Film, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
(Film 00:24) Lebendig sein: darauf kommt’s schließlich im Letzten an. Das geistliche Leben heißt ja, ein überaus lebendiges Leben führen. Dass wir noch nicht gestorben sind, bedeutet nicht, dass wir wirklich lebendig sind. Wir leben oft so halbtot dahin. Der Geist ist der Lebensatem Gottes in unserer christlichen Tradition, in der ganzen biblischen Tradition. Daher bedeutet ein geistliches Leben führen, völlig lebendig zu sein. Mit allen Sinnen. Und darauf kommt es schließlich im Letzten an: Lebendigkeit.
(04:00) Wenn wir vom Sinn finden sprechen, dann kommen natürlich die Sinne in das Spiel. Denn es ist ja kein Zufall, dass Sinn und Sinne dem Wort nach zusammenhängen. Rilke hat das so wunderbar in seinem Gedicht zusammengefasst in einem der Sonette an Orpheus:
Sei in dieser Nacht aus Übermass
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne.
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.
Sei Sinn! Denn Sinn finden, heißt ja eigentlich Sinn werden. Das heißt so zu leben, dass wir in jedem Augenblick uns dem stellen ‒ mit allen unsern Sinnen ‒, was uns entgegenkommt.
(06.45) Wenn es darum geht, sich in jedem Augenblick völlig von dem ansprechen zu lassen, was der gegebene Augenblick enthält, dann kommt im geistlichen Leben eigentlich alles darauf an, mit dem Herzen zu horchen und von ganzem Herzen zu antworten.
Und das ist in der biblischen Tradition ganz fest verankert, denn dort läuft alles darauf hinaus, dass wir unser tiefstes Leben als Zwiegespräch mit der göttlichen Gegenwart erleben.
Ursprünglich in unserer natürlichen Frömmigkeit denken wir noch nicht notwendigerweise an einen persönlichen Gott. Sondern wir erleben in unsern besten, lebendigsten Augenblicken eine tiefe Geborgenheit, ein Zugehörigkeitsgefühl, ein Daheimsein in der Welt. Wir sind hier nicht verweist, wir wurden erwartet, wir sind eingebettet, die Welt ist für uns vorbereitet, wir sind hier zu Hause.
Und von diesem Zugehörigkeitsgefühl ist kein sehr weiter Weg zu der Gegenseitigkeit der Zugehörigkeit. Und da kommt dann die persönliche Bezogenheit zum Göttlichen herein, und das ist der Gesichtspunkt des Religiösen, der in der biblischen Tradition besonders unterstrichen wird, auf den die biblischen Autoren besonders ansprechen.
Wenn es zum Beispiel heißt in der Schöpfungsgeschichte: «Gott sprach und es ward Licht.» Und «Gott sprach», und da war ein Firmament», und «Gott sprach», und er schafft so ein Ding nach dem andern …, dann heißt das in unserer gegenwärtigen Sprache eigentlich, dass wir dann Sinn finden im Leben, wenn wir alles, was es gibt, als Wort verstehen durch das die göttliche Gegenwart uns anspricht: Also mit allen unsern Sinnen uns darauf einstellen, dass Gott spricht.
Aber wie spricht Gott? Durch alles, was es gibt. Jeder Gegenstand, jede Person, jede Situation ist letztlich WORT. Das Wort sagt mir etwas und fordert mich auf zu antworten. Jeder Augenblick mit allem, was er enthält, spricht das große Ja auf neue und einzigartige Weise aus. Indem ich darauf anspreche, Augenblick für Augenblick, Wort für Wort, werde ich das WORT, das Gott in mir und zu mir und durch mich spricht.
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Du hast mich mit Augen beschenkt und du beschenkst meine Augen mit Farben ‒
von den Farben, die im Morgengrauen stillschweigend zu sich finden,
bis zu den lauten Farben am Mittag
und den jubelnden beim Sonnenuntergang.
Jede Farbe hat ihren eigenen Ton.
Mit jeder Farbe sprichst du mir ein Wort zu,
das sich nicht in Worte fassen lässt.
Mach mich heute hellhörig für Farben,
besonders für leise Farbtöne, die ich nicht nennen kann,
die mich Ehrfurcht lehren vor allem, was unnennbar ist wie du.
