Film, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.[1]
Kreuzweg unserer Sinne ist das Herz.
Herz bedeutet den Schnittpunkt unserer geistigen und unserer leiblichen Wirklichkeit.
Herz bedeutet jenen Mittelpunkt unserer individuellen Innerlichkeit, wo wir zugleich eins sind mit allen anderen Menschen, Tieren, Pflanzen ‒ mit dem ganzen Kosmos.
Die Sinnschau des Herzens beginnt mit dem genauen Hinschauen der Augen. Wenn wir Sinn finden wollen im Leben, so müssen wir mit den Sinnen beginnen.
Um mit dem Herzen horchen zu lernen, müssen wir zuerst lernen, mit den Ohren wirklich zu lauschen. Und so mit allen Sinnen.
Wie aber sollen wir dies angehen? Aus meiner eigenen Erfahrung glaube ich, drei Schritte unterscheiden zu können, die vielleicht Allgemeingültigkeit besitzen.
Den ersten Schritt nenne ich «Kindliche Sinnlichkeit», eine Haltung, die wir als Kinder besitzen, die wir aber im späteren Leben erst wieder erwerben müssen. Wesentlich daran ist das ungetrübte Vertrauen, mit dem wir uns dem Sinnlichen hingeben.
Diese Hingabe führt uns, wenn sie echt ist, zu einer Begegnung: Überrascht begegnen wir ‒ ich kann es nicht besser ausdrücken ‒ einem Gegenüber, das sich uns gibt, in dem Maß, in dem wir uns selber geben.
Diesen Schritt möchte ich mit Rilkes oben angeführten Ausdruck «Die seltsame Begegnung» nennen.
Im dritten Schritt wird uns zur Erfahrung, dass das ganz andere, das unseren Sinnen da begegnet, zugleich unser eigenstes Selbst ist. Wir sind selber der Sinn dessen, was wir sinnlich erfahren. Wenn uns das klar wird, erst dann finden wir durch unsere Sinne Sinn.
Sinn wird, wenn wir selber Sinn werden. Beides klingt an, wenn wir diesen dritten Schritt «Sinnwerdung» nennen.
Scheint das allzu philosophisch? Wir dürfen uns nicht abschrecken lassen. In Wirklichkeit ist es ganz einfach. In unserer Kindheit waren uns diese drei Schritte durchaus vertraut, wenn wir auch nicht darüber nachdachten. Wenn der Dichter sagt:
Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraut am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.
so ist das unserem Herzen verständlich, wenn unser Verstand auch nachhinkt.
Sobald wir aber nur einmal damit anfangen, führt schon ein Schritt zum nächsten. Wir dürfen uns da auf unser eigenes Erleben verlassen. Darauf kommt es ja schließlich an.
Die meisten von uns sind mehr Augen- als Ohrenmenschen. Wir stoßen also wohl auf den geringsten Widerstand, wenn wir die Beispiele für unsere drei Schritte zunächst aus dem Bereich des Schauens wählen.
Gewöhnung und Übersättigung machen es andererseits gerade unseren Augen schwer, kindliche Frische zu bewahren.
Vielleicht bemerken das schon die Kinder. Sie unterhalten sich manchmal damit, Daumen und Zeigefinger zum Rahmen eines Guckloches zu machen, durch das die Welt auf einmal ganz anders aussieht. In den entlegensten Teilen der Welt erfinden Kinder dieses Spiel offenbar immer wieder von neuem. Dahinter steckt die Tatsache, dass ein ungewohnter Ausschnitt des allzu oft Gesehenen uns überraschend neu erscheinen kann.
Es gibt da in Spielwarenhandlungen neuartige Kaleidoskope, die nicht in einer Mattscheibe mit bunten Glasstückchen enden, wie die altmodischen, sondern in einer Linse. Man kann sie also wie ein Fernrohr ringsum auf Gegenstände richten, die dann die Prismen im Rohr zu sechs- oder achteckigen Sternen umgestalten. Plötzlich ist uns die alltägliche Umwelt verzaubert. Wir sehen sie wie zum ersten Mal.
