Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
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Nur die ständige Erneuung einer religiösen Tradition aus ihrem mystischen Kern heraus kann die Religion in ihrem eigentlichen Sinn lebendig erhalten, nämlich als die «Erforschung Gottes» an der Grenze des menschlichen Bewusstseins.
Ein Bild, das ich manchmal verwendet habe, um die Beziehung zwischen der mystischen Erfahrung und der religiösen Tradition zu veranschaulichen, ist das eines Vulkanausbruchs.
Da ist das heiße Magma, das aus den Tiefen der Erde emporschießt und dann an den Seiten des Vulkans herabfließt. Je länger es fließt, desto mehr kühlt es sich ab, und je mehr es sich abkühlt, desto weniger erinnert es an den ursprünglichen feurigen Zustand. Am Fuße des Berges finden wir dann lediglich übereinandergelagerte Felsschichten. Niemand würde denken, dass diese einst weißglühend waren.
Da kommt nun aber der Mystiker. Er bohrt ein Loch durch die übereinandergelagerten Felsschichten, bis das Feuer, das ursprüngliche Feuer, wieder emporschießt.
Da jeder von uns ein Mystiker ist, besteht darin unsere Aufgabe.
Doch sobald wir zu dieser Verantwortung gereift sind, prallen wir unweigerlich mit der Institution zusammen.
Die Frage lautet:
«Besitzen wir die Gnade, die Stärke und den Mut, unsere prophetische Aufgabe auf uns zu nehmen?»
Sie sehen, der Mystiker ist auch ein Prophet, und die Stellung des Propheten wird durch zweierlei geprägt. Das Prophetentum erfordert doppelten Mut, nämlich den Mut, zu verkünden, und den Mut, zu bleiben.
Man braucht schon eine ganze Menge Mut, um etwas zu verkünden, nicht unbedingt mit Worten. Häufig ist ein stummer Zeuge ein viel besserer Zeuge.
Der Prophet verkündet mit Worten oder durch Schweigen.
Es ist schwierig genug, etwas zu verkünden und sich dann so schnell wie möglich davon zu machen, seine Sache zu sagen und wegzulaufen.
Doch die zweite Seite des Prophetentums besteht darin zu bleiben, in der Gemeinschaft zu bleiben, gegen die es seine Worte richten muss.
Es genügt aber nicht, zu bleiben und sich unauffällig zu verhalten, sich zu verstecken. Das ist nicht im Sinne des Prophetentums.
Von uns wird das Schwierigste verlangt: Zu bleiben und zu verkünden.
Es wäre ein Leichtes, zu bleiben, wenn wir verschwinden könnten.
Es wäre ein Leichtes zu verkünden, wenn wir weglaufen könnten.
Dann wären Sie aber kein Prophet mehr, sondern lediglich ein außenstehender Kritiker.
Dazu sind viele müde Propheten geworden. Solange sie Propheten innerhalb der Gemeinschaft waren, hatten sie Macht und Einfluss, sie waren in der Lage, Dinge zu ändern. Dann aber, außerhalb der Gemeinschaft, sagten sie zwar dieselben Dinge, aber es kümmerte sich überhaupt niemand mehr darum.
Zu bleiben und zu verkünden bedeutet gekreuzigt zu werden.
Das Bleiben wird durch das Kreuz symbolisiert, eben weil Sie bleiben, Sie können nicht woanders hingehen.
Das Kreuz ist in den Boden gerammt, und der Aspekt des Bleibens entspricht dem vertikalen Teil. Der horizontale Teil symbolisiert das Verkünden.
Zufällig passt das Kreuz sehr gut zur christlichen Tradition, doch das Kreuz des Propheten erscheint in jeder Tradition.
Und so haben Sie immer wieder die christusähnlichen Figuren in der Kirche, die in dieselben Schwierigkeiten geraten, die Jesus mit seinen religiösen Autoritäten bekam.
Und doch wird uns die «frohe Botschaft» durch die Kirche, in ihr und trotz ihr vermittelt. In der Kirche finden Sie alle die Heiligen, die durch die Jahrhunderte bis heute ein Christus ähnliches Leben geführt haben. In derselben Kirche finden Sie aber auch die Pharisäer, die Rechtsgelehrten und die Schriftgelehrten.
Als wir fragten: «Was soll jemand, der seinen mystischen Weg akzeptiert, mit der Religion anfangen?», lautete meine Antwort:
«Sie tragen die Verantwortung dafür, die Religion religiös zu machen, weil sie, sich selbst überlassen, zu etwas Irreligiösem verkommt.»
Nun fragen wir: «Was soll ein Christ tun, der die volle Bedeutung Christi erkennt?»
Die Antwort ist: «Nun, er soll den Rest seines Lebens damit verbringen, die Kirche christlich zu machen.»
Sie wird die Kirche der Heiligen und der Sünder genannt. Sie ist aber auch die Kirche der Mystiker und zugleich die Kirche, die es den Mystikern schwermacht. An diesem Punkt befinden wir uns jetzt, wenn wir realistisch sein wollen.
Doch im Herzen dieser Kirche ist das mystische Element, das sie am Leben hält, das Erbe Jesu.
Zu diesem mystischen Kern immer wieder vorzudringen ‒ das ist die letzte Grenzerfahrung der christlichen Mystik.
[Mystik als Grenze der Bewusstseinsevolution eine Betrachtung (1988), 181-183, 193f.]
[Ergänzend:
Audios
1. Fülle und Nichts (1996)
David Steindl-Rast hielt im Bildungshaus Batschuns einen Vortrag zu den Themen seiner beiden Bücher Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts: (2015)] und Die Achtsamkeit des Herzens (2021):
Vortrag in folgende Themen zusammengefasst:
(03:45) Der prophetische Gehorsam / (04:35) Die Krux des prophetischen Gehorsams: Sagen, was gesagt werden muss und dennoch in der Gemeinschaft bleiben / (05:33) Reden trotz inneren Widerständen, und so, dass es verstanden wird / (06:36) Résumé
2. Aufwachsen in Widersprüchen ‒ Salzburger intern. Pädagogische Werktagung 17. sowie 19. bis 20. Juli 1989
3. Vom Rhythmus des Lebens
Eröffnungsreferat und Dialog
Siehe auch die Transkription des Vortrags: Vom Rhythmus des Lebens im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 20f.:
«Der Gehorsam, von dem wir hier sprechen, dieses ‹Hinhorchen des Herzens›, seigert sich ja von Phase zu Phase durch Krise um Krise: Von einem fraglosen Gehorsam, den man noch kaum Gehorsam nennen kann, einen Willfährigsein, das nicht hinterfragt, zu einem ganz einfältigen Gehorsam (so tun wir es, so ist es immer schon getan worden), zu einem konventionell gemeinschaftsbezogenen Gehorsam (das tut man hier in dieser Gemeinschaft), zum mutig bekennenden Gehorsam, der aus dem Hinhorchen verantwortlich entscheidet, zu einem ganz persönlichen Gehorsam, in dem das Gewissen spricht, und schließlich zum prophetischen Gehorsam. Der prophetische Gehorsam ist uns vorgelebt worden von Jesus Christus.
‹Dieser Mann spricht mit Autorität, nicht wie unsere Autoritäten.›
Denn die Autoritäten, die nicht mit Autorität sprechen, müssen ja die Hörer entmächtigen, um sich oben zu halten. Jesus aber kann es sich leisten, seine Hörer zu ermächtigen, weil er sich auf die wahre göttliche Autorität in ihren Herzen beruft.»]