Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Herz steht hier für den Kern unseres Wesens, in dem wir mit uns selbst eins sind, eins mit allen, eins sogar mit dem göttlichen Grund unseres Wesens.
Deswegen ist ein Schlüsselwort für das Verständnis des Herzens der Begriff Dazugehören ‒ das Einssein im grenzenlosen Dazugehören.
Ein zweites Schlüsselwort ist Sinn, denn das Herz ist das Organ für den Sinn.
Wie das Auge Licht wahrnimmt und das Ohr Klang, so nimmt das Herz Sinn wahr.
Gemeint ist hier nicht Sinn mit der Bedeutung, wie wir im Wörterbuch den Sinn eines Begriffs nachschlagen, sondern Sinn als das, was wir meinen, wenn wir eine Erfahrung als zutiefst sinnvoll bezeichnen.
Sinn mit dieser Bedeutung ist das, worin wir Ruhe finden.[1]
«Ruhelos ist unser Herz.» So drückte Augustinus[2] es aus. Der Kern unseres Wesens ist ein unerbittliches Fragen, Suchen, Sehnen. Selbst das Schlagen des Herzens in meiner Brust scheint lediglich das Echo eines tieferen Hämmerns in mir zu sein, eines Klopfens an eine verschlossene Tür. Noch nicht einmal das ist mir klar: Klopfe ich, um hereinzukommen, oder klopfe ich, um herauszugelangen? Eins aber ist gewiss:
«Ruhelos ist unser Herz, bis ...» Bis was? Bis wir Ruhe finden.
Was aber kann unseren existentiellen Durst löschen?
«Wie ein Hirsch, der da lechzt nach Wasserbächen, so lechzt meine Seele nach dir, o Gott» (Psalm 42,2).
Ein glücklicher Psalmist, konnte er doch dem einen Namen geben, wonach es uns durstend verlangt.
Welchen Namen aber sollten wir heute verwenden? Heute werden viele, deren Durst nicht weniger brennt, den Namen «Gott» nicht gebrauchen wollen, und das wegen jener unter uns, die ihn verwenden. Wir haben ihn missbraucht und sie damit verwirrt. Gelingt es uns, einen anderen Namen zu finden für das, was unserem Herzen Ruhe gibt?
Der Begriff «Sinn» bietet sich von selbst an.
Finden wir Sinn in unserem Leben, dann finden wir Ruhe. Das ist zumindest ein Ansatzpunkt für eine Antwort.
Wir wollen einmal davon ausgehen, dass wir wissen, was Sinn bedeutet. Wir wissen jedenfalls, dass wir zur Ruhe kommen, wenn wir etwas sinnvoll finden. Hier handelt es sich um eine Sache der Erfahrung, und das ist alles, was wir über Sinn wissen.
Sinn ist einfach das, worin wir Ruhe finden. Das aber ist gerade das Herz.
Es scheint ein Widerspruch zu sein. Und doch ist unser ruheloses Herz der einzige Ort, an dem wir Ruhe finden, wenn wir «am Ende all unseres Suchens» dort ankommen, wo wir anfingen und «den Ort zum ersten Mal kennen.»[3]
Das Herz zu kennen bedeutet zu wissen, dass es Tiefen kennt, die zu tief sind, um mit dem Verstand ausgelotet zu werden: die Tiefen des göttlichen Lebens in uns. Das Herz, das schließlich in Gott Ruhe findet, ruht in seiner eigenen unauslotbaten Tiefe.
Ein Gebet aus Rilkes Stunden-Buch lässt diese Intuitionen zu poetischen Bildern kristallisieren. Wieder beginnt Rilke mit der Polarisierung von Lärm und Ruhe.
Diesmal ist es die Versammlung von Widersprüchen in unserem Leben, die den Palast unseres Herzens mit einem ausgelassenen Narrenfest füllt. Natürlich ist es unmöglich, die Widersprüche alle auf einmal aus unserem Leben zu verbannen. Das Leben selbst ist widersprüchlich. Aber wir können Widersprüche in den großen ursprünglichen Symbolen zusammenlaufen lassen, wie das Symbol des Herzens eines ist. Gelingt uns das, dann beginnt eine große Stille zu herrschen, eine Stille, die auf heitere Weise festlich und sanft ist. Und in der Mitte dieser Stille steht Gott als ein Gast, als die ruhende Mitte unserer Monologe, als das temporäre Zentrum, eines Kreises, dessen Peripherie über die Zeit hinausreicht.
