Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

stille titelCopyright © - Klaudia Menzi-Steinberger

DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Ich möchte hellhörig werden für das ganz Leise in der Welt ‒ das Leise zwischen Katzenpfoten und Fußboden, die Stille im Schwertlilieninneren, das Schweigen ferner Berge, mein eigenes ruhiges Atmen beim Einschlafen.

Besonders bei Begegnungen mit Menschen möchte ich wach sein, wach für die leiseste Andeutung, dass sich vielleicht ein eisiges Schweigen danach sehnt, aufzutauen.

Zur Vorbereitung will ich heute immer wieder kurz innehalten und still werden.

In dir, DU großes Geheimnis, ist Ruhe.

Ich will alles Laute verklingen lassen und aus Deiner Tiefe Ruhe schöpfen. Amen.

[aus: «DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen» (2019), 39]

Stille schafft eine Atmosphäre, die Losgelöstheit begünstigt.

Wie der Lärm das Leben außerhalb des Klosters durchdringt, so ist das Leben des Mönches von Stille durchdrungen.

Stille schafft Raum um Dinge, Menschen und Ereignisse …

Stille hebt ihre Einzigartigkeit hervor und erlaubt uns, sie eins nach dem andern dankbar zu betrachten.

Unsere Übung, dafür Zeit zu finden, ist das Geheimnis der Muße.

Muße ist Ausdruck von Losgelöstheit im Hinblick auf die Zeit.

Die Muße der Mönche ist ja nicht das Privileg derer, die es sich leisten können, sich Zeit zu nehmen, sondern die Tugend derer, die allem, was sie tun, so viel Zeit widmen, wie ihm gebührt.

Für den Mönch drückt sich das Hinhorchen, das die Grundlage dieses Trainings bildet, darin aus, dass er sein Leben mit dem kosmischen Rhythmus der Jahres- und Tageszeiten in Einklang bringt; mit der «Zeit, die nicht unsere Zeit ist», wie T. S. Eliot es ausdrückt.[1]

In meinem eigenen Leben verlangt der Gehorsam oft Dienste außerhalb des klösterlichen Rhythmus. Dann kommt es ganz besonders darauf an, die lautlose Glocke der «Zeit, die nicht unsere Zeit ist» zu hören, wo immer es auch sei, und zu tun, was es zu tun gibt, wenn es dafür Zeit ist ‒ «jetzt und in der Stunde unseres Todes».

«Und die Todesstunde ist jeder Augenblick», in dem wir wirklich hinhorchen, ist «Augenblick in und außer der Zeit».[2]

Dankbares Hören beginnt damit, dass wir das Gehörte als Gabe erkennen.

Wenn Abendwind in den Linden rauscht, fällt uns das nicht schwer.

Oder wenn uns so etwas geschenkt wird wie das Erlebnis, das ich in Hongkong hatte. Da wohnte ich im Zentrum von Kowloon, einem Stadtteil von unvorstellbarer Bevölkerungsdichte. Zeitlich am ersten Morgen trat ich ans Fenster. Da umgab mich statt des erwarteten Straßenlärms der Jubel von zehntausend Singvögeln. Ganze Familien mögen in einem winzigen Raum der Wohnbauten zusammengedrängt hausen, irgendwo im zwanzigsten Stockwerk, doch vor dem Fenster hängen die Käfige der geliebten kleinen Sänger.

Was aber, wenn der Großstadtlärm uns wirklich umtost? Können wir das auch noch als Geschenk erleben?

Mir persönlich hilft es, wenn ich unangenehmen Geräuschen so lange wie möglich keinen Namen gebe.

Solange ich nur einfach hinhorche, ohne das Gehörte etwa Bremsenkreischen oder Sirenengeheul zu nennen, habe ich es nur mit einem reinen Sinneseindruck zu tun, der, ohne Interpretation, ganz für sich allein genommen, immerhin ‒ ich will nicht sagen angenehm, aber ‒ bemerkenswert ist. Das heißt, er ist meiner Aufmerksamkeit wert. Darin liegt aber schon eine Wertschätzung. Und diese lässt sich unbegrenzt weiterentwickeln.

Manchmal lässt sich ein unliebsames Geräusch sogar uminterpretieren.

In einem Kloster, das ich besuchte, trieb das Kreischen der Kreissäge beim Nachbarn eine der Schwestern buchstäblich die Wände hoch.

«Wie kann denn so ein Geräusch Gabe Gottes sein?»

Mein Vorschlag war: nur hinhorchen; nicht benennen.

Und in diesem Fall wirkte es.

