocks ein. Würde der Dirigent einfach aufs Podium steigen und unverzüglich damit beginnen, den Taktstock zu schwingen, könnte nie Musik daraus entstehen, sondern lediglich ein klanglicher Wirrwarr. Dieser Augenblick der Stille, bevor die Musik anhebt, ist auch beim Singen unerlässlich.
Der zweite Schritt ist Hinschauen. Wenn wir nicht hinschauen, dann nützt uns auch das Anhalten nichts. Der Chor muss auf den Kantor schauen und auf sein Zeichen zum Einsatz achten. Bei jeder Tätigkeit ist es wichtig, zunächst auf alles zu achten, was diese Handlung betrifft: Wurde uns diese Aufgabe vielleicht schon früher einmal gestellt? Wie haben wir sie damals gelöst? Was ist uns dabei gelungen? Was haben wir versäumt? So vermeiden wir, den gleichen Fehler allzu oft zu wiederholen.
Es heißt, ein Narr begehe immer wieder denselben Fehler, ein Weiser hingegen jedes Mal einen neuen. Wir können nicht vermeiden, Fehler zu machen, aber wir können diejenigen vermeiden, die wir schon einmal begangen haben. Dummerweise neigen wir dazu, geflissentlich zu übersehen, was wir nicht sehen wollen. Ehrliches Hinschauen kann aber gelernt werden.
Zum Dritten müssen wir gehen. Es hilft uns nicht, anzuhalten, wenn wir nicht hinschauen, und es nützt nichts, anzuhalten und hinzuschauen, wenn wir nicht auch gehen. Schlussendlich müssen wir handeln. Die drei gehören zusammen, und der Trommelschlag des Engels signalisiert: ‹Halt an, schau hin, geh voran!› Lass uns aufbrechen.»
2. Bruder David geht auf das Ringen Jakobs mit dem Engel ein in TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 82-89
3. Film und Audios zu Stop ‒ Look ‒ Go
Film Was am Ende wirklich zählt (2022), siehe auch Transkription, 3f.:
(09:20) «Was würdest Du denn sagen, Bruder David: Was ist ein ganz wichtiges Werkzeug, um das in sich zu erschaffen, wenn’s nicht schon da ist oder wenn wir’s einfach nicht sehen können. Ich denke, so viele wünschen sich ja diesen Zustand des Vertrauens und der Liebe und der Dankbarkeit und sich Wohlfühlen. Sie erahnen, wie schön das wäre, wenn es in ihnen wach wäre und finden trotzdem nicht dahin. Gibt’s ein Werkzeug?»
David Steindl-Rast: «Und da kommt wieder die Dankbarkeit herein. Und die Übung der Dankbarkeit ist ein ganz einfacher Dreischritt:
Stop ‒ Look ‒ Go.
Also ein Innehalten, Innewerden und dann Tun.
Und das heißt immer wieder im Laufe des Tages ‒ und das kann man üben ‒, immer wieder innezuhalten, einen kleinen Augenblick der Stille dieses automatische Dahinleben unterbrechen und einen Augenblick lang still zu werden. Und in dieser Stille: die schafft jetzt Raum zu sehen. Und zwar hinzuschauen: Was gibt mir jetzt das Leben in diesem Augenblick für eine Gelegenheit? Und das ist das ‹Look›.
Jetzt kommt das ‹Go›: Das ‹Go› heißt: Mach jetzt etwas aus dieser Gelegenheit.»
Lebendige Spiritualität (2015)
Die Themen des Gesprächs:
‹Stop ‒ Look ‒ Go› leben
Interreligiöser Dialog (2014)
Bruder David: Grußwort und Vortrag:
(29:24) Die Methode: Stop ‒ Look ‒ Go, Innehalten ‒ Innewerden ‒ Tun: Unsere täglichen buddhistischen Augenblicke, unsere ‹amunah›-Spiritualität und unser Yoga
4. Audios zu Gedichten
Fragen, die uns bewegen (2005)
Vortrag:
(37:46) ‹Wenn es doch nur einmal so ganz stille wäre› (R. M. Rilke, Das Stunden-Buch)
Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Vortrag:
Was fördert gesundes spirituelles Wachstum (siehe auch Mitschrift):
(05:14) ‹Wenn es doch nur einmal so ganz stille wäre› (R. M. Rilke, Das Stunden-Buch)
Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Fragerunde:
‹Solang du Selbstgeworfnes fängst› (R. M. Rilke)
Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Dialog mit David Steindl-Rast:
Teil 1:
(11:04) Stufen im Gedicht von R. M. Rilke: ‹Solang du Selbstgeworfnes fängst›
Audio-Vortrag Fülle und Nichts (1996):
(01:47) ‹Wir sind nicht wie die Zugvögel verständigt› (Rilke, Die vierte Duineser Elegie)
Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus unsern Herrn:
(20:21) ‹Wir sind nicht wie die Zugvögel verständigt› (Rilke, Die vierte Duineser Elegie)
5. Weitere Texte und Interviews
Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt, Mystiker zu sein (2020): Interview von Evelin Gander mit Bruder David:
«Haben Sie vielleicht einen Tipp wie wir uns in Achtsamkeit üben können?»