Noch einfacher lässt sich das erreichen, indem wir in ein Blatt Papier ein winziges Guckloch stechen. Da brauche ich nur auf meine eigene Hand zu schauen. Weil ich nun nicht mehr die ganze Hand in den Blick bekomme, ja nicht einmal einen ganzen Finger, lässt sich, was ich sehe, nicht mehr einfach mit «Hand» oder «Finger» abtun. Was ist das denn eigentlich, dieses knollig gerunzelte Braune mit ein paar borstigen Haaren? In dem Bruchteil eines Augenblickes, bevor mir «Fingergelenk» in den Sinn kommt, habe ich endlich einmal wirklich hingeschaut.
Das lässt sich lernen. Und das Lernen wird uns Spaß machen, sobald das Kind in uns nur einmal wach wird.
Nichts ist wichtiger als das. Nur wenn wir das Kind in uns wiederentdecken und befreien, dürfen wir hoffen, Sinnenfreudigkeit wiederzufinden.
Das aber ist der erste Schritt auf dem Weg, im Leben Sinn zu finden.
Wieviel uns doch verlorengeht, nur weil wir so abgestumpft durchs Leben gehen.
Wieviel uns doch verlorengeht an Freuden, an Überraschungen, die uns überall umgeben und nur darauf warten, entdeckt zu werden.
Aber es muss nicht so sein. Wir können unser fortschreitendes Stumpfwerden aufhalten wie einen Krankheitsprozess.
Wir können den Ablauf umkehren, können lernen, jeden Tag noch nie Gewürdigtes neu zu erleben.
Am Morgen, noch bevor wir die Augen öffnen, können wir schon damit anfangen. Wir brauchen uns nur daran zu erinnern, was für ein Geschenk unsere Augen doch sind.
Der Blinde in einem Gedicht Rilkes kennt das Geschenk, weil es ihm fehlt. «Euch», sagt er zu uns, «kommt jeden Morgen das neue Licht warm in die Wohnung.»[2]
Würden wir nicht unsere Augen ganz anders öffnen, wenn wir es dankbar täten?
Dankbarkeit ist der Schlüssel zur Lebensfreude. Wir halten diesen Schlüssel in unseren eigenen Händen.
Wir sagen «blau». Aber was heißt schon «blau»? Wir schauen ja kaum hin. Wir kleben dem Ding nur schnell eine Freimarke auf. Fertig. Wir drücken ihm einen Stempel auf: «Blau. ‒ Erledigt. Nächste Nummer!»
Was unser Verstand mit kalter Ungenauigkeit blau nennt, das kennt unser Herz als die Farbe von Taubenflügeln und von Wiesenenzian, von Stahl und Lavendel, von kleinen Schmetterlingen, die am Feldweg um eine Pfütze tanzen, und vom Sommerhimmel, der sich im Braun der Pfütze dennoch blau spiegelt.
Das Kind in uns weiß noch, wieviel tausenderlei Blau es gibt.
Das Kind in uns ist Dichter.
Unser Herz bleibt zeitlebens dichterisch, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Und Dichter wissen, wie vielschichtig, wie nahezu unerschöpflich das ist, was wir so einfachhin «blau» nennen. Wie Rilke etwa tiefer und tiefer taucht, wo an der Oberfläche nichts zu sehen ist, als eine «Blaue Hortensie».
So wie das letzte Grün in Farbentiegeln
sind diese Blätter, trocken, stumpf und rauh,
hinter den Blütendolden, die ein Blau
nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln.
Sie spiegeln es verweint und ungenau,
als wollten sie es wiederum verlieren,
und wie in alten blauen Briefpapieren
ist Gelb in ihnen, Violett und Grau;
Verwaschnes wie an einer Kinderschürze,
Nichtmehrgetragnes, dem nichts mehr geschieht:
wie fühlt man eines kleinen Lebens Kürze.
Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen
in einer von den Dolden, und man sieht
ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen.[3]
Können Kinder wirklich all das sehen? Nein. Aber Kinder können so schauen.
Und unser Leben ist nicht lang genug, um auszuschöpfen, was wir sehen können, wenn wir wie Kinder schauen; so offen, so hingegeben, so tapfer vertrauend.
Ja, es gehört Tapferkeit dazu, sich etwa dem Blau einer Hortensie auszusetzen und «eines kleinen Lebens Kürze» zu erleiden.