«Ich hab's versucht», berichtete die Schwester nach ein paar Tagen, «und was ich da hörte, klang wie die Stimme eines Erzengels!»

Zwar verstehe ich mich nicht auf die Unterscheidung von Engelstimmen, aber ich glaube, mir würde schon die Stimme eines ganz gewöhnlichen Engels genügen.

Und, wenn wir's bedenken, ist nicht alles, was wir hören, Stimme des einen oder anderen Engels?

Alles, was wir hören, ist ja letztlich göttliche Botschaft.

Und Engel sind Boten Gottes.

Für arglose Ohren ist jeder Laut Geschenk.

Und für Herzen, die hören können, ist jedes Geschenk Botschaft.

Vom Prasseln des Feuers im offenen Kamin, vom Sommerregen vor der offenen Türe, vom Wind in den Laubkronen sagen wir «das spricht mich an». Recht verstanden, spricht aber jedes Geräusch zu uns, wenn wir uns nur ansprechen lassen.

Jeder Laut ist Botschaft von Unaussprechlichem.

Weil er Botschaft ist, sollen wir hinhorchen lernen.

Weil hier aber Unaussprechliches laut wird, sollen wir uns nicht mühen, die Botschaft in Worte zu übersetzen.

Was uns letztlich anspricht, ist das Wort jenseits aller Worte, das Wort, das so unerschöpflich ist, dass es immer neuen Ausdruck finden will ‒ wie die Liebe.

Die Botschaft in jedem uns geschenkten Laut ist Liebesbotschaft; einmalig, unübersetzbar, ganz persönlich.

Aber auch Stille bringt uns Botschaft.

Hat uns nicht schon oft Stille angesprochen?

Manchmal kommt es mir vor, dass der Augenblick der Stille nach dem Verstummen der Orgel alle Musik noch überträfe; jenes unvergleichliche Einatmen, nachdem das allerletzte Nachhallen im Domgewölbe ausgeatmet hat.

Und diese Stille spricht uns nicht nur an, diese Stille horcht.

Auf dem Höhepunkt, wenn wir ganz Ohr sind, horcht plötzlich Stille auf unsere Stille.

Nur einen Augenblick lang können wir dieser Begegnung standhalten.

Dann beginnt das Scharren von Schuhen in den Kirchenbänken.

Wo Menschen noch hellhörig sind für die Botschaft der Laute, da sind sie auch hellhörig für Stille.

Tief im Inneren Australiens lernte ich die Schwestern von St. Joseph kennen, die selber horchende Herzen haben und so zu Hütern dieser Hellhörigkeit unter einem Rest von Ureinwohnern wurden.

Der Stamm lebte noch ohne feste Behausungen im Umkreis von fünf großen Feuern, an denen die nackten Schläfer nachts Schutz vor der Wüstenkälte fanden. Nahe an diesen Lagerplatz hatte die Regierung ein Schulhaus hingestellt, in dem die Kinder hier aus den gleichen Lesebüchern lernen sollten, wie die Stadtkinder in Sydney oder Perth. Da übernahmen es diese verständigen Frauen, den Kulturschock abzufangen. Sie unterrichteten nicht im Schulhaus, sondern im Schatten einer Laube; und eigentlich nicht die Kinder, sondern die Mütter, die mit zur Schule kamen und das Gelernte dort gleich an ihre Kinder weitergaben. Wie still das alles vor sich ging; oft nur durch Bilder, durch Anschauen, durch Zeichnen. Und doch war diesen armen Menschen dabei immer noch zu viel Gerede. In der Pause, wenn Stadtkinder schreiend ins Freie stürmen, gingen diese Kinder schweigend hinaus. Ich kann sie noch vor mir sehen mit ihren großen braunen Augen, von langen Wimpern noch tiefer verdunkelt, wie sie aufatmeten in Stille nach so vielen Worten.

Sei es Wort oder Schweigen, worauf es ankommt, ist, dass wir uns ansprechen lassen von dem, was immer der Augenblick bringt.

Und oft bringt er Unerwartetes.

Nahe bei der Universitätsbibliothek in Berkeley ist ein Kanalgitter, unter dem es Tag und Nacht geheimnisvoll braust.

Wie viele der Studenten da stehenbleiben und ehrfürchtig lauschen, weiß ich nicht. Für mich aber ist das, sooft ich vorbeigehe, ein geradezu heiliger Ort.

Die ganze Musik der Welt ist in diesem Brausen. Wie es in einem altindischen Text heißt:

«Die Urmusik ist das Rauschen von Wasser.»

