Text von Br. David Steindl-Rast OSB

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Sobald wir aufwachen und nicht mehr alles als selbstverständlich erachten, glimmt zumindest ein Fünkchen von Staunen, der Beginn von Dankbarkeit in uns.

Dankbarkeit aber muss sich ausdrücken.

Wir kennen das unangenehme Gefühl, das mit einem anonymen Geschenk einhergeht. Wenn ich eines erhalte und nicht weiß, wem ich nun danken soll, dann drängt es mich den ganzen Morgen lang, jedem, der mir über den Weg läuft, so etwas wie Dank zu äußern, einfach um mein eigenes Bedürfnis danach zu befriedigen.

Und während ich meinen Dank ausdrücke, wird er mir immer mehr bewusst.

Und je größer meine Bewusstheit, desto größer mein Bedürfnis, ihn auszudrücken.

Was hier geschieht, ist ein spiralförmiges Ansteigen, ein Wachstumsprozess immer weiterer Kreise um ein ruhendes Zentrum herum, eine Bewegung, die immer tiefer in die Dankbarkeit führt.

Ebenso ist es mit Gebeten.

Als Ausdruck unserer Andächtigkeit verstärken Gebete unsere Andacht. Und jene größere Andächtigkeit bedarf wiederum des Ausdrucks in Gebeten.

Vielleicht haben wir anfänglich nicht viel vorzuweisen, aber die Spirale dehnt sich entsprechend ihrer eigenen inneren Dynamik solange aus, wie wir beteiligt bleiben.

Ein hervorragendes Abbild dieser dynamischen Wachstumsentwicklung ist die Nautilusmuschel.

Ich kann an keiner Muschelausstellung vorbeigehen, ohne nach einer dieser faszinierenden Muscheln zu suchen. Besonders begeistern mich jene Exemplare, die in zwei Hälften geschnitten wurden, um die ganze Reihe leerer Kammern mit ihren Innenwänden aus Perlmutt zu zeigen. Irgendwo im Südpazifik oder im Indischen Ozean baute sich eine Molluske diese großartige Muschelschale um ihren Körper.

Und als dieses geheimnisvolle Meerwesen immer größer wurde, wanderte es von einer Kammer zur nächsten, löste sich von der alten, zu klein gewordenen, um zur nächsten, größeren überzusiedeln.

Aber schon bald war auch diese neue zu klein geworden und zwang seinen Erbauer und Bewohner dazu, weiterzubauen und umzusiedeln.

 Year after year beheld the silent toil   Jahr für Jahr beäugte das schweigende Mühen
 That spread his lustrous coil;   sein strahlendes Gewölbe auszubauen.
 Still, as the spiral grew,   Und weiter wuchs die Spirale.
 He left the past year's dwelling for a new,   Er ließ das Heim vom vorigen Jahr für ein neues zurück, 
 Stole with soft step its shining archway through,   Wanderte heimlich durch seinen glänzenden Bogengang, 
 Build up its idle door;   Verbaute hinter sich die jetzt nutzlose Pforte, 
 Stretch'd in his last-found home, and knew the old no more.   Dehnte sich aus im neugefundenen Heim und vergaß das alte. 


Diese Zeilen stammen aus einem Gedicht von Oliver Wendell Holmes, «The Chambered Nautilus».

Der Dichter dankt unserer kleinen weichen Muschel, jenem «Kind der ewigen See» für seine Botschaft, die in den längst verlassenen Kammern immer noch widerhallt.

Eine «himmlische Botschaft» nennt sie der Dichter, denn sie erzählt vom Wachsen auf ein höchstes Ziel hin.

Von der Botschaft sagt er:

While on mine ear it rings   Während sie in meinem Ohr nachklingt
Through the deep caves of thought I hear a voice that sings:                 Höre ich durch die tiefen Gedankenhöhlen hindurch eine singende Stimme:
‒ Build   ‒ Baue
Build thee more stately mansions, O my soul,   Baue dir erhabenere Gebäude, meine Seele,
As the swift seasons roll!   Während die Jahreszeiten dahinfliegen!
Leave thy low-vaulted past!   Verlasse deine flachgewölbte Vergangenheit!
Let each new temple, nobler than the last,   Jeder neue Tempel, vornehmer als der vorige,
Shut thee from heaven with a dome more vast,   Soll dich mit höheren Kuppeln vom Himmel schirmen
Till thou at length art free,   Bis du zuletzt befreit
Leaving thine outgrown shell by life's unresting sea!   Die Muschel, der du entwachsen, an des Lebens müheloser See zurücklässt.


[FN 1) 44-46; 2-5) 46-48; 6) 48-51; die deutsche Übersetzung des Gedichts ist dieser Ausgabe entnommen]

[Ergänzend:

Dankbarkeitsspirale]



Quellenangaben

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