Als Kinder hatten wir noch den Mut dazu, aber seitdem sind wir feige geworden.
Goethe wundert sich in einem seiner Aussprüche, warum denn aus so vielversprechenden Kindern immer wieder nichts würde als langweilige Erwachsene. Die Antwort ist einfach: aus Feigheit.
Darum ist Dichtung so wichtig.
Dass Dichter Gedichte machen, ist halb so wichtig, als dass sie uns dadurch Mut machen, Mut, unsere Sinne zu öffnen.
Unsere Kindheit ist viel zu kurz, um die Versprechen zu erfüllen, die sie enthält. Ein ganzes Leben reicht kaum dazu aus.
Kindwerden liegt immer in der Zukunft, wie das Himmelreich, «das Land der tausend Sinne», wie Walter Flex es nennt.[4]
Kindwerden kostet uns den Panzer aus eisernen Ringen, mit dem wir unser Herz unverwundbar machen, aber auch gefühllos.
Wir können Kinder werden, wenn wir uns getrauen, unser Herz dem Leben auszusetzen, ungesichert, unverwundbar, aber wahrhaftig lebendig.
Dichter wagen es. Sie haben ihr Leben ‒ und wieder hat Rilke das rechte Wort gefunden ‒
ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.[5]
Kindwerden will geübt sein. Wir müssen nur irgendwo anfangen, und heute noch.
Vielleicht sollten wir unsere geistige Ernährung aufbessern, etwa mit einem Gedicht pro Tag.
Oder wir könnten es uns leisten, täglich fünf Minuten lang etwas anzuschauen, ganz gleich was, nur einfach um der Freude des Anschauens willen.
Ein Museum erlaubt uns das, wenn wir nicht im Studieren steckenbleiben. Freilich, wir dürfen und sollen Museen auch zum Studieren benützen. Noch wichtiger ist aber, dass wir lernen, darüber hinauszugehen; dass wir die reine Freude des Anschauens lernen. Und dazu bedarf es gar keines Museums. Wir Kinder kannten ein Weidengestrüpp am Preinerbach, das wir «Bachmuseum» nannten. Nach jedem Wolkenbruch schwemmte dort das Wasser neue Sehenswürdigkeiten an. Da war ein rostiger Vogelkäfig, halb im Sand vergraben. Ein lederner Stiefel mit Löchern in der Sohle lag halb im Wasser. Noch grüne Äpfel schwammen wieder und wieder im Kreis in einer seichten Bucht. Und Fetzen von einem gestreiften Hemd hingen im von der Strömung kahlgespülten Wurzelwerk.
Stundenlang konnten wir da auf dem Schulweg am Bachrand stehen und schauen.
Wenn ich heutzutage wenigstens vor einem Werk Picassos oder El Grecos so stehen könnte und so schauen. Wenn es uns aber einmal geschenkt wird ‒ so sehr wir uns nämlich bemühen müssen, es bleibt letztlich doch Geschenk ‒, wenn wir einmal ganz Auge sind, dann ereignet sich etwas Seltsames.
Wieder ist es Rilke, der uns dies in Erinnerung ruft. Wir haben es ja alle erlebt. Aber es ist uns irgendwie unheimlich, und da ziehen wir uns furchtsam ins Vergessen zurück.
In seinem Sonett «Archaischer Torso Apollos», feiert der Dichter jene seltsame Begegnung.
Zwölf Zeilen genügen ihm, um uns völlig in den Bann dieses griechischen Bildwerks zu ziehen. Wir stehen wie geblendet vor diesem Torso aus flimmerndem Marmor. Wir sind ganz Auge. Und das ist der Punkt, an dem sich das Seltsame ereignet. Völlig ins Anschauen versunken, sind wir plötzlich die Angeschauten, Mitten in der vorletzten Zeile dreht sich unvermittelt alles um:
denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht.
Die wir uns für Kenner hielten, sind erkannt. Wir, die als Richter kamen, stehen vor Gericht. Dann fällt der Richtspruch.
Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.
Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter den Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;
und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.[6]
Der letzte Satz, ganz am Ende der letzten Zeile, spricht das Urteil über uns aus. Dass dieser Richtspruch uns zu dem verurteilt, was wir uns im Geheimen ersehnen, wird noch zu zeigen sein.
