Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

liebe titelCopyright © - Barbara Krähmer

Soweit wir es zurückverfolgen können, haben Menschen, wenn sie über Spirituelles sprachen, einen Ausdruck verwendet, der einfach «Lebensatem» bedeutet. Im Lateinischen wie im Griechischen und Hebräischen bedeutet Geist Atem. Geist ist die echte Lebendigkeit des Lebens wie wir wissen. Aber was bedeutet dies? Wir wissen, dass diese Lebendigkeit mehr ist als nur körperliche und geistige Fähigkeiten.

Denkt an die Bemerkung, welche wir oft über die Vitalität von jemandem hören: «Er/sie scheint so lebendig zu sein!» Hier ist mehr im Spiel als nur ein etwas gleichmäßigerer Puls oder ein höherer IQ.

In den großen spirituellen Traditionen ist «Lebendigkeit» oft mit «Achtsamkeit» (mindfulness) austauschbar. Der englische Begriff (mindfulness) betont nicht so sehr den Verstand (mind) als vielmehr die Fülle (fulness). Lebendigkeit ist nicht nur eine Fülle des Verstandes, sondern auch des Leibes und des Geistes.

Diese Vorstellung unterscheidet sich völlig von der verbreiteten Auslegung von Achtsamkeit, welche häufig einen Bruch macht – oder aufrechterhaltet – zwischen Leib und Geist. Echte Spiritualität, echte Lebendigkeit ist im Gegenteil tief in unserem Leib verwurzelt, wird von den Religionen oft außer Acht gelassen oder ganz verneint, ist aber in tief spirituellen Menschen leicht zu erkennen. Denkt an den Dalai Lama, seine Gesten und sein dröhnendes Lachen.

Die Bezeichnung Achtsamkeit scheint zu beschränkt, um ihn zu beschreiben, aber welches Wort sollten wir gebrauchen?

Wenn in einer Sprache ein Wort fehlt, fehlt oft eine Einsicht, in diesem Fall die Einsicht, dass die volle Lebendigkeit aus Achtsamkeit und Leibhaftigkeit besteht und, dass diese volle Lebendigkeit das Herzstück unserer Spiritualität ist.

Die Poesie liefert uns Beispiele von dieser außergewöhnlichen Lebendigkeit, die wir in einen Zusammenhang mit unserem Alltag bringen können. Ein Gedicht von William Butler Yeats preist einen solchen Augenblick. Es bringt eine im Wesentlichen religiöse Erfahrung in einen Zusammenhang, wo wir ihn nicht erwarten würden.

Oft sind wir in Kirchen, Moscheen und Tempel enttäuscht, weil wir denken, dass wir hier eine solche Erfahrung «haben sollten».

Aber Augenblicke der Lebendigkeit kommen nicht auf Bestellung.

Wenn sie kommen, sind wir, wie C.S. Lewis es beschreibt, «überrascht von Freude».

So auch Yeats in seinem Gedicht «Vacillation, IV».

Es beginnt in einem für große Lebendigkeit ungewöhnlichen Alter – «Mein fünfzigstes Jahr, gekommen und gegangen war’s» – und in einer nicht sehr vielversprechenden Umgebung. Yeats sagt:

«Mein fünfzigstes Jahr, gekommen und gegangen war’s,
ich saß, ein Einzelgänger,
in einem überfüllten Londoner Geschäft,
ein offenes Buch und eine leere Tasse
auf der marmornen Tischplatte.»

Wir alle kennen dieses Gefühl des Alleinseins inmitten einer Menschenmenge, gerade ihretwegen umso einsamer. Das Buch liegt offen da. Er scheint in der Hälfte das Interesse daran verloren zu haben. Die Tasse ist leer und so anscheinend auch seine Gedanken. Die Oberfläche des Tisches aus kaltem Stein drückt perfekt seinen Mangel an jeglichen Gefühlen in diesem Augenblick aus. Dieser Mann sieht nicht, was um ihn herum vorgeht. Er starrt geistesabwesend vor sich hin.

Aber unerwartet geschieht etwas und bemächtigt sich seiner, ein wundersamer Kontrast zur Leere, mit der das Gedicht begonnen hat:

«Während ich Geschäft und Straße anstarrte,
mein Leib plötzlich erstrahlte…»

Bemerkt, dass Yeats sagt, er erfahre dieses plötzliche Erwachen, seine Lebendigkeit, in seinem Leib. Er sagt nichts über seinen Verstand oder seine Gedanken. In diesem Augenblick denkt er nicht. Dieses Bewusstsein, das den Leib mit Lebendigkeit erstrahlen lässt, übersteigt das Denken weit.

«…Und für zwanzig Minuten, mehr oder weniger,
schien meine Glückseligkeit so herrlich,
dass ich gesegnet war und segnen konnte.»

