Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

hausverstand titelCopyright © - Georg Stahl

Hausverstand ist im süddeutschen Sprachraum ein treffendes Wort für gesunden Menschenverstand. Spirituell gesunde Menschen verstehen den geheimnisvollen Kosmos, in dem wir leben, als ihr Zuhause, ihr Daheim. Und dieses Verständnis bestimmt, wie sie leben:

Menschen mit Hausverstand verstehen es, sich an ihrer Zugehörigkeit zum Erdhaushalt zu orientieren und fühlen sich darin zuhause. Darum sind sie auch furchtlos und vertrauensvoll. «Nichts ist, was dich schrecken darf, und du bist daheim», wie der Dichter Werner Bergengruen (1892-1964) sein Vertrauen ausdrückt[1], dass wir im unergründlichen Geheimnis ein Heimatrecht haben.
[Orientierung finden (2021): Das ABC der Schlüsselworte, 141f.]

Hatte Chesterton Unrecht, als er darauf hinwies, dass gesunder Menschenverstand von nicht allzu vielen Menschen verstanden werde?

Hausverstand, der uns Beziehungen wie die zwischen hoch, tief und niedrig verstehen lässt, muss älter sein als Sprache. Wir haben Hausverstand von Haus aus. Und das Haus, in dem wir letztlich alle gemeinsam zuhause sind, ist das menschliche Herz. Das Herz ist unser verlässlichster Ausgangspunkt. In der Art und Weise, in der unser Herz hoch und niedrig unterscheidet, ist die allgemein anerkannte Ordnung des menschlichen Weltbildes verankert. [FN 1) 59f.; 2) 59f.; 61]

Wenn wir gesunden Menschenverstand einüben, wird er zu einer Grundlage für unser Wissen, einer Grundlage für unser Tun.[2]

Im gesunden Menschenverstand sind Tun und Denken eng verbunden.

So ist gesunder Menschenverstand mehr als Denken.

Er ist eine vibrierende Lebendigkeit  zur Welt, in der Welt und für die Welt. Er ist ein Wissen durch Zugehörigkeit. Und er wird zu einer Grundlage für unser Tun und Handeln.

Im Geist zu handeln, heißt so zu handeln wie Menschen, die zusammengehören. Wir gehören alle zusammen in diesem «Erd-Haushalt» wie Gary Snyder es so schön nennt, und ein spirituelles Leben zu leben, bedeutet so zu handeln wie bei sich zuhause, wo man zusammengehört. Das und nur das ist moralisches Tun.

Alle Moral, welche je in irgendeiner Tradition in der Welt entstand, kann auf das Prinzip reduziert werden, so zu handeln wie man denen gegenüber handelt, zu denen man gehört.

Oft wird gesagt, dass sich die Vorstellungen, was Moral ist oder nicht, von Gesellschaft zu Gesellschaft total unterscheiden. Was in einer als moralisch angesehen wird, sogar als tugendhaft, wird in einer anderen als unmoralisch gebrandmarkt. Aber dies sind nur oberflächliche Widersprüche.

Im Grunde sagt jedes moralische Gesetz, das je geäußert wurde, in seiner Tiefe:

«So handelt man denen gegenüber, zu denen man gehört.»

Die Unterschiede werden durch die Grenze bestimmt, die wir ziehen zwischen denen, die zusammengehören und denen, die wir als Außenseiter betrachten.

Gesunder Menschenverstand – gerade weil er aus der Erkenntnis entsteht, dass wir unsere tiefste Identität gemeinsam haben – zieht keine Grenzen.

Wenn wir uns in gesundem Menschenverstand üben, üben wir eine Moral, die jeden einschließt. Wir benehmen uns gegenüber allen so wie man sich benimmt, wenn man zusammengehört.

Als ich jung war, gab es in unserer Welt noch Raum für verschiedene Anschauungen von Moral. Innerhalb meiner Lebensspanne haben wir eine Schwelle überschritten: Von jetzt an ist es einfach unmoralisch, eine Grenze zu ziehen und jemanden auszuschließen. Selbst Pflanzen und Tiere müssen einbezogen sein.