Amen»
Deshalb ist Achtsamkeit eine so überaus wichtige Aufgabe. Wie kann ich auf diesen jetzigen Augenblick ganz ansprechen, wenn ich nicht wach bin für seine Botschaft? Und wie kann ich wach sein, wenn nicht alle meine Sinne hell wach sind?
Gottes unerschöpfliche Poesie kommt mir in fünf Sprachen entgegen: Gesicht, Gehör, Geruch, Gespür und Geschmack. Alles Übrige ist Deutung – genau genommen Textkritik, nicht die Poesie selbst, denn Poesie entzieht sich der Übersetzung. Sie kann nur in ihrer Originalsprache ganz erfahren werden, was für die göttliche Poesie der Sinnlichkeit umso mehr gilt. Wie kann ich also den Sinn des Lebens verstehen, wenn nicht durch meine Sinne?
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Alles soll heute Begegnung werden mit dir
durch Wort und Bild ‒ durch alles, was meine Sinne anspricht,
durch alles, was dabei in meinem Herzen aufleuchtet.
‹Quellgrund›? ‹Meer›? Bilder und Worte, von mir gefunden.
Aber was dahintersteht, ihre Bedeutung, ist nicht Erfindung, sondern Fund. Nur im Erfinden kann ich dich finden.
‹Wir dürfen jenen erhorchen›, sagt der Dichter von dir, ‹der uns am Ende erhört›.
Lass mich heute dich erhorchen in allem, was ich mit Ohr und Herz höre!
Und erhöre du dieses Gebet.
Amen»
Wann und worauf reagieren unsere Sinne am bereitwilligsten? Wenn ich mir diese Frage stelle, denke ich sofort an die Arbeit in meinem kleinen Garten. Wegen ihres Duftes habe ich dort Jasmin, Minze, Salbei, Thymian und acht Arten Lavendel. Welch eine Fülle köstlicher Düfte auf einem so kleinen Stück Erde!
Und welche Vielfalt von Tönen: Der Frühlingsregen, der Herbstwind, die Vögel im ganzen Jahr – Trauertaube, Blauhäher und Zaunkönig; der scharfe Ruf des Falken zur Mittagszeit und die Rufe der Eule zur Nacht –, das Geräusch der Ginsterruten auf dem Kies, das Spiel des Windes und die knarrende Gartentür.
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer dem alles zuströmt!
Öffne du mir heute die Ohren meines Herzens, damit ich nicht nur Geräusche höre und Töne, sondern ‒ darüber hinaus ‒ dich? Ja, dich!
Dich in Vogelstimmen mitzuhören ‒
im Singen der Amseln,
im Zwitschern der Spatzen,
im nächtlichen Schrei der Zugvögel ‒
das ist leicht.
Mach mich aber bereit, auch in Stimmen,
die mir nicht so angenehm sind, dich mitzuhören ‒
in Sirenen und Kreissägen,
in den Abendnachrichten,
vor allem aber in allem Unausgesprochenen,
das um liebendes Hinhorchen fleht.
Darum bitte ich dich heute, du, mein ‹Darüber-Hinaus›!
Amen.»
Wer könnte den Geschmack einer Erdbeere oder Feige in Worte übersetzen?
Und welch endlose Auswahl von Dingen, die man berühren kann, vom taunassen Gras unter meinen nackten Füßen bis zu den sonnen-durchwärmten Felsen, an die ich mich lehnen kann, wenn die Abende kühl werden.
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Zu den schönsten Morgenstunden meines Lebens
gehört das Barfußlaufen durch taufrisches Gras.
Zwar hab ich das gar nicht so oft erlebt,
in meiner Erinnerung aber steigt es immer wieder auf
und ich freue mich daran.
Könnte ich das eigentlich nicht täglich tun?
Du schenkst mir Fantasie genug, die Heilkraft zu fühlen,
die aus dem kühlen, feuchten Rasen aufsteigt;
jeder Grashalm weckt frische Lebendigkeit in meinen Fußsohlen.
Heute soll meine Fantasie mir dienlich sein:
Taufrisches Barfußlaufen (auf dem Bettvorleger)
soll mein freudiges Morgenlob werden.
Amen.»
Meine Augen gehen vor und zurück zwischen Fernem und Nahem: der goldgrüne, metallisch glänzende Käfer zwischen den Blütenblättern einer Rose, die unermessliche Weite des Pazifischen Ozeans zwischen der Küste tief unten und dem weiten Horizont, wo Meer und Himmel sich im Dunst begegnen.
