Text von Br. David Steindl-Rast OSB

naechstenliebe titelCopyright © - Barbara Krähmer

Im Lukasevangelium ist ein Gespräch über die Nächstenliebe. Jemand hatte die Frage gestellt:

«Wer ist denn mein Nächster?»

Jesus hatte offensichtlich den Unterton dieser Frage herausgehört: «Ich möchte doch um Gottes willen nicht aus Versehen jemandem Liebe erweisen, der dem Buchstaben des Gesetzes nach gar nicht mein Nächster ist!»

Ich meine fast zu spüren, wie Jesus das Schmunzeln unterdrücken musste, als er zu erzählen begann:

«Da geht ein Mann auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho ...»

Und nun merke: Das bist du!

Das darfst du beim Hören oder Lesen dieses Gleichnisses nicht vergessen. (Bei amüsanten Erzählungen mit einer verblüffenden Pointe muss man sich nämlich mit der Person identifizieren, die als Erste genannt wird, sonst zündet die Pointe nicht.)

Du selbst bist also jetzt zu Fuß in einer für ihre Räuber berüchtigten Gegend unterwegs. Tatsächlich wirst du ‒ überfallen und verprügelt; man raubt dich aus, reißt dir sogar die Kleider vom Leib und lässt dich halb tot liegen. Du bist zwar halb tot, aber doch noch halb lebendig. Das ist wichtig, denn du musst ja mit ansehen können, was sich weiter ereignet. Ich erzähle dir das ja nicht aus der Vogelperspektive, sondern so, wie der arme Kerl es erlebt, der dort liegt ‒ und der bist du.

Du liegst also zusammengeschlagen am Straßenrand und siehst jemanden kommen.

«So ein Glück, da kommt mein Nächster», denkst du dir und fühlst dich schon besser. Es geht ja hier um die Frage «Wer ist mein Nächster?»

Dir geht auf: Wenn ich in Not bin, ist das gar keine Frage mehr.

Nun weiß aber leider dieser andere hier nicht, dass er dein Nächster ist ‒ oder er will es nicht wissen ‒ er macht einen Bogen um dich und geht vorbei.

Du bekommst noch eine zweite Chance. Da kommt wieder jemand. «Das ist aber jetzt bestimmt mein Nächster», denkst du voller Hoffnung.

Du kennst ihn nicht, aber dein Common Sense  sagt dir, dass er dein Nächster ist.

Leider macht auch dieser gute Mann einen Bogen um dich und verschwindet.

Aber gib noch nicht auf; in einer Erzählung dieser Art ereignet sich etwas immer dreimal.

Und wirklich, endlich, gerade als du den Mut verlierst, taucht dort in der Kurve ein dritter Anwärter auf den Titel «Nächster» auf.

Diesmal ist es kein Einheimischer, sondern ein Samariter. Widerwärtig! Für einen Juden ‒ und der bist du hier ja ‒ ist es unvorstellbar, in einem Samariter seinen Nächsten zu sehen.

Aber jetzt hat der Lauf der Erzählung dich schon so weit gebracht, dass du bereit bist, sogar so einen «stinkenden Ausländer» freudig als deinen Nächsten anzuerkennen, wenn er nur auch in dir seinen Nächsten sieht und dir hilft. Und tatsächlich: Das tut er.

Common sense, Gemeinsinn, prallt hier mit öffentlicher Meinung zusammen und siegt.

Mit einem Schmunzeln fragt Jesus:

«Welcher von diesen Dreien war also dem der Nächste, der unter die Räuber fiel?»

«Jener, der ihm Barmherzigkeit erwies», antwortet der Mann, der gefragt hatte, wer eigentlich sein Nächster sei.

Dass es ausgerechnet der Samariter war, sagt er lieber nicht.

Die Gleichnisse sind also keineswegs zahme Erbauungsgeschichten, sondern enthalten solche nicht ungefährliche Pointen, mit denen Jesus sich über die öffentliche Meinung lustig machte: Willst du wirklich wissen, wer dein Nächster ist? Warte nur, bis du in Not kommst, dann sagt es dir ganz unerwartet dein Common Sense!

Dann kannst du ganz selbstverständlich sogar in einem verachteten Ausländer deinen Nächsten erkennen, ein Mitglied der Menschheitsfamilie.

Warum aber werden die Grenzen deines Selbstverständnisses plötzlich so eng, wenn statt deiner andere in Not sind?

Deutlich ausgeprägt sind die drei Schritte des typischen Gleichnisses: Zuerst die Frage:

«Wem von euch sagt nicht bereits sein Common Sense, wer sein Nächster ist?»

Die Situation des Raubüberfalls führt die Dringlichkeit einer Antwort vor Augen. Dann die einzig folgerichtige Antwort:

«Wir alle wissen das ‒ besonders, wenn wir in Not sind.»

Und schließlich verblüffend die Pointe: «Wenn das so selbstverständlich ist, warum handelst du Dummkopf dann nicht danach ‒ besonders, wenn ein anderer in Not ist und dich braucht?»

