Text, Film, Audios und Interviews von Br. David Steindl-Rast OSB

religion titelCopyright © -Barbara Krähmer

Raimon Panikkar (1918-2010) vergleicht Religiosität mit dem Sprachvermögen des Menschen. So wie das Sprachvermögen sich in den verschiedenen Sprachen ausdrückt, so drückt die uns allen gemeinsame Religiosität sich in den verschiedenen Religionen aus.

Religiosität verbindet uns, die Religionen unterscheiden uns ‒ und trennen uns sogar leider oft.

Immer wieder neu entspringen aus der ursprünglichen und allen Menschen gemeinsamen Religiosität Religionen in den verschiedensten Formen.

Welcher Reichtum ginge auch verloren, wenn es nur eine Einheitssprache ‒ nur eine einzige Religion ‒ gäbe!

Wir könnten Religiosität auch mit einem einzigen riesigen, unterirdischen Wasserreservoir vergleichen und die Religionen mit einer Vielzahl von Brunnen, die daraus ihr Wasser heraufholen.

Immer wieder einmal im Laufe der Geschichte kommt ein Religionsgründer und gräbt einen neuen Brunnen.

Die Brunnen können sich stark voneinander unterscheiden, je nach der Persönlichkeit des Erbauers, den Gegebenheiten des Ortes, seiner Menschen und ihrer Bedürfnisse zu diesem geschichtlichen Zeitpunkt.

Wir dürfen uns an der Schönheit der Brunnen in ihrer Verschiedenheit freuen und uns daran erinnern, dass aus jedem von ihnen ein und dasselbe Wasser fließt.

Wenn wir eingebettet in eine religiöse Tradition aufwachsen, werden uns die Lehren, Gebote und Rituale dieser Religion ihre tiefere Bedeutung dadurch erschließen, dass sie unsre erwachende Religiosität zum Mitschwingen bringen und zu ihrem echten Ausdruck werden.

Jede Religion, in der wir aufwachsen, kann die Sprache werden, in der wir über das ‒ letztlich doch unaussprechliche ‒ Geheimnis sprechen, das unsre Religiosität erahnt.

Später im Leben ist es schwieriger, eine neue Sprache zu erlernen. Die Aneignung einer religiösen Sprache beim Aufwachsen stellt ein weit größeres Vermögen dar als ein fettes Sparbuch; sie kann zur unerschöpflichen Freudenquelle fürs ganze Leben werden.

Daher ist es ein schmerzlicher Verlust, wenn wir uns bewusstwerden, dass wir unsre Religiosität nicht mehr in der Sprache der Religion unsrer Kindheit ausdrücken können.

Formen aufzugeben, die nicht mehr echter Ausdruck unsrer Religiosität sind, und nach neuen Ausdrucksformen zu suchen, mag andren und sogar uns selbst als Verrat erscheinen, kann aber gerade unsre Treue zum religiösen Inhalt beweisen, den sowohl die alten wie die neuen Formen ausdrücken.

Wir dürfen bei der Auswahl neuer Formen langsam und wählerisch vorgehen. Es ist nicht nötig, plötzlich allen Halt aufzugeben, den das Vertraute uns bietet.[1]

Religionen neigen jedoch dazu, früher oder später ihre ursprüngliche Kraft zu verlieren.

Ein Grund dafür liegt darin, dass große Gemeinschaften es kaum vermeiden können, Institutionen zu werden. Alle Institutionen haben aber die Tendenz, ihren ursprünglichen Zweck zu vernachlässigen und stattdessen zum Selbstzweck zu werden.

Wir wissen aus bitterer Erfahrung, dass auch politische, akademische, medizinische und andre Institutionen zum Selbstzweck werden, nicht nur religiöse.

Eine weitere Gefahr für Religionen besteht darin, dass sie in den Bann des «Systems»[2] fallen können.

Wenn dies geschieht, friert ihre ICH-DU-Spiritualität zu einer ICH-ES-Ideologie ein: Lehre, Moral und Ritual verwandeln sich in Dogmatismus, Moralismus und Ritualismus.

Was sollen wir tun, wenn diese Katastrophe unsre eigene Religion befällt und das lebendige Wasser, das einst aus ihrem Brunnen sprudelte, sich in Eis verwandelt?

Wir können dieses Eis immer wieder auftauen ‒ durch die Wärme der Religiosität unsres Herzens.

Das Herz jeder Religion ist die Religiosität des Herzens.

Religiosität kann Religion wiederbeleben.

Wo eben noch Eis war, sprudelt dann wieder lebenspendendes Wasser.

