Text von Br. David Steindl-Rast OSB

barbara titelCopyright © - Elisabeth Cerny-Gutmann

Schönheit verwandelt den Betrachter. Schönheit wirkt anziehend. Sie zieht dich auf ihre Seite.

Selbst Güte und Wahrheit können das menschliche Herz nicht völlig gewinnen, wenn sie nicht mit einer Anmut und Leichtigkeit ausgestattet sind, die sie schön sein lassen.

Wenn Jesus sagt: «Betrachtet die Lilien» (Matthäus 6,28), dann ist das eine Einladung an jeden einzelnen von uns.

Im Augenblick aber, da wir diesen Lilien unser Herz schenken, geschieht etwas Überraschendes.

Wir meinten die Lilien zu betrachten, doch plötzlich betrachten die Lilien uns.

Rilke fängt diese Erfahrung in seinem Gedicht «Archaischer Torso Apollos» ein.

Er verwendet vierzehn Zeilen, um uns das Gefühl zu geben, wir betrachteten die Skulptur, die er eher vor uns hinstellt, als sie beschreibt.

Wir sind ganz Auge.

Plötzlich kehrt der Dichter die Perspektive um und sagt:

«da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht.»

Unvermittelt endet das Gedicht nun mit:

«Du musst dein Leben ändern.»[1]

Die Lilie schaut dich an, und jedes einzelne Blütenblatt wird zu einer Zunge, die dich schweigend herausfordert.

Mit dieser Herausforderung beginnt die Verwandlung unserer Welt. Sobald wir uns der Herausforderung der Schönheit stellen und das Wagnis auf uns nehmen, schlägt uns die Verwandlung in ihren Bann.

Dies beginnt mit einem Wandel in unserem Herzen und geht dann seinen Weg bis zur Umwandlung selbst der sozialen Ordnung, ja bis zur Transformation der Materie. [FN 1) 132f.; 2-5) 134-136; 6) 134-136]

Die Natur ist einfach da; sie hat keinen unmittelbaren Nutzen. Sie ist ein reines Geschenk der Schönheit und des Lebens.

Gerard Manley Hopkins sagt:

«Tief drinnen in den Dingen lebt die kostbarste Frische.»

Und diese ursprüngliche Frische wird jeden Morgen erneuert.

Denise Levertov hat das freudige Staunen über diese Frische in einem Gedicht eingefangen, das offenbar ganz speziell für Pendler im morgendlichen Berufsverkehr geschrieben ist.

Es beginnt mit allen Schwierigkeiten und der ganzen Spannung und Negativität, die am Morgen auf einen Pendler zukommen.

Dann aber erhascht das Auge wie zufällig einen Schimmer von Schönheit.

Wenn wir uns Zeit nehmen, so lange bei diesem Anblick zu verweilen, als wir brauchen, um den zweiten Vers zu lesen, dann wird dieses beflügelnde Gedicht unser Herz erheben, so wie es sich auf den melodischen Schwingen der Gesänge erheben kann.

Der Schrecken eines jeden Tages,
beinahe eine Form von Langeweile ‒
Wahnsinnige
Am Steuer und
Mit dem Fuß aufs Gas, und
Die Bremsen taugen nichts ‒

Und täglich eine am Morgen erblühte
Purpurwinde, manchmal zwei,
makellos, blau
oder rotgesprenkelt, und jede
erstrahlt wie von innen
mit dem ersten Sonnenstrahl.

Das Gegenteil von Dankbarkeit ist, alles als selbstverständlich anzusehen.

Solange wir unserer Wege gehen und die Dinge als selbstverständlich hinnehmen, werden wir das Licht nie sehen; die Wirklichkeit bleibt undurchlässig wie Klosterfenster, bevor die Sonnenstrahlen sie zu Wänden aus Licht machen.

In dem Maß, in dem wir Überraschungen in unser Leben hineinfließen lassen, wird unser ganzes Leben lichtdurchlässig.

Musikhören oder Singen heißt: etwas tun, was keinem praktischen Zweck dient. Es ist nur Feiern und Lobpreisen. Es heißt, nur die Freude und Schönheit des Lebens, die Herrlichkeit Gottes zu kosten. [MS 5) 54f., 25]

… Hände reden. Sie können aber auch horchen.

Das hat mich Sen Soshitsu gelehrt, der Groß-Teemeister Japans, dessen Urahne Sen Rikyu, im 16. Jahrhundert der Teezeremonie ihre klassische Form gab.

In einer vornehmen Privatwohnung in New York wurde das Ehepaar Sen an jenem Abend mit einem Empfang geehrt. Man wollte den Gästen aus dem Osten das Beste westlicher Kultur darbieten. Ein berühmter Cembalist sollte auf einem Instrument spielen, das eigens für diese Gelegenheit ausgeliehen worden war.

Da stand es in seiner schlichten Schönheit, glänzend im Licht der vielen Kerzen, aber versperrt. Der Schlüssel zum Deckel der Tastatur war einfach unauffindbar.

Verwirrung, Geflüster, peinliche Stille.

Mit heiterer Gelassenheit geht Sen Soshitsu auf das Cembalo zu, lässt seine Hand bewundernd über das seidige Holz gleiten.

Völlig gesammelt scheint er dankbar zu sagen:

«Ist das nicht schon mehr als genug?»

Dann lächelt er, und alle atmen auf.

Alle nur mögliche Musik war aus dem Instrument durch seine horchende Hand in dieses Lächeln gestiegen und darin Wirklichkeit geworden. [AH 1-2) 73f.; 3-5) 72f.

Mit etwas Schönem tritt unser ganzes Wesen in Resonanz, so wie vielleicht ein kristallener Lampenschirm jedes Mal klirrt, wenn man auf dem Klavier ein Cis-Dur anschlägt.

Wenn dieses Gefühl der Resonanz (oder unter anderen Umständen der Dissonanz) unsere Interaktion mit der Welt bestimmt, sprechen wir von Emotionen.

Wie freudig treten die Emotionen mit der Schönheit unserer mystischen Erfahrung in Resonanz!

Je stärker sie anschlagen, desto intensiver genießen wir diese Erfahrung. Es kann dann sein, dass wir uns noch nach vielen Jahren genau an den entsprechenden Tag und die Stunde erinnern.

Vielleicht gehen wir dann wieder zu der Gartenbank, auf der uns der Gesang einer Drossel ganz hingerissen hatte.

Auch wenn wir diesen Vogel womöglich nie mehr hören, kann uns das trotzdem zum Ritual werden, und damit ist dann eine Art von Pilger-Ritual an einem für uns ganz persönlichen heiligen Ort entstanden.
[Auf dem Weg der Stille (2016), 137f.]

_________________________

[1] Einsichten aus Rilkes Dichtung mit Bruder David in Flüeli-Ranft / CH:
Die den Kurs begleitenden Gedichte (2014), 7, siehe auch AH 1-2) 47f.; 3-5) 45-47]



Quellenangaben

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