Zu diesem Bewusstsein, das dem gesunden Menschenverstand entspringt, wurden wir aufgeweckt durch die Leiden zweier Weltkriege und deren Folgekriege, ebenso wie durch den Verlust von ganzen Pflanzen- und Tierarten, die wesentliche Teile der voneinander abhängigen Ökologie unserer Erde bilden. Wir haben unsere Erde aus dem Weltall betrachtet, und diese Vision von unserer Erde als ein ungeteiltes blaues und grünes Ganzes erinnert uns daran, dass wir eine einzige Erden Familie sind.

Diese globale, alles einschließende Gemeinschaft ist das, was Jesus mit dem «Reich Gottes» meinte. Indem er Gemeinschaft allumfassend machte, löste er ein Erdbeben aus, das in unserer Welt immer noch nachhallt. Das Epizentrum dieses Erdbebens ist der Begriff Autorität.[3] [Spiritualität und gesunder Menschenverstand (2012), 1-4]

Hier, in meinem Herzen, kann ich:

Angst in mutiges Vertrauen umwandeln,
Aufhetzung in Stille, Verwirrung in Klarheit,
Isolation in ein Bewusstsein von Zugehörigkeit,
Abneigung in Liebe und
irrationales Verhalten in gesunden Menschenverstand.

Was deine Dankbarkeit für dich selbst bewirkt, ist ebenso wichtig wie, was sie für die anderen bewirkt.

Dankbarkeit verstärkt dein Zugehörigkeitsbewusstsein. Dieses Zugehörigkeitsbewusstsein wiederum verstärkt deinen gesunden Menschenverstand ‒ welcher jedoch zu oft verwechselt wird mit einer durch sture Gewohnheit festgelegten Denkweise.

Wahrhaft gesunder Menschenverstand und Dankbarkeit sind in ihrer Aufgeschlossenheit alles andere als festgelegt.

Gesunder Menschenverstand ist bloß ein anderer Name für das mit der kosmischen Intelligenz vermählte Denken.

Dein Ja zur Zugehörigkeit bringt dich in Einklang mit den gemeinsamen Anliegen, die von allen Menschen, allen Wesen für diese Sache geteilt werden.

In einer Welt, die wir gemeinsam tragen, macht nichts Sinn, außer der gesunde Menschenverstand.

Wir haben nur einen Feind: Unser gemeinsamer Feind ist die Gewalt. Der gesunde Menschenverstand sagt uns: Gewalt können wir nur beenden, wenn wir aufhören gewaltsam zu handeln; Krieg ist kein Weg zum Frieden. Höre die Nachrichten von heute und überprüfe wenigstens eine Sache mit deinem gesunden Menschenverstand. [Eine Vision für die Welt (2006)]

[Ergänzend:

1.1. Ein neuer Grund für Dankbarkeit (2002) ‒ der Beitrag von Bruder David im Buch: Der Tag an dem die Türme fielen: Symbolik und Bedeutung des Anschlags (2002):

«Die Gewalt hat ihre Wurzeln in jedem Herzen. Es ist mein eigenes Herz, in dem ich Angst, Unruhe, Kälte, Abneigung und Regungen von blinder Wut zu erkennen habe. Hier in meinem Herzen kann ich
Furcht in mutiges Vertrauen,
Unruhe und Verwirrung in Stille,
Abgetrenntheit in ein Gefühl der Zugehörigkeit,
Abneigung in Liebe verwandeln
und von irrationalem Verhalten zum Common Sense zurückkehren.»

1.2. Siehe auch: Fünf Schritte, um Dankbarkeit zu leben (2002):

2. Auf dem Weg der Stille (2016), 72-74:

«Der Begriff ‹spirit› (‹Geist›) ist schon derart missbraucht worden, dass ich überglücklich wäre, wenn man ihn vollständig fallen lassen und stattdessen immer von ‹common sense› sprechen würde. In unserer heutigen Umgangssprache bezeichnet dieser Ausdruck das Gemeinte viel besser. Er ergibt Sinn; er ist über die Sinne mit dem Körper verbunden; er ist gemeinschaftlich (common), grenzenlos gemeinschaftlich.

Zudem ist ‹common sense›, ‹Gemeinsam-Sinn› eine Grundlage für das Handeln, fürs Aktivwerden.