Ist es also nicht die Religiosität unsres Herzens, auf die alles ankommt?[3]

Viel Religionsvergleich und Faktensammeln war nötig, um dies wirklich zu erkennen, aber inzwischen ist es einer erheblichen Anzahl von Menschen bewusst geworden (und wird jedem Menschen auf dieser Erde zunehmend bewusst werden), dass es im Endeffekt nur zweierlei Arten der Religiosität gibt.

Die Grenzlinien, von denen wir annahmen, dass sie zwischen Christen und Buddhisten, zwischen Buddhisten und Hindus und Muslims und Juden verliefen, sind letzten Endes irrelevant.

Es gibt nur eine Linie, die trennt, und die verläuft in einer anderen Richtung, nämlich horizontal. Durch alle Buddhisten, durch alle Hindus, durch alle Christen, und durch jeden Einzelnen von uns, verläuft die Linie zwischen der richtigen Weise, religiös zu sein, und der falschen Weise, religiös zu sein.

Es ist die Linie zwischen Furcht und Glauben.

Furcht in ihrer religiösen Ausdrucksweise nimmt verschiedenste Gestalt an, sei es Dogmatismus, wo es am offensichtlichsten ist, oder Szientismus, der eigentlich nur eine andere Form des Dogmatismus ist, oder sei es Fundamentalismus.

Auch der Moralismus ist eine Gestalt der Furcht; denn er bedeutet, dass man sich an etwas festhält, das man tun kann ‒ es ist das, was Paulus das Gesetz im Gegensatz zur Gnade genannt hat, oder die Werke im Gegensatz zum Glauben.

Man tut etwas: solange man es tun kann, hat man etwas im Griff. Man braucht auf nichts zu vertrauen; man vertraut auf das, was man erreichen und handhaben kann.

Im Grunde läuft es darauf hinaus, dass es auf der Welt nur noch zwei Arten gibt, religiös zu sein. Wenn Sie mir den Ausdruck gestatten, dann will ich die eine Art die fundamentalistische nennen, das ist die Religion der Furcht.

Es ist zwar ganz offensichtlich, dass sie in meinem Sinne eigentlich gar keine Religion ist, aber sie wird nun einmal Religion genannt, und so wollen wir es bei diesem falschen Ausdruck belassen: es ist die Affenreligion, die äffende Religion, die Religion der Furcht.

Und im Gegensatz dazu steht die katholische Religion, aber wir wollen katholisch bitte mit einem kleinen «k» schreiben, denn das große Problem der Katholiken besteht darin, dass sie nicht katholisch genug sind. Es gibt katholische Buddhisten, die viel katholischer als die Katholiken mit dem großen «K»[4] sind, und es gibt katholische Juden und katholische Muslime und katholische Hindus. Es gibt sogar katholische Atheisten, aber auch fundamentalistische Atheisten. Hier eben verläuft die Trennungslinie.[5]

Richtig verstanden, ist «katholisch» nicht das Markenzeichen einer bestimmten Gruppe von Christen ‒ «allumfassende Teilgruppe» ist ein offensichtlich widersinniger Begriff ‒, sondern kennzeichnet die Gemeinschaft aller, die mit dem uns Menschen angeborenen Ur-Glauben dem Leben vertrauen.

Wer sollte da ausgeschlossen sein? Selbst Tiere und Pflanzen haben ja auf ihre eigene Art dieses Ur-Vertrauen. Auch wenn dieser Glaube manchmal einem Menschen selber nicht bewusst ist, im tiefsten Herzen bleibt er immer lebendig.[6]

Es würde nicht der Wahrheit entsprechen, wenn wir behaupten wollten, die großen Traditionen der Spiritualität verhielten sich zueinander komplementär. Ja, es wäre falsch, sich vorzustellen, sie ließen sich alle «zum Richtigen» zusammenfassen. Jede von ihnen ist «das Richtige». Sie sind nicht komplementär, sondern interdimensional. Jede enthält jede, wenn auch mit den größtmöglichen Unterschieden bezüglich der Akzentuierung. Daher ist jede einmalig.