Hier wollen wir zunächst die seltsame Begegnung ins Auge fassen, aus der das Urteil mit innerer Notwendigkeit fließt.
Wenn unser befeuertes Schauen jenen Grad erreicht, den wir den Schmelzpunkt nennen könnten, dann sind wir endlich völlig gesammelt. Was sich sonst an Vergangenes klammert oder nach Zukünftigem ausstreckt, ist jetzt in Sammlung gegenwärtig.
Und da ereignet es sich dann, dass uns etwas Geheimnisvolles «entgegenwartet».[7]
Ob wir es das Schöne nennen, das Wahre, das Gute, oder einfach die treue Verlässlichkeit auf dem Grund aller Dinge ‒ was uns da begegnet, erwartet etwas von uns, erwartet alles von uns:
Du musst dein Leben ändern.
Unser gesammeltes Herz erlebt, dass Gegenwart etwas von uns erwartet.
Wir mögen von der Forderung betroffen sein. Was aber von uns gefordert wird, ist etwas, wonach unser Herz sich im Grunde sehnt.
Das Kind in uns sehnt sich danach. Immer wieder erfinden Kinder ein Spiel, in dem das Ausdruck findet. Das Kind schließt die Augen und springt von einer Bank oder vom Treppenabsatz dem Vater in die Arme. «Papa, fang mich auf!»
Was die Verlässlichkeit auf dem Grund aller Dinge von uns verlangt, ist, dass wir uns darauf verlassen. Treue fordert Vertrauen.[8]
Darin liegt immer ein Wagnis.
Wie aber sollen wir ohne Wagnis verwandelt werden?
Und auf Verwandlung läuft alles hinaus.
Verwandlung ist das Wesen
des dritten Schrittes im Dreischritt des horchenden Herzens.
Kindliche Sinnlichkeit, unser erster Schritt, führt zu einem Höhepunkt im zweiten, in der seltsamen Begegnung.
Aber diese Begegnung verwandelt uns.
In seinem Gedicht «Spaziergang» spricht Rilke mit seltener Klarheit von der Verwandlung, die sich in unserem dritten Schritt vollzieht.
Schon ist mein Blick am Hügel, dem besonnten,
dem Wege, den ich kaum begann, voran.
So fasst uns das, was wir nicht fassen konnten,
voller Erscheinung, aus der Ferne an ‒
und wandelt uns, auch wenn wir's nicht erreichen,
in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind;
ein Zeichen weht, erwidernd unserm Zeichen …
Wir aber spüren nur den Gegenwind.[9]
Schau wird hier zur Wandlung.
Schönheit ergreift und macht die Ergriffenen selber schön.
Das Erlebnis von Erhabenem ist erhebend.
Mehr noch: der Anblick dieses blühenden Mandelbäumchens (im Garten oder auf van Goghs Leinwand) lässt mich ganz klar fühlen, dass ich dadurch jetzt mehr ich selbst bin, als ich vorher war.
Die Begegnung mit dem Unfasslichen am Rande unserer Sehnsucht verwandelt uns aber nicht in Fremdes, sondern
in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind.
Von hier aus rückblickend, können wir den Dreischritt des schauenden, horchenden Herzens überall dort entdecken, wo es darum geht, im Leben Sinn zu finden.
Wir Menschen sind ja so angelegt, dass Zweck allein uns nicht genügt. Kein Zweck kann uns befriedigen, wenn wir ihn nicht sinnvoll finden. Und wenn wir im Leben keinen Sinn mehr finden, dann ist es um uns geschehen. Was für Tiere der Selbsterhaltungstrieb ist, das ist für uns Menschen die Sehnsucht nach Sinn. Darum können wir ja unseren Selbsterhaltungstrieb, den wir mit den Tieren gemeinsam haben, opfern, so stark er auch immer sei. Wir können unser Leben hingeben, wenn uns das sinnvoll erscheint.
Wir können freiwillig sterben. Jeder weiß das.
Was nur wenige wissen, ist dies: Wir können auch freiwillig leben.