«Als beliebtester Tipp hat sich eine Merkhilfe eingebürgert. Sie besteht aus drei englischen Wörtern, die man Kindern einprägt, wenn sie lernen, an einer Kreuzung ohne Verkehrsampel gefahrlos die Straße zu überqueren: ‹Stop / Look / Go!› — innehalten / rechts und links schauen / und dann rasch machen, bevor die Verkehrslage sich ändert.
Aufs Üben von Dankbarkeit übertragen, bedeutet das: innehalten, denn sonst läufst du an der Gelegenheit vorbei, die dieser Augenblick dir schenkt; / Ausschau halten nach der Gelegenheit, die du ergreifen willst; / und sie dann auch wirklich beim Schopf packen, denn im nächsten Augenblick kann sich die Lage schon ändern.
Meist ist, was uns geboten wird, die Gelegenheit uns einfach zu freuen, an dem was dieser Augenblick bringt. Das klingt zu gut, um wahr zu sein, bis wir das Stop ‒ Look ‒ Go selber ausprobieren.
Wir halten ja so selten inne, sondern laufen wie Schlafwandler an der Gelegenheit uns zu freuen vorbei und wachen erst auf, wenn etwas Unangenehmes uns wachrüttelt. So oft wir aber dieses Stop ‒ Look ‒ Go üben, lassen wir dieses Roboterdasein einen Schritt zurück und kommen näher heran an das wache, erfüllte Leben dankbarer Menschen. So werden Selbstfindung und Selbstverwirklichung gerade denen geschenkt, die diese Werte nicht als ausdrückliches Ziel anstreben.»
Von Augenblick zu Augenblick (2020): Interview von Ester Platzer mit Bruder David:
«Wie kann man lernen, jeden Augenblick zu genießen?»
«Ich habe da eine kleine Methode entwickelt, die lautet: ‹Stop. Look. Go.› Mit ‹Stop› meine ich: Kurz innehalten, still werden, ins Jetzt kommen, um einen Augenblick zu erkennen. ‹Look› heißt: schauen, welche Gelegenheit das Leben gerade offenbart. ‹Go› bedeutet: etwas aus der Situation machen, handeln, sich erfreuen oder etwas lernen.»
Die drei Schritte der Dankbarkeit (2020) von in KARUNA-Straßenzeitung (Text 2001 erschienen)
Die Innehalten ‒ Schauen ‒ Handeln-Technik (2018):
«INNEHALTEN – präsent, wach, bewusst, empfänglich werden
SCHAUEN – bemerken, beobachten, betrachten, eine direkte Erfahrung machen
HANDELN – anerkennen, etwas in die Hand nehmen, etwas mit den Möglichkeiten und dem Bewusstsein tun, die durch Dankbarkeit entstehen»]
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[1] R. M. Rilke: ‹Wenn es doch nur einmal so ganz stille wäre› (Das Stunden-Buch) ‒ Siehe auch Stille leben
[2] «Da neigt sich die Stunde und rührt mich an
mit klarem, metallenem Schlag:
mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann ‒
und ich fasse den plastischen Tag.
Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut,
ein jedes Werden stand still.
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.
Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem
und mal es auf Goldgrund und groß
und halte es hoch, und ich weiß nicht wem
löst es die Seele los...»
Mit diesem Gedicht eröffnet Rilke Das Stunden-Buch.
[3] LILA, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 147f.:
«Lila ist ein Sanskrit-Wort, das ‹Spiel› bedeutet, und steht im Hinduismus für die Vorstellung, dass das gesamte Weltgeschehen letztlich Spiel des Großen Geheimnisses ist: göttliches Kinderspiel, der große Reigentanz des Universums.
Auch für Nicht-Hindus kann dieses Bild große Bedeutung haben: Sinn unsres Lebens ist es, mit dem kosmischen Tanz im Schritt zu sein.»
[4] R. M. Rilke: ‹Solang du Selbstgeworfnes fängst› (Aus dem Nachlass)
[5] Orientierung finden (2021), 102-104, 106f., 86, 107f.
[6] Musik der Stille (2023), 66:
«Die Prim ist die Stunde der Arbeitsverteilung. … Der Ort der Prim ist der Kapitelsaal, wo die Mönche zusammenkommen, um die praktischen Fragen der Gemeinschaft zu besprechen. Die Arbeit wird gemeinsam verteilt.»