Jede ist in ihrer Art auch die höchste. Wo bleibt da der christliche Anspruch auf Universalität? Richtig verstanden, ist er nicht eine Art von kolonialem Anspruch, sondern er verweist auf innere Horizonte. Es verlangt nicht von den anderen, sondern von uns Christen, dass wir immer und immer wieder die vernachlässigten Dimensionen unserer eigenen Tradition wiederentdecken, damit wir wahrhaft universal, also wirklich katholisch werden.[7]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 3, 5-7]

[Ergänzend:

1. Film Vom Ich zum Wir (2021): «Menschenwürde und allgemeinmenschliche Religiosität»: Bruder David im Interview mit Egbert Amann-Ölz im Rahmen des Online-Pfingstkongresses (14.-24. Mai 2021), siehe auch Mitschrift Pfingstkongress, 4-7:

(16:10) «Es ist mir bewusst geworden – im Laufe meines Lebens –, dass die verschiedenen Religionen Ausdrücke, Ausdrucksformen einer einzigen allgemeinmenschlichen Religiosität sind: Ich beginne mit der Einsicht – und es ist eine Einsicht, zu der jeder Mensch kommen kann –, dass wir als Menschen auf Religiosität – nicht auf Religion – angelegt sind.

Und unter Religiosität verstehe ich: Es macht uns erst zu Menschen, dass wir mit dem großen Geheimnis, das hinter allem steht, ringen müssen und uns mit ihm auseinandersetzen müssen im Lauf unseres Lebens. Wir sind die religiösen Tiere, unter den Tieren jene, die sich dieses großen Geheimnisses bewusst sind und mit ihm umgehen lernen müssen und darin besteht unsere Lebensaufgabe.»

Egbert Amann-Ölz: «Bei dir hat man es auf jeden Fall gespürt: Du bist im Herzen der Katholischen Kirche verankert und hast aber die Fühler ganz weit ausgestreckt. Ja, du hast eine Verbindung zu allen Menschen, unabhängig von der Religion, aber auf dieser Basis der Religiosität, hab ich den Eindruck.»

Bruder David: «Das ist eben die Basis: Die glühende Religiosität, die leider in den meisten Menschen nicht zu glühen ist, aber ein kleiner Funke wenigstens ist, den man wieder zur Flamme entfachen kann: Die sind in uns – unser größtes Interesse! – wenn es nur möglich gemacht wird, uns wirklich damit auseinanderzusetzen.»

2. Audios

2.1. Audio Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018)
Zweites Kamingespräch mit David Steindl-Rast:
(01:57) Der Begriff Religion ist zweideutig: «Einerseits bedeutet Religion ‹die Religionen›. Aber Religion hat auch noch eine zweite Bedeutung, nämlich ‹die uns Menschen angeborene Religiosität›. Und die drückt sich dann in den Religionen aus. So wie wir eine uns Menschen angeborene Sprachbegabung haben, die sich in den verschiedenen Sprachen ausdrückt. Man kann nicht Sprachbegabung sprechen, man kann nur Deutsch, Französisch oder Italienisch sprechen.

Und jede Sprache ist sehr wichtig, weil, wenn man mehrere Sprachen kennt, weiß man, wie schöne Einsichten man einfach gewinnt dadurch, dass man sich so ausdrückt. Man kann das in einer andern Sprache überhaupt nicht sagen. Es gibt viele deutsche Wörter, wo es keine Parallele gibt, z. B. ‹Vorfreude›: In keiner mir bekannten Sprache gibt es das Wort ‹Vorfreude›. Das muss man umschreiben. Das ist ein wunderschönes Wort: ‹Vorfreude ist die schönste Freude›. Das ist nur ein winziges Beispiel. Aber jede Sprache hat ihre Bedeutung und ihre Schönheit und ihre Einzigartigkeit, und so ist es mit den Religionen. Die haben auch jede ihre eigene Schönheit, aber die wachsen alle heraus aus diesem Mutterboden unserer Religiosität.»

(04:12) «Manche Leute nennen es Spiritualität [oder Ethik][8]. Ich nenne es gerne ‹Religiosität›, weil dieses Wort ‹Religion› ein sehr schönes Wort ist und außerdem zeigt es in dem Zusammenhang: aus der Religiosität wachsen die Religionen, das ist einleuchtend.

Und Religiosität heißt ja ‒ das ist nicht unbedingt stichhaltig ‒, aber die meisten Etymologen sagen, dass es mit ‹religare› zu tun hat, und das heißt, wie ‹re› ‒ ‹wieder› und ‹ligare› wie ‹Liga› und ‹Ligamente›, ‹wiederverbinden›.

Also Religion [im Sinn von Religiosität] ist das, was gebrochene Verbindungen wieder verbindet. Und zwar die Verbindung zwischen uns und dem großen Geheimnis Gottes, die Verbindung zwischen den Menschen untereinander und die Verbindung zwischen jedem und jeder von uns und unserm tiefsten wahren Selbst. Also das alles ist Aufgabe der Religion, uns wieder zu verbinden, wo wir zerbrochen sind.