«Wer seines Lebens viele Widersinne
versöhnt und dankbar in ein Sinnbild faßt,
der drängt die Lärmenden aus dem Palast,
wird anders festlich, und du bist der Gast,
den er an sanften Abenden empfängt.
Du bist der Zweite seiner Einsamkeit,
die ruhige Mitte seinen Monologen;
und jeder Kreis, um dich gezogen,
spannt ihm den Zirkel aus der Zeit.»
Ruht unser Herz an der Quelle allen Sinnes, dann kann es auch allen Sinn fassen.
So verstanden ist Sinn etwas, das sich nicht in Worte fassen lässt.
Sinn lässt sich nicht wie eine Definition in einem Buch nachschlagen.
Sinn ist nichts, das sich greifen, halten und aufbewahren lässt.
Sinn ist nichts …
Vielleicht sollten wir diesen Satz hier abbrechen.
Sinn ist nicht Etwas unter anderem.
Eher könnte man ihn mit Licht vergleichen, in dem wir alles andere überhaupt erst sehen.
Ein anderer Psalm ruft Gott durstigen Herzens an:
«Denn bei dir ist der Brunnquell des Lebens, und in deinem Lichte schauen wir Licht» (Psalm 36,9).
Durstend nach der Fülle des Lebens, dürstet unser Herz nach dem Licht, das uns den Sinn des Lebens schauen lässt.
Finden wir Sinn, dann wissen wir es sofort, denn unser Herz findet Ruhe.
Immer ist es unser Herz, worin wir Ruhe finden.
Wie unsere Augen nur auf Licht und unsere Ohren nur auf Töne reagieren, so reagiert das Herz einzig auf Sinn.
Das Organ für Sinn ist das Herz.[4]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1 und 4]
[Ergänzend:
1. Film Der Sinn des Lebens (2011):
«Ich finde es hilfreich, wenn man sich bewusst macht, dass Sinn das ist, worin unser Herz Ruhe findet. Und das hat immer mit Beziehungen zu tun, immer mit Zugehörigkeit: Liebe als das gelebte Ja zur Zugehörigkeit, zum Zusammensein, ist der Sinn des Lebens, nach dem das menschliche Herz sich im Tiefsten sehnt.»
2. Audios zu «Sinn und Herz»:
2.1. Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(06:45) Augenblicke in denen wir als ganze Menschen da sind, oft ganz unverhofft, auch in schwierigen Situationen, Augenblicke, in denen uns die Wirklichkeit berührt, die wir oft auf Armeslänge von uns fernhalten, Herzensaugenblicke: Das Herz ist das Organ für Sinn und die tiefste Sinnsuche des Menschen ist allen Religionen gemeinsam
2.2. Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag:
(30:50) Sinn ist das, worin unser Herz Ruhe findet
2.3. Beten ‒ Mit dem Herzen horchen (1988)
Gesamter Vortrag:
(18:57) Unser Herz ‒ Organ für Sinn
3. Audios zu Gedichten:
«Wer seines Lebens viele Widersinne» (R. M. Rilke, Das Stunden‒Buch), in:
Fragen, die uns bewegen (2005):
(28:44) Vortrag
Mit dem Herzen horchen (1988):
(06:26) Vortrag
«Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften …» (T.S. Eliot, Four Quartets: Little Gidding, V), in:
Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffnungsreferat, Vortrag:
(15:08) Hungern nach Weisheit und Sinn – Unruhig ist unser Herz (Augustinus) – Wir lassen niemals vom Entdecken / Und am Ende allen Entdeckens / Langen wir, wo wir losliefen, an / Und kennen den Ort zum ersten Mal. / Durchs unbekannte, erinnerte Tor (T.S. Eliot)
4. Weitere Texte:
4.1. RUHE, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 154:
«Ruhe wollen wir von Stille unterscheiden. Es gibt ja auch ruhelose Stille. Andererseits gibt es auch Ruhe die Stille nicht unbedingt voraussetzt. Diese innere Ruhe, auch inmitten eines bewegten und geräuschvollen Alltags beizubehalten, ist ein herausforderndes Ziel, das wir aber anstreben müssen. Ruhe in diesem Sinne ist nicht eine Art Grabesruhe, sondern ganz im Gegenteil Ausdruck höchst dynamischer Lebendigkeit. Sie entspringt dem Bewusstsein, jeden Augenblick dem Großen Geheimnis gegenüberzustehen, ja mehr: ihm mit jedem Atemzug zu begegnen.