Die innere Gebärde ist die gleiche. Unser Leben (täglich) hingeben, das heißt Sinn finden. Das aber heißt, wahrhaft leben.
Wem fällt da nicht Goethes «Selige Sehnsucht» ein, und besonders die letzte Strophe?
Und solange du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.[10]
Rilke sagt es mit einer einzigen Zeile. Und die stammt aus dem Sonett, dem wir die Überschrift für diese Erwägungen entnommen haben:
Geh in der Verwandlung aus und ein.
Ist das der Sinn unseres Lebens? Seit Urzeiten fragt das Kind in unserem Herzen nach dem Sinn des Lebens. Seit Urzeiten gibt unser Herz die Antwort, gibt sie in der Form des Heldenmythos.
Es ist daher gar nicht schwer, im typischen Heldenmythos den Dreischritt des horchenden Herzens wiederzufinden.
Kindliche Sinnlichkeit hat doch etwas von der Tapferkeit an sich, mit der ein jugendlicher Held in die Welt hinauszieht, bereit für Abenteuer.
In der seltsamen Begegnung
fasst uns das, was wir nicht fassen konnten,
es ergreift uns Ergriffene.
Auch der Held muss sich am Höhepunkt des Mythos dem Unfassbaren stellen, dem Geheimnis von Liebe und Tod. Liebe und Tod verlangen letztlich vom Helden, was die seltsame Begegnung von uns verlangt: Bereitschaft, unser Leben hinzugeben.
Das ist es ja, was wir innerlich tun, wenn wir uns vertrauend verlassen auf die Treue und Verlässlichkeit im Herzen aller Dinge ‒ wenn wir uns (uns selbst) verlassen.[11]
Aber diese innere Gebärde verwandelt. Den Helden, wie uns, verwandelt sie.
Der Held wird durch die Begegnung mit dem Unfasslichen zum Lebensbringer, das heißt, zum Sinnträger.
An uns wird das Wort wahr:
Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.
Dass wir selber Sinn werden, wenn wir Sinn finden, das ist vielleicht am schwersten zu verstehen. Das christliche Verständnis unserer drei Schritte kann uns da vielleicht weiterhelfen.
In christlicher Schau entspricht die kindliche Sinnlichkeit dem Glauben. Mit gläubig tapferem Vertrauen geht sie auf Gottes Welt zu, verlässt sich auf die göttliche Güte.
Grundzug der seltsamen Begegnung ist dann die Hoffnung. Wie kindliche Sinnlichkeit zur seltsamen Begegnung führt, so der Glaube zur Hoffnung. Hoffnung ist ja völlige Offenheit für Überraschung, und die ist nur im Vertrauen des Glaubens möglich.
Hoffnung kann sich ergreifen lassen vom Ergreifenden; sie kann sich verlassen, weil sie um die Verlässlichkeit weiß, die jedem Ding und jedem Augenblick zuinnerst eignet. Sie kann sich fallenlassen, weil sie weiß, dass einer
dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.[12]
So aufgefangen zu werden im Fallen und dazu «ja» zu sagen, das ist der Liebe eigen.
Es ist zugleich die innerliche Gebärde der Sinnfindung, der Sinnwerdung.
Nur durch Liebe finden wir Sinn. Indem wir in Liebe aufgehen, werden wir Sinn.[13]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 13]
[Ergänzend:
1. Film (1975) und Transkription:
(20:33) «In dem lebendig werden, von dem wir hier sprechen, kommt viel darauf an, das Kind in uns zu ermutigen. In jedem von uns lebt dieses Kind und unsere Kindheit ist nicht lang genug, um das vielversprechende Kind wirklich zur vollen Entwicklung kommen zu lassen. Ein ganzes Leben reicht kaum dazu aus. Unsere große Aufgabe ist, Kind zu werden. Nicht kindisch, sondern kindlich. In der ganzen Frische kindlicher Begegnung mit der Welt.»