Und diese Religiosität ‒ wenn wir sie pflegen, tut das. Also sie verbindet uns. Weil: es gibt nur eine menschliche Religiosität. Und viele, viele Religionen.

Und die Religionen sind zu ganz verschiedenen Zeiten entstanden und haben sich auf ganz verschiedene Weise fortgepflanzt, ganz verschiedene Geschichten usw.. Das muss man alles in Betracht ziehen und darum ist es nicht sehr leicht, die Religionen als verbindend anzusehen.

(06:09) Da kommt noch etwas dazu: Die Religionen sind alle heutzutage schon Institutionen geworden, und wir wissen alle, dass Institutionen für einen bestimmten Zweck gegründet werden ‒ sagen wir erzieherische Institutionen oder medizinische Institutionen oder politische Institutionen ‒, die werden für einen guten Zweck gegründet. In der kürzesten Zeit denkt niemand mehr an den Zweck, sondern nur mehr an die Institution und will die verwirklichen und verewigen. Und alles dreht sich um die Institution und der Zweck ist schon vergessen.

Das gilt auch für die Religionen als Institutionen. Die sind sehr in sich selbst verfangen. Ich bin ganz dafür, dass man so Begegnungen hat wie die in Assisi[9] usw.. Die Begegnung der Religionen ist äußerst wichtig, aber man darf nicht soviel davon erwarten. Und ich habe viel Erfahrung damit und so kann ich das aus Erfahrung sagen.

Aber von Meditation, wo Menschen sich auf ihre eigene Religiosität einlassen, kann man sehr viel erwarten. Im Augenblick, wo jemand wirklich ein spiritueller Mensch ist, versteht er sich mit allen andern spirituellen Menschen und nicht nur das: ist aufgeschlossen und nicht feindlich gegen andere, die er nicht so gut versteht, oder die sogar gegen uns feindlich sind.

Also das ist eine ganz andere Bewegung: Wir müssen in die Religiosität gehen oder in die Spiritualität, die uns verbindet, und von daher unsere Religionen, die ja sehr wertvoll sein können, immer wieder erneuern.

Wir sind verantwortlich dafür, unsere Religion immer wieder aus den Quellen unserer eigenen persönlichen Religiosität zu erneuern, zu beleben und in ihr das Leben einfließen zu lassen.

Und wenn man das macht, dann sieht man einerseits, wieviel Schönheit in der eigenen Religion … und wieviel Schönheit in den andern ist. Und immer wieder kommt mir unter, dass Leute, die Jahre und Jahrzehnte Buddhismus praktizieren und lange Christen waren, und das schon halbwegs vergessen haben, endlich sagen: Durch meine buddhistische Spiritualität ‒ nicht durch den Buddhismus, sondern durch meine Meditation ‒: endlich verstehe ich, was im Christentum wesentlich ist. Jetzt bin ich wieder offen für das Christentum. Immer wieder kommt das vor. Oder Judentum: genau dasselbe.

(11:08) «Und besonders auch, wenn Leute Schwierigkeiten haben mit ihrer Religion oder mit dem Religionsunterricht oder ihrer religiösen Erziehung usw., ist es ein sehr einfacher Kunstgriff, das einmal still liegen zu lassen und auf die Religiosität zu sprechen zu kommen, die man voraussetzen kann: Jeder Mensch hat diese tiefe Religiosität.

2.2. Audio-Vortrag: Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2010), sowie: Mitschrift, 2-5:
«Worum geht es bei der Religiosität? Das ist uns unbedingt wichtig, wenn wir unser Thema beantworten wollen. Worum geht es bei der Religiosität und zwar jetzt, in Ihrem Erleben?»

3. Texte

3.1. Schon jetzt berühre ich eine bleibende Wirklichkeit (2022): Interview von Stefan Seidel mit Bruder David:

«Mir wurden ungewöhnliche Gelegenheiten geschenkt, andre spirituelle Traditionen aus nächster Nähe kennenzulernen, besonders den Zen Buddhismus. Das gab meinem christlichen Glauben Anstoß, allumfassend, also im Vollsinn des Wortes ‹katholisch› zu werden. Ich sehe jetzt, dass die verschiedenen Religionen – meine eigene eingeschlossen – wie verschiedene Brunnen aus ein und demselben Grundwasser menschlicher Religiosität schöpfen. Diese Religiosität ist die uns als Menschen angeborene Beziehung zu dem großen Geheimnis, das wir Gott nennen. Ein solcher Brunnen, wie unsere christliche Tradition einer ist, stellt ein unermessliches Geschenk dar. ‹Geh nicht von einem zum andern›, warnt Swami Satchidananda: ‹Wenn du einen gefunden hast, grab‘ immer tiefer›. Das habe auch ich mir zu Herzen genommen. Es erweitert den Horizont und ist für das dringend notwendige gegenseitige Verständnis ungemein wichtig, andre Religionen kennenzulernen; es ist aber auch wichtig zu wissen, wo wir zuhause sind.»