Ja, jeder gegenwärtige Augenblick ist Botschaft.

Allzuleicht können wir diese Botschaft versäumen, wenn wir nicht aufpassen.

Wenn wir uns nur freimachen vom Zwang, alles selbst leiten und unter Kontrolle halten zu müssen, wenn wir uns endlich wieder, wie Kinder, überraschen lassen, dann ist unser Überraschtsein schon der Anfang der Dankbarkeit.

Unserem dankbaren Hinhorchen öffnet sich dann in der Tiefe jeden Lautes abgründige Stille und im Herzen der Stille die Botschaft der Liebe.

In seinem Kommentar zum Hohenlied sagt es der Heilige Bernhard etwa so:

«Der ruhige Gott beruhigt alles. Und wer sich in Gottes Ruhe hinablässt, ruht.»

Wir haben das, glaube ich, alle erlebt, in Augenblicken, in denen wir einfach am Ende sind und wir einfach nicht mehr weiter können.

Dann tritt so etwas wie eine ganz große Stille ein, und wenn wir uns der hingeben, wenn wir uns nicht ängstlich zurückziehen, dann wendet sich unsere Angst in Vertrauen:

Nicht, als ob wir jetzt plötzlich festen Boden unter den Füßen hätten, aber es ist ein Vertrauen, dass wir auch weitergehen können, ohne festen Boden unter den Füßen zu haben. Dass es einfach weitergeht. Wir können uns diesem Fluss hingeben, und es führt uns weiter.

Es gibt diese Situationen, dass wir uns plötzlich berührt, angerührt und angesprochen fühlen:

wenn wir eine schwere Nacht überstehen oder am Krankenbett.

Das kann man so verstehen, dass Gott, dieses geheimnisvolle DU, uns anspricht.

Aber es ist nicht ein Ansprechen mit Worten.

Man könnte paradox sagen, es ist eine unendliche Stille, eine geheimnisvolle Stille, die zu uns spricht.

Nicht in Worten, aber verständlich.

Wir können verstehen.

Und dieses Verstehen äußert sich in einer Antwort, die wir geben, nicht in Worten, sondern in der Tat.

Beim Gebet gehören diese Bereiche zusammen: unendliche Stille, die uns anspricht, wie ein Wort. Und die Antwort, die wir selber geben, in der Tat.

Unsere lateinische Tradition definiert Frieden als «tranquillitas ordinis», die Stille der Ordnung.

Ordnung ist untrennbar von Stille, aber diese Stille ist dynamisch. Die Ruhe der Ordnung ist eine dynamische Ruhe, es ist die Stille einer unbewegt brennenden Flamme, eines Rades, das sich so schnell dreht, dass es still zu stehen scheint.

Stille in diesem Sinn ist nicht nur eine Eigenschaft der Umwelt, sondern vor allem eine innere Haltung, die Haltung des Hinhorchens.[3]

Jeder von uns ist eingeladen, dieses Geschenk der Stille allen anderen weiterzuschenken.

Wir wollen einander Stille schenken.

Lasst uns hier und jetzt damit beginnen.

Lasst uns einander das Geschenk der Stille geben, so dass wir gemeinsam horchen und einander zuhorchen können.

Nur in dieser Stille wird es uns möglich sein, den sanften Atem des Friedens zu hören, die Musik der Sphären, die allumfassende Harmonie, in der zu tanzen wir hoffen.

[AH 1-2) 18f., 61-65, 31; 3-5) 18f., 60-64, 30f. und ergänzt mit dem Film Wort & Schweigen ‒ Über den Sinn des Gebets (1992), transkribiert von Werner Binder †. Die Transkription erschien im Buch Staunen und Dankbarkeit (1996), 138-147 unter dem Titel: «Teilnahme am göttlichen Leben»]

[Ergänzend:

1. Weihnachtsbrief (2020); gelesen von Bettina Buchholz auch als Video-Film
«Wenn die Stille dieses Jahres weltweiten Leides uns bereit gemacht hat, tief hinzuhorchen, dann wird jedes unsrer Worte, das aus dem Schweigen kommt, ein ‹Ja› sein zu gegenseitiger Zugehörigkeit. Es wird, wie die Antiphon singt, ein «allmächtiges Wort» werden, denn Liebe vermag alles.»