Ja, ich gebe es zu: Einen solchen Platz zu haben, ist ein unschätzbares Geschenk. Es lässt das Herz aufgehen, die Sinne erwachen, einen nach dem anderen von neuer Vitalität lebendig werden. Wie auch immer die Umstände beschaffen sein mögen: Wir brauchen Zeit und Ort, um uns dieser Art von Erlebnis zu widmen. Es ist eine Notwendigkeit im Leben eines jeden, kein Luxus.
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Erst, wenn ich mich so recht in Vögel einfühle, wird mir bewusst, dass ja auch wir ohne Hände auskommen müssten, wenn uns keine geschenkt wären.
Wo immer man im Freien isst, nie fehlen Spatzen unter den Tischen.
Um wieviel geschickter diese Spatzen Krümchen aufzupicken verstehen, als Kinder beim Wettspiel mit gefesselten Händen in den Apfel zu beißen, der im Wasser schwimmt!
Sie schauen mich an wie beim Fahrradfahren-Lernen: «Schau! Freihändig kann ich's!»
Was ich alles mit Händen tun kann, will ich heute beachten.
Amen.»
Was in solchen Momenten zum Leben erwacht, ist mehr als Augen und Ohren: unsere Herzen lauschen und öffnen sich.
Bevor ich nicht meine Sinne eingestimmt habe, bleibt mein Herz düster, schläfrig, halbtot. In dem Maße, in dem mein Herz erwacht, vernehme ich die Aufforderung, mich meiner Verantwortung zu stellen. Wir übersehen leicht die enge Verbindung zwischen Antwortbereitschaft und Verantwortlichkeit, zwischen Sinnlichkeit und gesellschaftlicher Herausforderung.
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Mit verschlafenen Augen sehe ich die Welt weit anders als später am Tag. Auch darin liegt ein Geschenk:
Beim Aufwachen greifen meine Augen noch nicht nach dem, was ich sehe, sondern empfangen es einfach, ohne scharf zu unterscheiden,
ohne zu benennen, ohne zu wählen.
Wie viel reicher ist da die Ernte meines Blickfeldes als die karge Auswahl,
die ich dann später treffe.
Hilf mir heute, mich bewusst einzulassen auf diese bereitwillige Empfänglichkeit des Schauens, und so erst wahrhaft wach
durch diesen Tag zu gehen.
Amen.»
Wenn wir lernen, wirklich mit unseren Augen zu sehen, beginnen wir auch mit dem Herzen zu schauen. Wir fangen an, uns dem zu stellen, das wir lieber übersehen, um zu bemerken, was auf dieser unserer Welt geschieht.
Wenn wir lernen, mit unseren Ohren zu lauschen, beginnt unser Herz den Schrei der Unterdrückten zu vernehmen. Mit dem eigenen Körper in Kontakt zu sein heißt, mit der Welt in Verbindung zu sein – und dazu gehören auch die Dritte Welt und alle anderen Bereiche, derer sich unsere stumpfen Herzen bequemer Weise nicht bewusst sind.
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Jeden Morgen erwache ich zum Geschenk eines neuen Tages, aber auch zu allem E1end der Welt.
Unheil, das wir Menschen anrichten, ist entsetzlich genug.
Aber Erdbeben, Epidemien, Tsunamikatastrophen, wo kommen die her?
Ich will keine rosa Brille, will dich nicht nach meinen Wunschträumen erfinden.
Ich möchte dich kennenlernen, wie du bist.
Lebensfülle und Vernichtung ‒ beides stammt von dir, du Unergründlicher. Mich schaudert.
Ich kann verzweifeln oder vertrauen. Ich wähle vertrauen.
Alles Böse ist das Noch-nicht-Gute.
Mit diesem Vertrauen will ich heute Schreckensnachrichten hören.
Amen.»
Auf meinen Reisen merke ich, wie leicht man seine Achtsamkeit verliert. Die Übersättigung unserer Sinne neigt dazu, die Wachheit zu dämpfen. Eine Flut von Sinneseindrücken lenkt das Herz leicht von der gesammelten Aufmerksamkeit ab.
Aber der Einsiedler in jedem von uns läuft nicht vor der Welt davon; er sucht das Zentrum der Stille im Innern, wo der Pulsschlag der Welt zu hören ist.
Wir alle – jeder in anderem Maße – brauchen Einsamkeit, weil die Pflege unserer Achtsamkeit notwendig ist.