3.2. «Die Religion religiös machen», in: Verbunden trotz Abstand (2021), 43-64; siehe auch: Die Religion religiös machen im Buch Andere Wirklichkeiten (1984), 195-204

3.3. Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt, Mystiker zu sein (2020): Interview von Evelyn Gander mit Bruder David:

Evelyn Gander: «Osttirol ist eine sehr traditionell katholisch geprägte Region und andere Religionen werden oft als Widerspruch zur eigenen wahrgenommen. Wie kann es gelingen zwischen den Religionen Verbindendes zu erkennen und damit Ängste abzubauen?»

Bruder David: «Das Herz jeder Religion ist die Religion des Herzens. Sie ist uns Menschen angeboren, und auf sie allein kommt es letztlich an. Sie wird uns als Ehrfurcht bewusst, wenn wir dem großen Geheimnis der Natur und des menschlichen Lebens begegnen, und drückt sich im Alltag aus durch ehrfürchtigen Umgang mit Menschen, Tieren, Pflanzen und Dingen. Die verschiedenen Religionen drücken diese eine uns allen gemeinsame Religiosität auf verschiedene Weise aus, weil sie in unterschiedlichen geschichtlichen Epochen entstanden sind und von ganz unterschiedlichen Kulturen geprägt wurden.

Bildlich gesprochen, sind die Religionen wie Brunnen, die alle aus ein und demselben unterirdischen Sammelbecken ihr Wasser heraufpumpen. Wenn es uns auf Äußerlichkeiten ankommt, werden wir uns am Baustil der uns fremden Brunnen stoßen. Wenn uns aber das Trinken das Wichtigste ist, werden wir den Geschmack des Wassers aus dem uns vertrauten Brunnen bei allen anderen wiedererkennen und uns an der vielfältigen Schönheit der verschiedenen Brunnen freuen.»

3.4. Von Augenblick zu Augenblick (2020): Interview von Esther Platzer mit Bruder David:

Esther Platzer: «Es gibt unterschiedliche Religionen auf dieser Welt. Warum stehen sie miteinander in Konkurrenz?»

Bruder David: «Ich möchte mit einer Definitionsfrage beginnen. Wir sollten zwischen Religion im Sinne von Religiosität und Religion als Institution unterscheiden. Auf der Ebene der Institution kann keine Vereinigung stattfinden. Eine Institution – und jede der großen Religionen ist eine Institution geworden – vergisst sehr bald, wofür sie gegründet wurde. Sie verwendet ihre Energie darauf, sich selbst zu verewigen.

Das ist allen Institutionen gemeinsam, sei es politischer, medizinischer oder auch akademischer Natur. Religion ist keine Ausnahme. Auf institutioneller Ebene tauscht man vielleicht freundliche Worte untereinander aus, und wenn wir Glück haben, bekämpft man sich nicht, doch Religionen werden auf institutioneller Ebene sicherlich nicht zusammenfinden.»

«Und worauf setzen Sie dann Ihre Hoffnung?»

«Das Einzige, was den Zwiespalt überwinden kann, ist die Rückbesinnung auf Religiosität. Sie verbindet uns alle, ist angeboren. Menschsein bedeutet, sich mit den Geheimnissen des Lebens zu befassen.»

 «Was meinen Sie genau mit Religiosität?»

«Ich will es mit einem Bild veranschaulichen: Stellen wir uns Religiosität als eine Art Grundwasser vor. Im Laufe der Geschichte bauten die Religionsgründer Brunnen. Gautama Buddha baute einen, Jesus auch. Beide befördern Grundwasser, also Religiosität an die Oberfläche, beide mit Brunnen, die für ihre Kultur und in ihren Kontext passten.»

«Und was folgt daraus?»

«Im interreligiösen Dialog lassen sich entweder die verschiedenen Brunnen miteinander vergleichen, oder wir vergleichen das Wasser, das diese Brunnen ans Tageslicht bringen. Wer das tut, wird bemerken, dass das Wasser immer das Gleiche ist. Es ist also die Aufgabe von Religionszugehörigen, in der Begegnung mit anderen Glaubensrichtungen immer so tief hinunterzugehen, dass sie das lebendige Wasser herausholen. So schafft man es, Gemeinsamkeiten zu erkennen und nicht auf die Unterschiede zu achten.»

