Text, Audios und Film von Br. David Steindl-Rast OSB

liebe titelCopyright © - Barbara Krähmer

Liebe ist ein häufig missverstandenes Wort.

Wir müssen also damit beginnen, klarzustellen, was wir hier unter Liebe verstehen: kein Gefühl, sondern eine Haltung, nämlich das gelebte «Ja!» zur Zugehörigkeit.

Freilich ist damit ein weites Spektrum von Gefühlen verbunden: romantische Liebe, Tierliebe, Mutterliebe, Liebe zur Kunst, Vaterlandsliebe, bis hin zur Feindesliebe.

Es gibt viele Grade und Arten der Zugehörigkeit, die ausgelösten Gefühle sind also höchst vielfältig. Auf jede der erwähnten Formen aber trifft unsere Definition zu: Liebe ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit.

Viele Menschen meinen, das Gegenteil von Liebe sei Hass. Dass das ein Irrtum ist, lehrt uns die Erfahrung: In stürmischen Liebesbeziehungen können wir hin und her gerissen werden zwischen Wohlwollen und Hass, zwei Polen der einen Zugehörigkeit, von der wir nicht loskommen.

Hass und Wohlwollen sind Gegenpole innerhalb von Liebe, das Gegenteil von beiden aber ist Gleichgültigkeit. Was mir gleichgültig ist, geht mich nichts an – so meinen Gleichgültige. Das ist aber ein Irrtum, denn alles geht mich an, weil alles mit allem zusammenhängt. Mein Ich ist ein Knotenpunkt in einem grenzenlosen Netzwerk von Beziehungen.

Gleichgültigkeit dagegen ist blind für Zugehörigkeit und verfällt daher in die Illusion von Unabhängigkeit und Vereinzelung. Diese Entfremdung führt dann zu Verunsicherung und Furcht vor dem Leben, denn nur durch Zugehörigkeit zu meiner Mitwelt kann ich mich sicher, geborgen und zuhause fühlen. Gleichgültigkeit führt also durch Entfremdung zu Furcht; Liebe führt zu jenem Daheimsein in der Welt, das alle Menschen ersehnen.

Das Ja zu grenzenloser Zugehörigkeit können wir nur lebendig verwirklichen, wenn wir dem Leben vertrauen. Liebe wurzelt also im Lebensvertrauen.

Was uns das Vertrauen in das Leben so schwer macht, sind die Engpässe unseres Lebenslaufes, die uns immer wieder Angst machen.

Furchtloses Vertrauen aufs Leben – trotz unserer Ängste – lässt sich erlernen.

Im Idealfall lehren Eltern es Kindern, indem sie sich vertrauenswürdig erweisen – also da sind, wenn die Kinder sie brauchen – und den Kindern Vertrauen schenken, anstatt sie beständig zu überwachen.

Auch Erwachsene können Lebensvertrauen noch erlernen, wenn andere ihnen auf diese zweifache Weise beistehen:

Als Freunde müssen wir verfügbar sein, wenn sie uns brauchen, zugleich aber ihr Selbstvertrauen unterstützen.

Und wenn wir dem Leben vertrauen, können wir das bedingungslose Ja zur Zugehörigkeit verwirklichen, das Ja zu unserer Vernetzung mit allem Leben, das Ja der Liebe.

Der Kreis der Zugehörigkeit wurde oft zu eng gezogen. Heute muss er nicht nur alle Menschen umfassen, sondern alle Tiere, Pflanzen, unsere Erde und das ganze Universum. In beiden, Ethik und Religion, geht es also letztlich um Liebe als das grenzenlose Ja zur Zugehörigkeit.

Die Antwort ist offensichtlich: Ja. Grenzenlose Zugehörigkeit grenzt ja auch Feinde nicht aus.

Von Feindesliebe kann aber nur die Rede sein, wenn sie Feinde bleiben.

Wer ernstlich für etwas eintritt, etwa für Umweltschutz, wird dadurch zum Feind derer, die sich dem entgegenstellen.

Feindschaft wird aber durch Liebe völlig verwandelt.

Klare und scharfe Opposition schließt persönliches Wohlwollen nicht aus; das Ja der Liebe, das Ja zur Zugehörigkeit ist ein wohlwollendes Ja.

Es fordert, dass wir uns bemühen, unsere Gegner mit ihren Anliegen, Befürchtungen und Hoffnungen zu verstehen; dass wir Gemeinsamkeiten suchen und auf ihnen aufbauen; dass wir trennende Meinungen weniger wichtig nehmen als das verbindende Bemühen, gemeinsame Probleme zu lösen; und dass wir noch so entschiedenen Widerstand mit persönlichem Wohlwollen verbinden.

Selbstmörderische Gewalttätigkeit, mitleidlose Rivalität, Habsucht, Geiz und Neid kennzeichnen daher die 6.000 Jahre alte Furchtpyramide, die heute vor unseren Augen ins Wanken gerät.

Aber wo immer sich Zeitgenossen von Furcht zu Lebensvertrauen bekehren, da wird aus Gewalttätigkeit Gewaltfreiheit,
aus Rivalität Zusammenarbeit
und aus Habsucht freudiges Teilen;
Pyramiden verwandeln sich in Netzwerke.

Zu dieser Geisteshaltung mögen folgende Zeilen des Dichters Christian Morgensterns anregen:

«Liebet das Böse gut, lehren tiefe Seelen,
lernt am Hasse stählen Liebesmut.»