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2016)
Wort
(20:08) ‹Archaïscher Torso Apollos›
2.2. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Audio ‹Sehen lernen›:
(01:02:35) Mit den Augen des Herzens sehen, was die Augen nicht sehen können: ‹Hast du deine Schwester, deinen Bruder gesehen, dann hast du deinen Gott gesehen› ‒ Einander wie mit den Augen einer Mutter anschauen: ‹Das kannst du doch› schafft Raum, in den wir hineinwachsen können ‒ Sich an Träume erinnern
(01:11:10) Augen und Ohren ‒ sehen und hören
(01:14:07) Das Kind werden, das wir sind
2.3. Löwe, Lamm und Kind (1992)
Themen der Fragerunde:
Audio: Das Kind in uns und das mönchische Leben
2.4. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
3. Mit dem Herzen horchen ‒ Die Themen des Gesprächs:
Audio ‹Und wandelt uns ...› (R. M. Rilke, ‹Spaziergang›)
2.5. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Amen: Unsere Antwort auf die ‹amunah›, die Treue Gottes:
(16:08) Franziskus und Eigenschaften des Kindes: Wenn ein Kind vor Freude strahlt, ist das schon Dankgebet. Milch! Die Szene im Film von François Truffaut ‹L’enfant sauvage› (1970): Unsere Kindheit ist zu kurz für uns, um die Kinder zu werden, auf die hin wir angelegt sind
(22:03) Sich an einen Geschmack erinnern, der die ganze Kindheit zurückbringt, Schmecken und Kosten wirklich erleben
3. Weiter Texte
3.1. Musik der Stille (2023), 55f.:
«Die kleine Tochter eines Freundes sagte eines Morgens zu ihrem Vater: ‹Papi, ist es nicht erstaunlich, dass es mich gibt?› Kinder wissen intuitiv, wie erstaunlich und erfreulich es ist, dass es überhaupt irgendetwas gibt. Und das Kind in uns stirbt nie. Wir können es einsperren, wir können es vergessen oder stark vernachlässigen, aber solange wir leben, bleibt es am Leben. Es ist eine unserer großen Aufgaben, dieses Kind wieder zu befreien und es zu ermutigen, solche tiefsinnigen Fragen zu stellen. Dann schauen wir alles durch staunende Augen an und nehmen alles mit einem offenen Herzen auf.
Dieses Erwecken des Kindes in uns ist nicht einfältige Sentimentalität; es macht den Kern der mönchischen Bemühungen und jeder Spiritualität aus.
Das eigentliche Ziel ist das, was der Philosoph Paul Ricœur die ‹zweite Naivität› nennt: die Verbindung der hellen Begeisterung kindlicher Unschuld mit jener Weisheit, die sich aufgrund von Erfahrung einstellt.
Die Gregorianischen Gesänge sprechen das Kind in uns an, weil sie die reine Freude am Lebendigsein ausdrücken.»
3.2. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 128
Gedicht ‹Blaue Hortensie›
TRANSKRIPTION DES SEMINARS TEIL I,, 45-50:
Gedicht ‹Archaïscher Torso Apollos›
3.3. Der Mönch in uns (1978) [der Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger findet sich auch in Kapitel 3 «Der Mystiker in uns allen» im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 44-63]
«Im Kind gibt es eine riesige Neugierde herauszufinden, wie die Dinge funktionieren, und einen starken Ansatz zur Zweckgerichtetheit; und dies ist der einzige Antrieb, den wir in der Regel fördern. Aber es gibt auch ein großes Verlangen nach Kontemplation, das wir in der Regel nicht fördern. Wenn wir heutzutage ein Kind auf der Straße sehen, so wird es meistens an einem langen Arm entlanggezogen, und wer immer es zieht, sagt: ‹Komm, wir müssen weiter! Wir haben keine Zeit! Wir müssen nach Hause (oder sonst wohin). Steh da nicht einfach herum! Tu was!› So sieht der Kern der Sache aus. Aber es gab andere Kulturen, zum Beispiel viele amerikanische Indianerstämme, die ein gänzlich anderes Erziehungsideal hatten:
‹Ein gut erzogenes Kind sollte sitzen und schauen können, wenn es nichts zu schauen gibt.› Und: ‹Ein gut erzogenes Kind sollte sitzen und zuhören können, wenn es nichts zu hören gibt.›
Das ist zwar eine Einstellung, die völlig anders ist als unsere, doch wird sie dem Wesen der Kinder viel gerechter. Genau das möchten sie nämlich tun: einfach nur herumstehen und schauen und völlig in dem aufgehen, was sie sehen oder hören oder lutschen oder lecken oder womit sie gerade spielen. Und natürlich zerstören wir diese Fähigkeit zum Offensein für Sinn bereits sehr früh; indem wir sie zu Sachen zwingen und die Dinge in die Hand nehmen, steuern wir sie ausschließlich in die Zweckbezogenheit hinein.»