3.5. Es geht im Leben darum, unsere Verbundenheit zu feiern (2019): Interview von Michaela Gründler mit Bruder David:

Michaela Gründler: «Sie haben sich im Laufe Ihres Lebens immer wieder mit Vertretern anderer Religionen vernetzt. Was ist das Verbindende zwischen den Religionen?»

Bruder David: «Da müssen wir zunächst unterscheiden zwischen der allen Menschen angeborenen Religiosität und den Religionen.

Zu der Zeit, wo eine Religion gegründet wird, verfestigt sich eine von den vielen möglichen Ausdrucksformen der allgemein menschlichen Religiosität – der Begegnung mit dem großen Geheimnis.

Aber auf diese Religiosität kann man immer wieder von jeder der Religionen zurückgreifen. Auf dieser Basis kann ein Christ von einem Mohammedaner etwas lernen und umgekehrt, und sie können sogar gemeinsam beten.

Bei der Annäherung der verschiedenen Religionen als Institutionen sehe ich eher schwarz. Sie nähern sich vielleicht unter Druck an oder aus politischen Gründen, vielleicht auch mit guter Absicht, aber jede Institution will sich letztlich von der anderen abgrenzen.

Aber in der allgemein-menschlichen Religiosität, die das Leben als Ganzes sieht und jeder Religion auf verschiedene Weise zugrunde liegt, sind wir von Anfang an verbunden. Sich diese Verbundenheit bewusst zu machen, ist ungeheuer wichtig im interreligiösen Dialog.»

Michaela Gründler: «Worin besteht diese allgemein menschliche Religiosität genau?»

Bruder David: «Darin, dass wir als Menschen gar nicht umhinkönnen, uns mit dem großen Geheimnis des Lebens auseinanderzusetzen. Diese Beschäftigung kann man verschieben, solange man noch jung ist und andere Interessen hat. Aber für ein volles Menschenleben kann man nicht umhin, sich mit dem Warum, dem Was und dem Wie des Lebens auseinanderzusetzen. Warum gibt es uns überhaupt? Was schenkt uns das Leben und was verlangt es von uns? Wie sollen wir miteinander verbunden leben, um glücklich zu sein? Diese Grundfragen, die kein Mensch früher oder später umgehen kann, führen uns in das große Geheimnis hinein.»

3.6. Radikales, mutiges Vertrauen in das Leben (2019): Interview von Anne Voigt mit Bruder David:

Anne Voigt: «Welche Rolle spielt die Religion?

Bruder David: «Hans Küng, der große Vertreter des ‹Projekts Weltethos›, betont, dass man eigentlich von Menschenpflichten und nicht nur von Menschenrechten sprechen sollte. Und auch der Dalai Lama spricht in seinem Buch ‹Ethik ist wichtiger als Religion› von Menschenpflichten. Institutionelle Religion steht ihnen oft im Wege. Mir ist wichtig, dass der religiöse Dialog eigentlich nicht ein Dialog zwischen Religionen ist, sondern ein Dialog zwischen Menschen, die verschiedenen Religionen angehören, sich aber auf der Ebene des gemeinschaftlich Menschlichen treffen. Darum ist der interreligiöse Dialog ganz wichtig.»

«Ist innerhalb dieses Dialogs die Religion also gar nicht so wichtig?»

«Ja, allerdings nicht in dem Sinne, wie es manchmal beschrieben wird. Es geht nicht um die Frage, was wir beispielsweise als Christen, Buddhisten oder Hindus glauben und was nicht. Vielmehr sollte der interreligiöse Dialog als ein Dialog aller Menschen verstanden werden.»

«Stehen religiöse Institutionen dem Dialog im Weg?»

Bruder David: «Die Institution ist dafür da, uns immer wieder an die Quelle zurückzuführen. Aber sie möchte sich als Institution auch selbst verewigen und vergisst sehr bald, wofür sie gegründet wurde. Das ist eine große Gefahr. Das gilt nicht nur für religiöse und spirituelle Institutionen, sondern etwa auch für akademische oder politische. Ich nenne es das Syndrom der rostigen Röhren, denn Institutionen verhalten sich so. Es sind rostige Röhren, die uns aber auch immer wieder das Wasser der ursprünglichen Quelle zuführen.»

3.7.1. Im Buch: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018), 35f., [bzw. Fülle und Nichts (2015), 33f.]:

«Ruhelos ist unser Herz.» So drückte Augustinus es aus.

Der Kern unseres Wesens ist ein unerbittliches Fragen, Suchen, Sehnen.