Im ‹common sense› sind Handeln und Denken eng miteinander verknüpft. Von daher ist ‹common sense› mehr als Denken. Er ist die vibrierende Lebendigkeit der Welt, in der Welt, die Lebendigkeit für die Welt, für unsere Umwelt. Und er ist ein Wissen dank des Umstands, dass man dazugehört, und damit eine Grundlage für das Tun, denn im Geist zu handeln heißt, so zu handeln, wie Menschen handeln, wenn sie zusammengehören.

Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Moralsystemen sind lediglich die Grenzen, die wir für das Dazugehören ziehen: ‹Das sind diejenigen, gegenüber denen du moralisch handeln musst, und die anderen sind die anderen da draußen.›

Wenn du aber wirklich mit ‹common sense›, also allumfassendem Gemein-Sinn lebst, hat das keine Grenzen. Du lebst dann mit einer Moral, die ausnahmslos alle einschließt, und deshalb verhältst du dich gegen jedermann so, wie du dich gegenüber denen verhältst, zu denen du gehörst.

Das meinte Jesus, als er vom ‹Reich Gottes› sprach ‒ und jeder andere Begriff dieser Art aus jeglicher anderer religiöser Tradition passt darauf.

Richtig verstandener ‹common sense› ist autoritativ. In diesem Kontext von Religion und Spiritualität ist die Frage der Autorität äußerst wichtig.»

3. Wie das Göttliche in uns wächst (2005):
Audio und Mitschrift: Peak Experience, mystische Erfahrung, vier Kennzeichen
Siehe auch die Mitschrift des Vortrags: Wie das Göttliche in uns wächst (2005), 04:

«Wenn man genau hinschaut, sagt jede Moral, ob sie jetzt ganz primitiv oder ganz verfeinert und ausgearbeitet ist, überall dasselbe.
Nämlich: So verhält man sich denen gegenüber, mit denen man zusammengehört.
Und da ist der Ursprung dieses Zusammengehörigkeitsgefühl
So verhält man sich!
Der Unterschied zwischen den Moralsystemen ist nur:
Wer dazugehört?»

4. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
(29. April 2011) Dem Welthaushalt freudig dienen:
(12:23) Nur mit existentiellem Mut, mit Vertrauen können wir uns dem Universum als Erdhaushalt zuwenden, in dem wir Ordnung und Zugehörigkeit finden und uns darin daheim fühlen]

_____________________

[1] Werner Bergengruen: «Die heile Welt: Gedichte», Zürich, Die Arche 1961: «Poeta Creator: ein Glückwunschgedicht», 158-162.

Bruder David in: Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 54-56:

«In einem seiner überschäumendsten Gedichte ‹Poeta Creator›, lässt Werner Bergengruen uns so recht die Schöpferfreude des göttlichen Dichters fühlen, der die ganze Welt als Liebesfest erfunden hat.»

Siehe auch Audio: Mit allen Sinnen leben (1993):
(45:17) Wo wir uns vor nichts fürchten müssen: Bruder David schließt mit den letzten Zeilen des Gedichts «Poeta Creator» von Werner Bergengruen

[2] Zugleich die ursprüngliche Bedeutung von Autorität.

[3] Siehe: Spiritualität und gesunder Menschenverstand (2018), 5.

Ergänzend aus FN 1) 163; 2-5) 167; 6) 166: Schlüsselbegriffe: «Autorität»:

«Was Autorität angeht, so scheint unsere Gesellschaft blind. Fraglos gehen wir davon aus, dass Menschen von Natur aus äußerer Autorität widerstreben. Das Gegenteil ist wahr. Der Durchschnittsmensch ist außerordentlich anfällig dafür, dem Druck äußerer Autorität nachzugeben, selbst dann, wenn sie im Widerspruch zur Autorität des eigenen Gewissens steht.

Wegen dieser menschlichen Schwäche besteht die Aufgabe äußerer Autorität nicht darin, sich selbst zu verfestigen und durchzusetzen, sondern vielmehr darin, die innere Autorität verlässlich aufbauen zu helfen, indem sie die Betreffenden ständig ermutigt, auf ihren eigenen zwei Beinen zu stehen.

Es ist eine Frage und eine Herausforderung.

Die Frage lautet: Klingt das wahr vor deiner eigenen Herzenserfahrung?

Die Herausforderung ist: Wach auf und erlaube deinem Herzen, die ganze Bandbreite von Wirklichkeit zu erfahren.»



Quellenangaben

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