Wir brauchen nur den Samariter durch einen Asylbewerber zu ersetzen und schon müssen wir über uns selbst und über unsere eigene innere Enge den Kopf schütteln.

Wenn man den Samariter bereits im Titel des Gleichnisses als «barmherzig» bezeichnet, nimmt man die Pointe natürlich vorweg und sie zündet nicht mehr.[1]

Für die Zuhörer Jesu gab es so etwas wie einen «barmherzigen Samariter» überhaupt nicht. Samariter waren als solche grundsätzlich schlecht und Feinde.

Wenn wir das übersehen, bleibt vom ursprünglichen Klang der Geschichte nicht mehr viel übrig.

Betrachten wir dagegen den Verlauf der Erzählung nicht als objektive Reportage, sondern als Augenzeugenbericht des Opfers, mit dem wir uns identifizieren, dann packt uns plötzlich die Autorität des Common Sense und wir wissen, wer unser Nächster ist. [Common sense (2014): «Der ‹Common Sense› in den Gleichnissen Jesu», 47-51]

[Ergänzend:

1. Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 188f.:

Bruder David: «Ich bin auf eine hübsche moderne Version dieses Gleichnisses gestoßen. Als ich einer Gruppe in Neuseeland dasselbe wie hier erzählte, meldete sich eine Ordensschwester zu Wort und sagte: ‹Genau das ist mir passiert. Ich bin vor nicht allzu langer Zeit mit dem Auto von Auckland nach Hamilton gefahren und wurde unterwegs entsetzlich müde. Plötzlich bemerkte ich, wie mein Auto auf der falschen Straßenseite fuhr. Ich hielt sofort an und rollte auf den Randstreifen (mit der Wagenfront in die falsche Richtung)›.

Ich sagte mir: ‹Jetzt werde ich erst einmal ein bisschen schlafen. In diesem Zustand zu fahren ist zu gefährlich.›

Als ich aufwachte, klopfte jemand gegen das Wagenfenster. Noch schlaftrunken und entgegen allen Vorsichtsmaßregeln kurbelte ich es hinunter. Draußen stand ein Mann mit einer Lederjacke und sagte: ‹Alles in Ordnung, meine Liebe? Rutschen Sie mal auf den Nebensitz, Sie stehen auf der falschen Straßenseite.›

In meiner Verwirrung rutschte ich hinüber. Er stieg ein, brachte das Auto auf die richtige Straßenseite und sagte: ‹Mir scheint, Sie sind in keiner guten Verfassung. Wo wollen Sie denn hin?› ‹Nach Hamilton›, sagte ich. ‹Okay, wir werden Sie begleiten.› Und so wurde ich ‒ eine Nonne in Tracht ‒ nach Hamilton eskortiert, von einer Rockerbande auf Motorrädern.»

2. Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018), 146f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 147f.]:

«Es ist das Konzept des Selbst, das sich ausdehnt, wenn wir schließlich verstehen, was Liebe wirklich bedeutet.

Die gegenwärtige Vorstellung von Liebe identifiziert unser Selbst mit unserem kleinen individualistischen Ich. Dieses kleine Ich übersetzt ‹Liebe deinen Nächsten wie dich selbst› in eine unglaubliche Folge geistiger Saltomortale.

Schritt eins: Stelle dir vor, du seist jemand anders.

Schritt zwei: Sieh zu, dass du leidenschaftliche Anziehung für jeden anderen zuwege bringst, der du eigentlich selber bist.

Schritt drei: Versuche für jemand, der wirklich jemand anders ist, die gleiche leidenschaftliche Anziehung zu empfinden, die du für dich selbst empfunden hast (sofern das der Fall war), als du dir vorstelltest, du seist jemand anders.

Ist das nicht ein bisschen viel verlangt?

Und doch ist das Gebot, richtig verstanden, so einfach: ‹Liebe deinen Nächsten als (wie) dich selbst.›

Es heißt: Erkenne, dass dein Selbst nicht auf dein kleines Ich begrenzt ist.

Dein wahres Selbst bezieht deinen Nachbarn mit ein. Ihr gehört zusammen ‒ und zwar radikal zusammen.

Wenn du weißt, was Selbst bedeutet, dann weißt du, was Zusammengehören bedeutet. Es ist nicht weiter anstrengend, zu dir selbst zu gehören. Ganz spontan sagst du in deinem Herzen ‹Ja› zu dir selbst.

Im Herzen aber bist du eins mit allen anderen.

Dein Herz weiß, dass dein wahres Selbst deinen Nächsten einbezieht.

Liebe bedeutet, dass du mit ganzem Herzen zu diesem wahren Selbst ‹Ja› sagst ‒ und dann entsprechend handelst.»

3. Spiritualität im Alltag in Dienten (1994):

Vortrag
(21:52) Das Gebot der Gottesliebe und‚ liebe deinen Nächsten als dich selbst‘

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[1] Das Gleichnis in Lk 10,29-37 ist allgemein bekannt als «Gleichnis vom barmherzigen Samariter».



Quellenangaben

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