Bernhard von Clairvaux (1090-1153), der das Große Geheimnis Gott nennt, sagt über diese Begegnung:
‹Der ruhige Gott beruhigt alles und wer sich in die Ruhe Gottes versenkt, ruht.›»
4.2. Vor 50 Jahren (1972) eröffnete Bruder David die Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:
«Im wahren Wort muss unser Herz zur Sprache kommen; das Herz als unser innerstes Zentrum, unser innerstes Schweigen, muss zu Wort kommen.
Das wahre Wort ist Ausdruck des Schweigens; es ist sozusagen schwanger mit Schweigen.
Das Wort muss ins Schweigen aufgenommen werden, so wie die Saat in die schweigende Erde fallen muss.
Das Wort muss von Herz zu Herz gehen, muss das Schweigen eines Herzens dem Schweigen eines anderen Herzens mitteilen mittels des Wortes.» (41)]
Auf dem Weg der Stille (2016), 24
«Der große Lehrmeister bezüglich des Herzens ist in der christlichen Tradition der heilige Augustinus. Dass er Afrikaner war, mag ein Grund dafür sein, dass er besonders achtsam mit Seele und Herz umging. Er lebte zur Zeit des Zusammenbruchs des Römerreichs an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert ‒ was den Zusammenbruch der damals bekannten Welt bedeutete ‒, wandte sich nach innen und entdeckte das Herz. In der christlichen Kunst wird er so dargestellt, dass er mit der Hand ein Herz hochhält.
Der heilige Augustinus schrieb: ‹In meinem innersten Herzen ist Gott mir näher als ich mir selbst nahe bin.›
Paradoxerweise schrieb er auch: ‹Ruhelos ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir, o Gott.›
Das erste dieser beiden Zitate bringt unsere tiefste Sehnsucht zum Ausdruck, das zweite unsere rastlose Sehnsucht nach endgültigem Sinn.
Am Ende unserer Suche entdecken wir den Sinn unseres Dazugehörens.
Und die Antriebskraft der spirituellen Suche ist unsere Sehnsucht nach dem Dazugehören.» [Auf dem Weg der Stille (2016), 24f.]
«We shall not cease from exploration
And the end of all our exploring
Will be to arrive where we started
And know the place for the first time.
Through the unknown, remembered gate
When the last of earth left to discover
Is that which was the beginning …»
«Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften
Und das Ende unseres Kundschaftens
Wird es sein, am Ausgangspunkt anzukommen
Und den Ort zum ersten Mal zu erkennen.
Durchs unbekannte, erinnerte Tor.
Wenn der letzte unentdeckte Flecken
Der ist, der am Anfang war …»
T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V, in: Stillehalten; [siehe auch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 114]
Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018) im Kp. «Herz und Sinn», 35-38 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 33-36]]
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[1] Auf dem Weg der Stille (2016), 24
[2] «Der große Lehrmeister bezüglich des Herzens ist in der christlichen Tradition der heilige Augustinus. Dass er Afrikaner war, mag ein Grund dafür sein, dass er besonders achtsam mit Seele und Herz umging. Er lebte zur Zeit des Zusammenbruchs des Römerreichs an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert ‒ was den Zusammenbruch der damals bekannten Welt bedeutete ‒, wandte sich nach innen und entdeckte das Herz. In der christlichen Kunst wird er so dargestellt, dass er mit der Hand ein Herz hochhält.
Der heilige Augustinus schrieb: ‹In meinem innersten Herzen ist Gott mir näher als ich mir selbst nahe bin.›
Paradoxerweise schrieb er auch: ‹Ruhelos ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir, o Gott.›
Das erste dieser beiden Zitate bringt unsere tiefste Sehnsucht zum Ausdruck, das zweite unsere rastlose Sehnsucht nach endgültigem Sinn.
Am Ende unserer Suche entdecken wir den Sinn unseres Dazugehörens.
Und die Antriebskraft der spirituellen Suche ist unsere Sehnsucht nach dem Dazugehören.» [Auf dem Weg der Stille (2016), 24f.]
[3] «We shall not cease from exploration
And the end of all our exploring
Will be to arrive where we started
And know the place for the first time.
Through the unknown, remembered gate
When the last of earth left to discover
Is that which was the beginning …»
«Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften
Und das Ende unseres Kundschaftens
Wird es sein, am Ausgangspunkt anzukommen
Und den Ort zum ersten Mal zu erkennen.
Durchs unbekannte, erinnerte Tor.
Wenn der letzte unentdeckte Flecken
Der ist, der am Anfang war …»
T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V, in: Stillehalten; [siehe auch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 114]
[4] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018) im Kp. «Herz und Sinn», 35-38 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 33-36]