Alle Krisen unserer Zeit sind Vertrauenskrisen, die letztlich aus Mangel an Lebensvertrauen entspringen. Nur wer sich dem Leben anvertraut, kann – nach allem, was wir hier erwogen haben, das Ja der Liebe sprechen. Aber das Ja der Liebe will nicht nur gesprochen, sondern gelebt werden – es muss sich im Alltag ganz konkret in unserem Tun bewähren.
[Liebe - die Antwort auf die Krisen unserer Zeit (2017)]

[Ergänzend:

1. LIEBE, in: Orientierung finden (2021): Das ABC der Schlüsselworte, 147:

«Liebe ist mehr als ein Gefühl. Sie ist eine Haltung, die alle Bereiche unseres Wesens zum Mitschwingen bringt. Wenn unsere Emotionen stark mitschwingen wie bei Verliebten, so wird Liebe zu einem Hochgefühl der Lebendigkeit. Bei Feindesliebe ist das Gefühlsmoment keineswegs bedeutsam.»

2. LIEBE, in: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)]: Kapitel «Liebe: Ein ‹Ja› zur Zugehörigkeit» und Schlüsselbegriffe am Ende des Buches: «Liebe» und «Zusammengehören»:

«‹Wenn du mit deinem ärgsten Feind im selben Boot sitzt, wirst du dann ein Loch in seine Seite des Bootes bohren?» (Elissa Melamed)

3. Unsere Feinde lieben? Vielleicht ist dies unser einziger Ausweg (2017):

«Als ich aus der Zelle durch die Tür in Richtung Freiheit ging, wusste ich, dass ich meine Verbitterung und meinen Hass zurücklassen müsste, oder ich würde mein Leben lang gefangen bleiben.» (Nelson Mandela)

4. Die meisten Menschen würde ich als Schlafwandler bezeichnen (2017):

«Aber diese Achtung und dieses ‹Ja› zur Zugehörigkeit muss ich auch einem Menschen gegenüber erweisen, der mein Feind ist und dessen Feind ich bleibe. Das nimmt den Stachel aus der Feindschaft heraus.»

5. Immer tiefere Wurzeln in der Liebe: ein Gebet (1995)

6. Audio: So leben wir und nehmen immer Abschied (2009):

(46:13) Alle unsere Schmerzen werden Wachstumsschmerzen ‒ ‚Oh, dass es auch du erkannt hättest‘ (Lk 19,42) ‒ Alles wird durchsichtig fürs Paradies ‒ ‚Der reine Bezug‘ ist die Liebe: ‚Die Liebe hemmet nichts; / Sie kennt nicht Tür noch Riegel‘ (Matthias Claudius)

7. Audio: Wie uns «dankbar leben» heil und gesund macht (2011) und Transkription (S. 2) des Vortrags:
(00:00) Freudig lebendig, gesund und heil in Beziehungen. Liebe: Das gelebte Ja zur Zugehörigkeit

8. Ausschnitt aus dem Film: Was am Ende wirklich zählt (2022) und Transkription (S. 8f.):

(23:41) David Steindl-Rast: «Das Stop ‒Look ‒ Go ist auch ein Aufwachen, ist ein Prozess des Aufwachens und des wachen Tuns. Und du hast auch völlig recht, dass das alles mit Liebe zu tun hat. Nur verwende ich das Wort Liebe sehr vorsichtig, weil es so viele Missverständnisse darüber gibt.

Wenn ich Liebe sage, meine ich das gelebte Ja zur Zugehörigkeit und wenn man genau hinschaut, sieht man, dass sich das eigentlich ‒ so wie eine Definition ‒ auf alle Formen der Liebe anwenden lässt.

Es ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit.

Wenn wir das üben ‒ das ist natürlich das Entscheidende am ganzen Leben ‒ die Liebe ist das Entscheidende.

Ein großer Denker ‒ Otto Maurer, ein Wiener Priester, Mitte des 20. Jh., hat das wunderschön ausgedrückt:

‹Der Mensch stirbt nicht am Tod, sondern an ausgereifter Liebe›.

Also das ist die Aufgabe des ganzen Lebens: die Liebe ausreifen zu lassen.

Alle Beziehungen, Zugehörigkeit, ausreifen zu lassen.»

Isha Johanna Schury: «Bruder David, wenn du sagst, die Liebe ist das Ja zur Zugehörigkeit, existiert Liebe dann ausschließlich im Wir ‒ wohnt Liebe in der Gemeinsamkeit … oder kann ich sie trennen? Wahrscheinlich nicht.»

David Steindl-Rast: «Zur Liebe gehören mindestens zwei, aber wenn es wirklich Liebe ist, dann ist es niemals begrenzt.

Oder es grenzt nicht aus.

Die Form und auch die Intensität des Gefühls usw., das ist natürlich ganz verschieden, ob ich jetzt meinen Hund liebe, oder meine Braut oder mein Vaterland. Das sind schon recht verschiedene Formen der Liebe.

Aber in allen Teilen ‒ und das ließe sich auf jede Form anwenden ‒, geht es darum, ein gelebtes Ja zu sagen, es nicht mit dem Mund zu sagen, sondern mit dem Leben zu sagen, ein Ja: Wir gehören zusammen und wir sind letztlich eins.

Also, jede Liebe zielt letztlich auf die größte Gemeinschaft und das ist nicht einmal nur die menschliche Familie, die Menschheit, sondern die Tiere gehören dazu, die Pflanzen gehören dazu, es ist eine kosmische Gemeinschaft.

Die ist, wo immer wir Liebe wirklich üben ‒ ich wollte sagen: fühlen, aber fühlen ist viel zu wenig ‒, es ist ein Üben, ein Tun, das Leben, das Ja sagt zur Zugehörigkeit.

Wenn wir Liebe leben, dann sind wir immer auch durch die kleine Pforte, auf die sich unsere gerade bezieht, sind wir durch diese kleine Pforte auf das ganze Universum bezogen und auf das große Geheimnis, das hinter allem steht oder in allem zum Ausdruck kommt.»]



Quellenangaben

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