Selbst das Schlagen des Herzens in meiner Brust scheint lediglich das Echo eines tieferen Hämmerns in mir zu sein, eines Klopfens an eine verschlossene Tür.

Noch nicht einmal das ist mir klar: Klopfe ich, um hereinzukommen, oder klopfe ich, um herauszugelangen?

Eins aber ist gewiss: Ruhelos ist unser Herz. Und jene existenzielle Ruhelosigkeit ist das, was Religion religiös macht.

Jede Religion stellt nur den Rahmen für die Suche des Herzens bereit.

Innerhalb jeder Religion gibt es unzählige Wege, religiös zu sein.

Durch persönliches Suchen müssen wir unseren eigenen finden. Das kann niemand anders für uns erledigen.

Diese oder jene Religion mag den historischen, kulturellen, soziologischen Rahmen dazu liefern. Sie mag uns eine Interpretation unserer Erfahrung anbieten, eine Sprache, um darüber zu sprechen. Wenn wir Glück haben, liefert sie uns vielleicht Anreize, die uns bei unserer Suche wach und aufmerksam halten, und Kanäle, die ihre Antriebskraft davor schützen zu versickern, auszulaufen.

All dies ist von unschätzbarem Wert. Und doch sind das äußere Dinge.

Das Herz jeder Religion ist die Religion des Herzens.»

Am Schluss des Buches zum Schlüsselbegriff Religion

3.7.2. Im Buch: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018), 182f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 183f.] der Schlüsselbegriff «Religion»:

«Religionen sind Wege, religiös zu sein. Wir denken an die zugrundeliegende Religiosität, wenn wir von Religion im Gegensatz zu Religionen sprechen. Wir bräuchten ein Tätigkeitswort, ein Verb, um auszudrücken, worum es bei Religion geht. Aber während uns Wörter wie ‹Religion› und ‹religiös› zur Verfügung stehen, ist es nicht möglich zu sagen, jemand ‹religione›.

Beten ist das Tätigkeitswort im Zusammenhang von Religion. Beten (im weitesten Sinne) ist das, was verhindert, dass religiöse Erfahrung in bloßen religiösen Strukturen vertrocknet. Erfahrung ist der Ausgangspunkt von Religion. Es ist nicht zu vermeiden, dass Intellekt, Wille und Emotionen ‒ alle in der ihnen eigenen Weise ‒ mit der Erfahrung fundamentaler Zugehörigkeit ringen. Der Intellekt interpretiert die Erfahrung, und das führt zur religiösen Lehre. Der Wille erkennt die Implikationen an, was die ethische Seite begründet. Die Emotionen feiern die Erfahrung durch das Ritual.

Religion aber ist nicht automatisch religiös. Jene drei Hauptbereiche jeder Religion neigen immer dazu, zu Dogmatismus, Legalismus und Ritualismus zu schrumpfen, wenn sie nicht immer wieder von persönlicher Erfahrung belebt werden. Dieser Prozess ist das Gebet. Gebet in diesem Sinne macht Religionen religiös.»

3.8. Liebe ‒ die Antwort auf die Krisen unserer Zeit (2017):

«Wir müssen unterscheiden zwischen Religion [im Sinn von Religiosität] und den Religionen. Die Religionen sind verschiedene Brunnen, die Wasser heraufholen aus dem allen gemeinsamen Grundwasser der Religion.

Religion, wenn wir dieses Wort vom lateinischen ‹re-ligare› herleiten wollen, ist das Wieder-Verbinden und Heilen zerrissener Beziehungen – zu unserem echten Selbst, zu unserer Mit- und Umwelt und zum großen Geheimnis, mit dem wir uns als Menschen unvermeidlich auseinandersetzen müssen, um Sinn im Leben zu finden.

Geheimnis ist kein vager Begriff, sondern bedeutet jene Wirklichkeit, die wir nicht durch Begriffe in den Griff bekommen können, die uns aber verständlich wird, wenn sie uns ergreift. Wir kennen diese Ergriffenheit von der Musik, deren Wesen sich ja auch unseren Begriffen entzieht.

Dem Geheimnis begegnen wir in allen ergreifenden Lebenserfahrungen, etwa in Gipfelerlebnissen, bei der Geburt eines Kindes, im Angesicht des Todes und vor allem in der Liebe, weil sie das Ja zum Leben ist und so das Ja zum Geheimnis. Das Herz aller Religionen ist die Religion des Herzens: die Liebe.

Das griechische Wort ēthos bedeutet in erster Linie unsere menschliche Natur, unsere grundlegende Veranlagung – unsere innerste Ausrichtung also auf das große Geheimnis, unsere Religiosität.