3.4. Kind und Kunst (1948):
«Je mehr wir uns in diesen anspruchsvollen Vortrag von Franz Kuno vertiefen, umso mehr verstehen wir, wie sehr er von einem archimedischen Punkt aus spricht, der weit entfernt ist vom damaligen wie auch heutigen Zeitgeist. Es geht um das Einüben einer kindlichen Haltung: Bereitschaft lernen, staunen, unvoreingenommen Kunst zu betrachten»]
________________________
[1] R.M. Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XXIX, siehe Transkription
[2] ‹Das Lied des Blinden› (R. M. Rilke: ‹Das Buch der Bilder, 2. Buch, 2. Teil)
[3] ‹Blaue Hortensie› (R. M. Rilke, Neue Gedichte)
[4] Walter Flex (1887-1917): ‹Das Weihnachtsmärchen des fünfzigsten Regiments› (1918):
«‹Was ist das, das Reich der tausend Sinne?› fragte das Weib, und der graue Führer antwortete: ‹Es ist das, was ihr auf Erden den Himmel nennt. Ihr auf Erden dürft nur mit fünf armen Sinnen den Reichtum der Welt fühlen, sehen, hören, riechen und schmecken. Danach aber kommt ihr in das Reich der tausend Sinne und werdet mit Kräften begabt, die sich mit Menschenworten nicht nennen lassen. Darüber sind noch tausend Reiche, in denen die Seelen wohnen werden auf ihrer Wanderung zu Gott wie in Gasthäusern am Wege.»
[5] «Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Siehe, wie klein dort,
siehe: die letzte Ortschaft der Worte, und höher,
aber wie klein auch, noch ein letztes
Gehöft von Gefühl. Erkennst du’s?
Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Steingrund
unter den Händen. Hier blüht wohl
einiges auf; aus stummem Absturz
blüht ein unwissendes Kraut singend hervor.
Aber der Wissende? Ach, der zu wissen begann
und schweigt nun, ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.
Da geht wohl, heilen Bewusstseins,
manches umher, manches gesicherte Bergtier,
wechselt und weilt. Und der große geborgene Vogel
kreist um der Gipfel reine Verweigerung. ‒ Aber
ungeborgen, hier auf den Bergen des Herzens ...»
R. M. Rilke, Aus dem Nachlass
[6] ‹Archaïscher Torso Apollos› (R. M. Rilke, Der Neuen Gedichte anderer Teil)
[7] Das Wort stammt auch von Rilke: «Nach aller Kunst wieder einmal Natur. Nach dem vielen das eine, nach dem Suchen diesen einen großen und unerschöpflichen Fund, in welchem tief innen noch unberührte Künste einer leisen Erlösung entgegenwarten.»
(R. M. Rilke, Das Florenzer Tagebuch)
[8] «In Augenblicken, in denen wir wirklich aus unserem Herzen leben, sind wir mit dem Herzen aller Dinge verbunden. Ganz spontan erkennen wir dann ‹die Zuverlässigkeit im Herzen aller Dinge›, wie Reinhold Niebuhr es so schön sagte.» [Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 93; bzw. Fülle und Nichts (2015), 92]
[9] ‹Spaziergang› (R. M. Rilke, Aus dem Nachlass)
[10] ‹Selige Sehnsucht› (J. W. Goethe, West-östlicher Divan)
[12] ‹Herbst› (R. M. Rilke, ‹Das Buch der Bilder›); Bruder David spricht das Gedicht im Audio Wähle das Leben (1992)
Vortrag:
(03:59) Sich in Gottes Hände fallen lassen / (05:21) Die Blätter fallen‘ (Rilke)
[13] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 268, 271-279: Der Text ist aus «Der Dreischritt des horchenden Herzens» im Buch
Die Achtsamkeit des Herzens: Durch die Sinne Sinn finden (2021), 35, 38-51