Wie sollen wir dies praktisch durchführen? Gibt es eine Methode zur Pflege der Achtsamkeit?
Es gibt viele Methoden. Der Weg, den ich gewählt habe, ist Dankbarkeit; man kann sie üben, pflegen, lernen. Je mehr wir in der Dankbarkeit wachsen, desto mehr wachsen wir in der Achtsamkeit. Bevor ich des Morgens meine Augen öffne, mache ich mir bewusst, dass ich Augen habe zu sehen, während Millionen meiner Brüder und Schwestern blind sind – die meisten aufgrund von Umständen, die man bessern könnte, wenn die Menschheitsfamilie zur Vernunft käme und ihren Reichtum sinnvoll, das heißt gleichmäßig, verteilte.
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!»
Wenn ich bewusst und hellwach schauen lerne, wächst meine Lebensfreude, meine Dankbarkeit fürs Sehen-Können, aber auch Bestürzung darüber, dass mehr als 40 Millionen meiner Mitmenschen blind sind ‒ Hauptursache: Mangelernährung und Hunger bei Kindern. Dabei würden die weltweiten Aufrüstungskosten von nur drei Tagen genügen, Hunger aus der Welt zu schaffen.
Heute will ich wenigstens einem Menschen diese erschütternden Statistiken bewusst machen und fragen: ‹Was können wir tun?›
Solche Fragen können weite Kreise ziehen und Menschen aufwecken. Statt zu verzweifeln, lass mich also wach hinterfragen.
Amen»
Wenn ich meine Augen mit diesem Gedanken öffne, bin ich höchstwahrscheinlich dankbarer für die Gabe des Sehens und wacher für die Bedürfnisse jener, die dieser Gabe ermangeln. Bevor ich am Abend das Licht ausschalte, notiere ich mir etwas, für das ich noch niemals dankbar gewesen bin. Das übe ich nun seit Jahren, und der Vorrat scheint unerschöpflich zu sein.
Dankbarkeit bringt Freude in mein Leben. Wie könnte ich Freude finden in Dingen, die ich für selbstverständlich halte? Also höre ich auf, etwas für «selbstverständlich» zu halten, und schon ist kein Ende mehr der Überraschungen, die mir begegnen.
Eine dankbare Haltung ist schöpferisch, denn letzten Endes ist Gelegenheit das Geschenk, das verborgen ist in dem Geschenk eines jeden Augenblicks – die Gelegenheit, mit Vergnügen zu sehen, zu hören, zu riechen, zu berühren und zu schmecken.
Es gibt kein engeres Band als jenes der Dankbarkeit, die Verbindung zwischen dem Gebenden und dem Dankenden. Alles ist Geschenk. Dankbares Leben ist ein Fest des universellen Gebens und Nehmens im Leben, ein grenzenloses Ja zur Zugehörigkeit.
Kann unsere Welt ohne Dankbarkeit überleben? Wie die Antwort auch lauten mag - ein bedingungsloses Ja zur gegenseitigen Zugehörigkeit aller Wesen bringt mehr Freude in diese Welt.
Aus diesem Grunde ist Ja mein Lieblings-Synonym für Gott. [[1]]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 1]
[Ergänzend:
1. Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(12:41) Ich habe Glocken ungeheuer gerne, aber in einem gewissen Sinn ist der schönste Klang der Augenblick, in dem die letzte Glocke verstummt. Diese Stille nach dem Glockenläuten, die ist etwas ganz Wunderbares. Und erst wenn wir lernen, auf die Stille zu horchen, die den Ton umgibt, das Schweigen, aus dem der Ton hervorkommt, von dem der Ton sich absetzt, erst wenn wir lernen, mit dem Herzen auf die Stille hinzuhorchen, haben wir wirklich begonnen, mit dem Herzen hören zu lernen.
(13:55) Für jemanden, der wirklich mit dem Herzen fühlen lernt, der wirklich mit dem Herzen der Wirklichkeit begegnet, besteht kein Bruch zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen, zwischen dem Sakralen und dem Profanen.
Der Rausch aus dem Räucherstäbchen ist nicht heiliger als der Rauch, der aus dem Kamin aufsteigt. Auch der Rauch, der aus dem Kamin aufsteigt, ist eine Geste des Gebetes.