Weil aber die meisten Menschen heute an die Religionen denken, wenn von Religion die Rede ist, liegt es nahe, lieber das Wort Ethik zu verwenden statt Religion oder Religiosität. Aus dieser Erwägung gibt S.H. der Dalai Lama seinem Appell an die Menschheit den Titel ‹Ethik ist wichtiger als Religion›. Er will damit aber das Gleiche sagen wie: Religion ist wichtiger als die Religionen.

Wenn das Herz jeder Religion die Religion des Herzens ist, dann ist das Herz jeder Ethik die Ethik des Herzens – die Sehnsucht glücklich zu werden und – untrennbar davon – andere glücklich zu machen. In aller Welt drückt die Volksweisheit diese Einsicht ähnlich aus wie bei uns: ‹Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu.›

Ob wir es Religion nennen, Ethik oder Spiritualität, immer geht es um ‹die elementarste aller menschlichen Urquellen in uns›, – wie der Dalai Lama sie nennt. Aus dieser einen Quelle schöpfen alle Religionen und alle Systeme ethischer Normen.»

3.9. Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 177-182:

«Ein Bild, das ich manchmal verwendet habe, um die Beziehung zwischen der mystischen Erfahrung und der religiösen Tradition zu veranschaulichen, ist das eines Vulkanausbruchs. Da ist das heiße Magma, das aus den Tiefen der Erde emporschießt und dann an den Seiten des Vulkans herabfließt. Je länger es fließt, desto mehr kühlt es sich ab, und je mehr es sich abkühlt, desto weniger erinnert es an den ursprünglichen feurigen Zustand. Am Fuße des Berges finden wir dann lediglich übereinander gelagerte Felsschichten. Niemand würde denken, dass diese einst weißglühend waren. Da kommt nun aber der Mystiker. Er bohrt ein Loch durch die übereinander gelagerten Felsschichten, bis das Feuer, das ursprüngliche Feuer, wieder emporschießt. Da jeder von uns ein Mystiker ist, besteht darin unsere Aufgabe. Doch sobald wir zu dieser Verantwortung gereift sind, prallen wir unweigerlich mit der Institution zusammen.

Die Frage lautet: ‹Besitzen wir die Gnade, die Stärke und den Mut, unsere prophetische Aufgabe auf uns zu nehmen›?»]

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[1] Orientierung finden (2021), 64, 65f.

[2] Orientierung finden (2021): «Das System ‒ die Macht, die Leben zerstört», 41:

«Das ‹System› kann nicht lächeln. Es kümmert sich um keinen Menschen. Ihm ist alles egal. Wir haben es ja mit einer völlig unpersönlichen Machtstruktur zu tun, obwohl sie wie von einem irrsinnigen Machthaber gesteuert erscheinen mag. In seinem Wesen ist das ‹System› uneingeschränkte Unpersönlichkeit ‒ Inbegriff eines leeren Nichts mit mörderischer Macht. Wo es eindringt, zerstört es das Bewusstsein gegenseitiger Zugehörigkeit und die Anerkennung persönlicher Einzigartigkeit ‒ die beiden Voraussetzungen von Menschenwürde. Sich gegen das ‹System› aufzulehnen, heißt also ‒ kurz und positiv auf eine Formel gebracht ‒ für Menschenwürde einzutreten. Menschenwürde entspringt letztlich der Ehrfurcht vor dem Geheimnis.»

[3] Orientierung finden (2021): «Religionen ‒ verschiedene Sprachen für das Unaussprechliche», 69f.

[4] Katholisch identisch mit «Römisch-Katholisch»

[5] Der Mönch in uns (1978)

[6] Credo: «Ein Glaube, der alle verbindet» (2012), 189

[7] Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 9 «Unsere Suche nach dem letzten Sinn», 128f.

[8] Siehe Liebe ‒ die Antwort auf die Krisen unserer Zeit (2017) in Ergänzend: 3.8:

«Weil aber die meisten Menschen heute an die Religionen denken, wenn von Religion die Rede ist, liegt es nahe, lieber das Wort Ethik zu verwenden statt Religion oder Religiosität.»

[9] Von 18. bis 20. September 2016 hatten sich in Assisi rund 500 Vertreter von einem Dutzend Religionen versammelt, um den Dialog zwischen den Glaubensgemeinschaften voranzutreiben. An der Zusammenkunft mit knapp 30 Podiumsrunden sowie Vorträgen und Gebeten nahmen insgesamt mehr als 10.000 Menschen teil. Neben dem Dialog der Religionen ging es auch um Themen wie Recht auf Nahrung, Migration und Bewahrung der Schöpfung.

 



Quellenangaben

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