Diese «mehr oder weniger» zwanzig Minuten weisen darauf hin, dass dies ein zeitloser Augenblick war. Aber eine augenzwinkernd gemeinte Eigenschaft zu diesem «mehr oder weniger» dringt ebenfalls durch. Die Erfahrung ist zu überwältigend; der Dichter muss sich mit diesem umgangssprachlichen Ausdruck selbst distanzieren. Während er lediglich von seiner «Glückseligkeit» spricht, bricht die religiöse Wirklichkeit mit dem Wort «gesegnet» durch.

Wie in echten spirituellen Erfahrungen liegt der Beweis in der Tatsache, dass er seine gesegnete Lebendigkeit anderen weitergeben kann.

Das ist es, was Religion (lateinisch re-ligio) ist: wörtlich «wieder binden» von Bändern, die zerrissen worden waren, Bande, die uns mit allen anderen Geschöpfen verbinden, mit unserem wahren Selbst und mit dem Göttlichen. Wir sind nicht länger allein und einsam: wir gehören zusammen.

Echte Lebendigkeit ist der Ausdruck einer tiefen Zugehörigkeit. Unser Leib «erstrahlt» vielleicht nicht, aber in gewissen glückseligen Augenblicken wissen wir, mindestens für den Bruchteil einer Sekunde, dass wir zusammengehören.

Wir wissen es «bis in unsere Knochen».

Es ist die höchste Art von Wissen, das nicht auf Gedanken beschränkt ist, noch auf Gefühle, noch auf irgendeine andere Art von Wissen. Dies ist nicht das Wissen, auf das wir uns in alltäglichen Gesprächen beziehen. [Spiritualität und gesunder Menschenverstand (2012), 1f.]

[Ergänzend:

1. Auf dem Weg der Stille (2016), 69-71:

«Je voller unsere Achtsamkeit wird und je stärker wir lebendig werden, desto deutlicher geht uns auf, wie unzureichend die Sprache ist. Aber wenn wir darüber sprechen wollen, müssen wir etwas tun, das die Sprache erweitert, ja erhöht. Wie sieht diese erweiterte Sprache aus? Die erweiterte Möglichkeit der Sprache ist die Poesie, und so möchte ich Ihnen ein Gedicht von William Butler Yeats vorstellen, das auf einen dieser Augenblicke hinweist. Es versetzt die religiöse Erfahrung in einen Kontext, in dem Sie diese kaum erwarten würden.

Die meisten von uns machen religiöse Erfahrungen, wann und wo wir sie am wenigsten erwarten würden; und in Umgebungen, worin wir sie erwarten, werden wir gewöhnlich diesbezüglich enttäuscht. Hier folgt ein autobiografisches Gedicht ‹Vacillation, IV› über ein Erlebnis, das Yeats in einem Londoner Kaffeehaus widerfuhr. Er beschreibt es folgendermaßen:

‹Mein fünfzigstes Jahr war gekommen und gegangen.
Ich saß als einsamer Mensch
in einem überfüllten Londoner Kaffeehaus,
vor mir auf der marmornen Tischplatte
ein offenes Buch und eine leere Tasse.
Ich saß da und starrte auf die Straße hinaus,
als plötzlich mein ganzer Körper zu glühen begann,
und zwanzig Minuten lang oder auch mehr
erfüllte mich ein derartiges Glück,
dass ich Segen verspürte und zu segnen vermochte.›[1]

Was passierte da also? Er sagt überhaupt nichts über sein Verstehen oder seine Gedanken; vermutlich dachte er in diesem Augenblick überhaupt nichts. Aber sein Körper glühte mit dieser bebenden Lebendigkeit der Achtsamkeit, die so weit über alles Denken hinausgeht. Sein Körper glühte! Das haben auch wir schon alle erfahren, oder jedenfalls etwas Ähnliches. Er sagt: Es ‹erfüllte mich ein derartiges Glück, dass ich Segen verspürte und zu segnen vermochte›; dass er also etwas empfing, das er als ‹Segen› bezeichnet ‒ was ja bezeichnenderweise ein religiöser Begriff ist ‒ und das er weitergibt. So fließt also etwas durch ihn hindurch, und das ist dieser Geist, der durch ihn hindurchfließt.»

2. Wie uns «dankbar leben» heil und gesund macht (2011) und Transkription (S. 1-3) des Vortrags:

(00:00) Freudig lebendig, gesund und heil in Beziehungen]

 
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[1] «My fiftieth year had come and gone,
I sat, a solitary man,
In a crowded London shop,
An open book and empty cup
On the marble table-top.
While on the shop and street I gazed
My body of a sudden blazed;
And twenty minutes more or less
It seemed, so great my happiness,
That I was blessed and could bless.»

 


Quellenangaben

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