2. Audio Wie wir sinnvoll leben können in der Advents- und Weihnachtszeit (2011)
Bruder David im Gespräch mit Pater Johannes Pausch:
(13:52) Wie wir Stille finden können, wenn Lärm und Geräusche uns stören / (17:47) Die Tiefe des menschlichen Herzens, diese Tiefe liegt hinter allem: diese sehr tiefe Traurigkeit, die gehört dazu, und das Heimweh der Menschen liegt am Grund von allem Lärm

3. Credo - ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der Evangelischen Ludwigskirche Freiburg (DE):
(08:24) Empfangen – weiterschenken – die Stille / (09:13) ‹Wenn es nur einmal so ganz stille wäre› (Rilke)

4. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
3. Mit dem Herzen horchen — Die Themen des Gesprächs:
Die Stille nicht brechen: Musik und Alltag aus der Kraft der Stille (Paul an der Panflöte)]

______________________

[1] «And under the oppression oft he silent fog
The tolling bell
Measures time not our time, rung by the unhurried
Ground swell, a time
Older than the time of chronometers, older
Than time counted by anxious worried women
Lying awake, calculating the future …»

«Und unter dem Druck des schweigenden Nebels
Läutet die Glocke
Mißt Zeit, nicht die unsrige, von der nicht eiligen
Dünung geläutet, Zeit
Älter als die Zeit der Chronometer, älter
Als die Zeit, bang gezählt von besorgten Frauen
Die wachliegen und die Zukunft berechnen …»

T. S. Eliot: «Four Quartets»: «The Dry Salvages», I, in der Übertragung von Norbert Hummelt [Suhrkamp Verlag 2015, 46f.]

«Die Salvages sind eine Felsengruppe vor Cape Ann (Massachusetts), die nur bei Ebbe zu sehen ist und in deren Nähe Eliot in seiner Jugend ‹riskante Segeltörns› unternahm. Die Erfahrung der rauen See, der Urgewalt des Meeres, ein im Zusammenhang mit Eliots Dichtung treffendes Vokabular, schlägt sich in The Dry Salvages entsprechend nieder. Da wird die auf dem Wasser schaukelnde Boje zur Schicksalsglocke, eine sorgenvolle akustische Begleitung für die implizite Frage: Kehren die Seeleute wieder nach Hause zurück?» [Mario Osterland zu T. S. Eliot]

[2] «Pastimes and drugs, and features oft he press:
And always will be, some oft hem especially
When there is distress of nations and perplexity
Whether on the shores of Asia, or in the Edgware Road.
Men’s curiosity searches past and future
And clings to that dimension. But to apprehend
The point of intersection of the timeless
With time, is an occupation for the saint ‒
No occupation either, but something given
And taken, in a lifetime’s death in love,
Ardour and selflessness and self-surrender.
For most of us, there ist only the unattended
Moment, the moment in  and out of time,
The distraction fit, lost in a shaft of
                                            sunlight,
The wild thyme unseen, or the winter lightning
Or the waterfall, or music heard so deeply
That it is not heard at all, but your are the music
While the music lasts.»

«Zeitvertreib, Drogen, Zeitungsthemen:
Und werden es bleiben, und zwar ganz besonders
Wenn die Nationen in Not sind und Wirren
Gleich ob an Asiens Küsten oder der Edgware Road.
Die Neugier des Menschen sucht vorwärts und rückwärts
Und hält sich an diese Kategorien. Aber die Stelle
Zu erkennen, wo die Zeit das Zeitlose
Kreuzt, ist ein Beruf für Heilige ‒
Auch kein Beruf, sondern etwas, das gegeben wird
Und genommen, im Liebestod eines ganzen Lebens,
Inbrunst, Hingabe, Aufopferung.
Für die meisten von uns gibt es bloß den unbeachteten
Augenblick, in der Zeit und außerhalb der Zeit,
Einen Anfall von Zerstreuung, verirrt in einem Schacht aus
                                               Sonnenlicht,
Den wilden Thymian ungesehen, das Wintergewitter
Oder den Wasserfall, oder Musik, so tief gehört
Daß sie unhörbar wird, und Sie selbst die Musik sind
Solange sie währt.»

T. S. Eliot: «Four Quartets»: «The Dry Salvages», V, in der Übertragung von Norbert Hummelt [Suhrkamp Verlag 2015, 60f.]

[3] «Unsere Welt [ist] immer noch mittendurch gespalten ... Worte, die nicht aus der Stille kommen, können uns nur noch weiter trennen. Es wird viel Stille brauchen, bis wir auf einander horchen lernen, und noch länger, bis wir Worte finden, die uns zusammenführen können.» [Interview-Ankündigung zum Film Vom Ich zum Wir ‒ Wege aus einer gespaltenen Gesellschaft (2021)]

 

Quellenangaben

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