(14:30) Zu der großen Aufgabe des geistlichen Lebens, durch die Sinne Sinn zu finden, gehört natürlich auch das Riechen und der Geruchsinn. Aber das ist für die meisten von uns ‒ oder zumindest bei sehr vielen Menschen ‒ eine traurige Angelegenheit. Für die gibt es nur zweierlei Gerüche: gut und schlecht. Und das ist eine große Verschwendung unseres Geruchsinns: All diese wunderbaren Gerüche, die es in der Welt gibt. Wenn wir uns einmal darauf eingestellt haben, gar keine Gerüche als schlecht abzuschreiben, sondern uns einmal ihnen auszusetzen, dann finden wir, dass Dinge einen ganz eigenen Geruch haben, denen wir vorher gar keinen Geruch zugeschrieben haben. Holz hat einen ganz eigenen Geruch und verschiedene Holzarten ganz verschiedene Gerüche. Bücher: ein neues Buch, ein altes Buch. Für viele Menschen ist nur das Aufschlagen eines Buches schon mit einem gewissen Geruch verbunden und sogar gewisse Bücher mit der Erinnerung an gewisse Gerüche.
Überhaupt ist ja der Geruchsinn am engsten mit unserer Erinnerung verbunden. Wenn wir nur an die vielen Kindheitserinnerungen denken, die mit Gerüchen verbunden sind: eine Wäschelade, in der Lavendel ist, oder ein Fischmarkt oder das Meer oder Weihrauch: für wie viele Menschen Weihrauch ganz mit dem religiösen Kindheitserleben verbunden ist. Darum soll es uns auch gar nicht wundern, wenn in der Bibel und in vielen andern Traditionen der Geruchsinn eine ganz wichtige Rolle spielt.
(18:34) Der Gesichtssinn ist für die meisten Menschen der am weitesten entwickelte Sinn unserer Sinne. Aber dass jemand ein visueller Typ ist, heißt noch nicht, dass man wirklich gelernt hat mit dem Herzen zu schauen.
Das Wesentliche am mit dem Herzen schauen ist das Staunen: staunen können, so wie Kinder noch staunen können mit ihrer Unbefangenheit. Oder wie Künstler staunend auf die Welt schauen und so die Überraschung geradezu herausfordern. Oder wie Mütter auf ihre Kinder schauen. So sollten wir eigentlich auf alles schauen: auf andere Menschen, auf Tiere, Pflanzen, auf die ganze Welt, mit mütterlichen Augen, die sagen: Überrasch mich! Und so schaffen wir dann einen Raum, in den die Welt hineinwachsen kann, in den auch andere Menschen hineinwachsen können. Wenn wir mit Augen schauen, die ohne Worte sagen: «Überrasche mich!», dann werden wir wirklich unsere Überraschungen erleben.
(19:45) Erst wenn wir Blinde sehen, die uns in ihrer Sensitivität auf dem Gebiet anderer Sinne so viel zu lehren haben, erst dann wird es uns so richtig bewusst, was wir an unserem Gesichtssinn eigentlich haben, was für ein Schatz, was für eine Gabe das ist und mit welcher Dankbarkeit wir damit durchs Leben gehen sollen.
(20:33) In dem lebendig werden, von dem wir hier sprechen, kommt viel darauf an, das Kind in uns zu ermutigen. In jedem von uns lebt dieses Kind und unsere Kindheit ist nicht lang genug, um das vielversprechende Kind wirklich zur vollen Entwicklung kommen zu lassen. Ein ganzes Leben reicht kaum dazu aus. Unsere große Aufgabe ist, Kind zu werden. Nicht kindisch, sondern kindlich. In der ganzen Frische kindlicher Begegnung mit der Welt.
(21:50) Als Kinder hatten wir ein Spielzeug, das Kaleidoskop hieß, diese Röhre, in der verschiedene kleine Glasscherben sich herumbewegten zwischen Spiegeln und immer neue Muster ergaben. Das war schon eine große Überraschung, immer wieder neue Muster zu sehen. Aber heutzutage gibt es eine neue Art von Kaleidoskop, in dem drei Spiegel auf die Wirklichkeit hinzielen und man die verschiedenen Dinge im Raum immer wieder neu gespiegelt sieht. Mir kommt es vor, dass wir uns so ein Kaleidoskop in unser Auge einbauen müssten, um immer wieder überrascht zu werden von der Wirklichkeit, die wir rund um uns sehen. Wir müssten lernen, die Wirklichkeit immer wieder mit neuen Augen zu sehen, mit den Augen eines Kindes.
(23:12) Was es uns so schwer macht, mit kindlicher Frische und Unvoreingenommenheit unsere Welt zu sehen, ist Übersättigung und Gewöhnung. Wir müssten eben lernen, mit ganz frischen Augen wieder zu schauen.
Jede Landschaft hat ihre eigenen besonderen, ganz unverwechselbaren sinnlichen Reize. Wir denken zum Beispiel an eine Berglandschaft. Oder ein Vergleich dazu zur Tiefebene. Wir denken ans Meer, an einen Fluss, aber auch die Stadt: Die Stadt hat einen ganz besonderen Appell an unsere Sinne. Sie überstürzt uns geradezu mit Formen und Farben und Geräuschen, die auf uns einstürzen. Auch die Stadt will etwas zu uns sagen, wenn wir uns nur mit allen Sinnen dafür öffnen.
(27:56) Der Tastsinn spielt eine ganz wichtige Rolle auf den Höhepunkten, den Durchgangspunkten unseres Lebens: in der Geburt, in der Liebesbegegnung, beim alten Menschen, im Tod, beim Sterbenden. Die Zärtlichkeit der Berührung. Etwas ungeheuer Wichtiges. Wir haben oft so harte Griffe. Wir denken nur ans Angreifen und nicht ans berührt werden.
(31:32) Wir vergessen allzu leicht, dass die Berührung, der Tastsinn, der Sinn ist, der immer gegenseitig ist. Berührung ist immer gegenseitig. Wir können sehen, ohne gesehen zu werden, wir können hören, ohne gehört zu werden usw., aber wir können nie etwas berühren, ohne selbst berührt zu werden.
Und uns so anrühren zu lassen von den Dingen, die wir berühren, das setzt voraus, dass wir es bewusst tun. Und wenn uns dann etwas berührt, dann wird es uns auch anrühren und wird uns auch zu Herzen gehen. Und darin liegt etwas zutiefst Dialogisches in diesem Sinn des Berührens und des berührt werdens. Wir erfassen etwas nur wirklich, wenn wir uns davon auch berühren lassen.
(34:54) Wenn wir Hausarbeit wirklich mit offenem Herzen tun, dann wird das Aufkehren, das Abstauben, das Zusammenräumen eine Art Liebkosung unserer Wohnung.
Wenn wir mit wirklich offenem Herzen das Geschirr berühren, während wir es abwaschen, dann wird uns auch das zu einem ganz tiefen Erlebnis. Bei der Teezeremonie zum Beispiel in Japan werden schwere Geräte aufgehoben wie wenn sie ganz leicht wären und leichte Geräte als ob sie ganz schwer wären. Wenn wir das einmal beim Geschirrabwaschen versuchen, einen kleinen Teelöffel aufzuheben als wäre er ganz schwer ‒ einen schweren Kessel aufzuheben als wäre er ganz leicht, dann wird uns auch das zu einem neuen Erlebnis. Wir sind dann vielleicht ganz anders darauf eingestimmt, dass das warme Wasser wirklich warm ist und das kalte Wasser wirklich kalt. Durch alle diese Erlebnisse spricht uns die Wirklichkeit an und das kann zu einem viel tieferen Bewusstsein führen.
(36:46) Der Geschmacksinn ist eigentlich der innerlichste unserer Sinne. Es ist kein Zufall, dass das lateinische Wort für Weisheit ‒ spientia ‒ eigentlich ein innerliches Schmecken heißt. Wörtlich ist sapientia ein innerliches Schmecken.
Und die tiefste Weisheit des Herzens besteht darin, einen Geschmack für die Welt zu entwickeln.
Und wie sollen wir das tun, wenn wir es nicht auch sinnlich mit unserer Zunge, mit unserm Geschmack lernen? Das ist eine sehr spirituelle Aufgabe wie mit all den andern Sinnen. Es handelt sich einfach darum, wirklich lebendig zu werden, wirklich aufzuwachen zu der Tiefe und Fülle des Lebens.
(38:40) Diese Art der Spiritualität, diese Art wirklich lebendig zu sein, und die Askese der Sinne, die dazu führt, ist im wahrsten Sinne allumfassend und also im echten Sinne katholisch. Sie schließt sich der ganzen Welt auf. Und das ist unsere große Aufgabe.
Das Kind in uns ist immer Dichter, bleibt Dichter. Und es tut das, was der Dichter tut. Es hebt das Sinnliche über den Wandel der Zeit ins Zeitlose hinaus.
(40:09) Das Erlebnis ist nicht vollendet, bevor es nicht in Erinnerung übergeführt wird. Diese Verwandlung von Sinneserfahrung in Erinnerung ist eine Verwandlung aus dem Sichtbaren, Schmeckbaren, Tastbaren, Riechbaren, Hörbaren in einen Bereich des Übersinnlichen.
(41:26) Diese Offenheit der Welt gegenüber von der wir hier sprechen, ist etwas so Wunderschönes, so Anziehendes, dass man sich wundern muss, warum wir uns so oft davor verschließen, warum wir nicht so leben, einfach im Alltag, warum man das üben muss.
Und die einzige Antwort, die ich finden kann, ist, dass wir uns fürchten.
Es kostet uns zu viel, uns dem auszusetzen. Wir wollen auswählen. Wir wollen uns nur dem aussetzen, was uns gut gefällt. Daher verschließen wir uns. Daher engen wir unsern Gesichtskreis ein.
Angst verengt uns überhaupt. Angst verengt schon die Blutgefäße. Angst hat zu tun mit Angina, ángina: mit Enge: mit der inneren Enge, mit dem nicht atmen können. Es hat aber auch zu tun mit der Enge des Geburtskanals, durch den wir durchmüssen, um wirklich das Licht der Welt zu sehen, um geboren zu werden. Und das verlangt ungeheuren Mut von uns.[2]
Dieser Mut, dieser Lebensmut, dieses gläubige Vertrauen in das Leben, das heißt im religiösen Sprachgebrauch Glaube. Und der Glaube ist eben einfach diese Offenheit dem Leben gegenüber, diese Bereitschaft für alles, was uns entgegenkommt. Dieses tiefe Vertrauen in die Welt, in das Leben und in den Urgrund und die Quelle des Lebens: ‹Gott›, wenn wir es so nennen wollen.
(43:41) Das Einzige, das wir wirklich lernen müssen, und das ist sehr einfach, ist aufzuwachen zu den vielen, vielen Geschenken, die wir täglich empfangen und sie dankbar entgegenzunehmen. Wenn wir wirklich dankbar sind, dann nehmen wir schon ganz spontan die Haltung ein, von der hier die Rede ist. Denn in der Dankbarkeit ist schon das Vertrauen beinhaltet dem Geber gegenüber, dem Gegebenen gegenüber, dem Leben, das uns sich gibt. Wenn wir dankbar sind, sind wir offen für dieses Geben, es in Empfang zu nehmen. Wir sind offen für Überraschungen.
In der Dankbarkeit freut man sich über Überraschungen. Man weist sie nicht zurück, sie sind einem willkommen, man ist bereit dafür.
Und wir sind auch bereit für dieses Geben und Nehmen, das zur Dankbarkeit gehört, das in Empfang nehmen und das Dank sagen.
Und in diesem Geben und Nehmen besteht unsere Zugehörigkeit zu der Welt: unser Daheimsein in der Welt.
(47:50) Dieses Ankommen am stillen Punkt, ist das Einzige, worauf es letztlich ankommt. Dieser stille Punkt des großen Tanzes ist das einzig Wesentliche.[[3]]
Wenn wir in diesem stillen Punkt, in diesem Ruhepunkt wurzeln, dann werden wir die Einheit alles Seienden entdecken.
Und eine solche Entdeckung ist immer ein großes Geschenk, ein ganz unerwartetes Geschenk, ein Windfall, ein Fischfang, so groß, dass es sich nicht zählen lässt.
Die Sinnoffenheit von der wir hier sprechen: mit dem Herzen fühlen, das ist nicht nur eine sinnliche Angelegenheit.
Das hat sehr viel zu tun mit sozialen Problemen.
Mit der Ganzheit der Welt.
Wir öffnen uns der Welt als Ganzes. Das heißt: Wenn wir wirklich schauen lernen mit dem Herzen, dann schauen wir auf die Welt wie sie ist und schauen nicht weg, wenn es uns nicht gefällt.
Wir müssen Dinge ins Auge fassen, die wir eigentlich nicht gerne sehen.
Wir werden vielleicht das Weinen der Welt hören.
Das Weinen der Unterdrückten.
Wir werden vielleicht riechen, dass etwas faul ist im Staate Dänemark.
Wir werden, wenn wir uns zu Tisch setzen, das Salz der Tränen kosten, das mit aus der Dritten Welt importiert wird mit unsern Lebensmitteln.
Wir werden ‒ wenn wir wirklich ehrfürchtig fühlen lernen, das heißt, uns auch wirklich berühren lassen von dem, was wir berühren ‒, dann werden wir zutiefst berührt werden von dem Elend der Welt auch.
Nicht nur von allem Schönen. Von allem Schönen und von allem Schweren und allem Schrecklichen das es in unserer Welt gibt.
Und das fällt uns sehr schwer. Es ist aber eine große Aufgabe für uns alle.
2. Audios
2.1. Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag und Fragerunde: Hl. Augustinus und die Erbsünde
Christlicher Glaube in heutiger Sprache:
Teil 4: Antworten aus «einem Stück» ‒ Mystik in Tabuzonen von Theologie, Gesellschaft und Kirche
2.2. Im Paradoxen Sinn erfahren (1989)
Vortrag und Dialog:
Teil 3:
(15:31) ‹Es ging um Opfer bringen, Leibfeindlichkeit und Abwehr von zu viel Freude› / (16:59) Manichäische Unterströmung unter dem Einfluss von Augustinus
3. Die Achtsamkeit des Herzens: Durch die Sinne Sinn finden (2021)
Der Dreischritt des horchenden Herzens, 32-52
Die Dankbarkeit der fünf Sinne, 53-79
Sinnlichkeit und christliche Askese, 80-99]
_____________________________
[[1]] Dieser Text ist eine Zusammenstellung aus der Transkription des Films Wir sind daheim in dieser Welt (1975), dem Text von Bruder David Begegnung mit Gott durch die Sinne (1993) und Gebeten aus seinem Buch DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 10, 19, 18, 71, 54, 17, 12, 11
[[2]]: Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 56f.
«Wir sind daheim in dieser Welt, und das Kind in uns weiß es. Als Kinder zweifelten wir nicht einen Augenblick daran, dass Liebe diese Welt entwarf. Darum blickten unsere Augen noch ‹mit hellem Mut›. Wir hatten eben noch den Mut, die Welt arglos dankbar als das zu erkennen, was sie ist, als Gabe. Was verdüstert uns dann heute so oft hellen Mut und hellen Blick? Furcht. Wir fürchten uns auf die Güte des großen Gastgebers zu verlassen; Furcht, uns ehrfürchtig vor dem Geber zu neigen. Wir haben Furcht vor der Ehrfurcht. Und warum? Weil die Ehrfurcht Gott jene Mitte zugesteht, die wir uns so gerne selber anmaßen. Gerhard Terstegen hat mit wenigen Worten zielsicher auf das Entscheidende an der Ehrfurcht hingewiesen: Nicht wir sind in der Mitte, sondern Gott.
‹Gott ist gegenwärtig; lasset uns anbeten
Und in Ehrfurcht vor ihn treten!
Gott ist in der Mitte …›
Wir müssen wählen zwischen Ehrfurcht und Furcht. Wer nicht den Mut zur Ehrfurcht hat, der fällt unweigerlich existentieller Angst zum Opfer. Nur die Ehrfürchtigen sind daheim in dieser Welt und wissen es.»
[[3]] Stillehalten und Transkription Anm. 3; siehe auch: Die Achtsamkeit des Herzens: Spiegel des Herzens (2021), 112 und 127f.:
… den Punkt erreichen, «den T. S. Eliot den ‹ruhenden Punkt der sich kreisenden Welt› nennt, den Ruhepunkt des großen Tanzes, den Gipfel, ‹wo Vergangenes und Zukunft vereint sind›.
‹Weder Fortgehen noch Hingehn,
Weder Steigen noch Fallen.
Wäre der Punkt nicht, der ruhende,
So wäre der Tanz nicht ‒
und es gibt nichts als den Tanz.›»
«Diese Erfahrung des Einklangs mit sich selbst und mit allem, ein Einklang, im Herzen der Welt gefunden, im ruhenden Punkt, diese Erfahrung ist immer Geschenk. Aber es ist eine Sache, spontan im ‹Augenblick des Glücks, … dem Blitz der Erleuchtung› davon überrascht zu werden, und eine ganz andere, sein ganzes Leben auf diesem Ruhepunkt aufzubauen und es auf ihn auszurichten. Dazu brauchen wir die Unterstützung anderer, die dasselbe Ziel verfolgen.»