Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

sterben lernen titelCopyright © - Klaudia Menzi-Steinberger

Der beste Ausgangspunkt für jedes Gespräch, auch für eines über den Tod, ist der Punkt, an dem man sich selbst befindet. Für mich ist der Ausgangspunkt der eines Benediktiner-Mönchs. Gemäß der Regel des Heiligen Benedikt ist das memento mori eine grundlegende Lebenshaltung: als Mönch leben heißt „den Tod allzeit vor Augen haben“.[1] Als mir zum ersten Mal die Benediktinerregel in die Hände fiel, war dies der Schlüsselsatz, der mich am meisten beeindruckte und anzog. Darin lag die Herausforderung, das Bewusstsein des Sterbens in mein tägliches Leben hineinzunehmen, denn darum geht es hier. Es handelt sich nicht in erster Linie darum, an die letzte Lebensstunde zu denken, also an den Tod als ein physisches Phänomen; die Herausforderung besteht vielmehr darin, jeden Moment des Lebens vor dem Horizont des Todes zu sehen, das Wissen um das Sterben und Vergänglichkeit in jeden Augenblick des Lebens hineinzunehmen, um dadurch erst wirklich lebendig zu werden.

Ich fand später, dass diese Haltung - manchmal ausdrücklich, manchmal implizit -, in allen spirituellen Traditionen geübt wird, mit denen ich in Berührung kam. Im Zen-Buddhismus ist sie sicher sehr stark ausgeprägt, sie findet sich aber auch im Hinduismus und im Sufismus. [Sterben lernen (2005)]

Für viele heutige Menschen ist das ein wichtiges Anliegen: ein würdevoller Tod, ein Tod, der den Kreis unseres Lebens schließt und ein vollständiges Ganzes daraus macht, und nicht bloß Auflösung ist.

Wir befürchten, dass der Tod uns wie ein Dieb in der Nacht überfällt, bevor wir überhaupt Gelegenheit hatten zu leben. Diese Furcht ist dann am größten, wenn wir nicht im Augenblick leben. Wenn wir nicht herausfinden, wie wir im Jetzt leben können, ängstigt uns der Tod, weil wir in unserem Leben nie richtig da waren. Wir haben es verpasst, und jetzt ist es plötzlich vorbei.

Je intensiver wir leben, desto leichter ist es, loszulassen und zu sterben. Mönche lernen, sich den Tod jederzeit vor Augen zu halten. An den Tod zu denken heißt nicht, sich ständig mit dem Tod zu beschäftigen. Es heißt, dass hier und jetzt Gelegenheit ist, uns mit dem Leben zu beschäftigen. Carlos Castaneda berichtet in einem seiner Bücher, dass Don Juan zu ihm sagte: «Du bist so launisch, und du bist nicht wirklich lebensfroh, weil der Tod nicht dein Berater ist. Du glaubst, dass du ewig leben wirst.»

Wenn wir uns eingestehen, dass jeder Tag ein Ende hat, dass jedes Leben ein Ende hat, so heißt das, dass wir der Aufforderung nachkommen, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und etwas aus diesem Tag, aus diesem Leben zumachen. Wenn wir etwas aus diesem Tag gemacht haben, werden wir auch loslassen können. [ST 134f., Quelle: [ST 134f., Quelle: MS 5) 108f.]

Das ist der springende Punkt: Wenn wir uns hingeben an die Wirklichkeit, wie sie auch immer sei, dann sind wir im Fluss des Lebens. Wir halten das fließende Leben nicht an, wir versuchen nicht, es zu halten und zu besitzen, sondern wir lassen los, und alles wird lebendig, sobald wir es lassen. Wenn wir eine Blume abschneiden, ist sie nicht länger lebendig. Wenn wir Wasser aus dem Fluss nehmen, ist es nur noch eine Schale voll Wasser und nicht mehr der strömende Fluss. Wenn wir Luft in einen Ballon füllen, ist sie nicht mehr Wind. Alles was fließt und lebt muss genommen und gegeben werden zur selben Zeit - genommen mit einer sehr, sehr leichten Berührung. Hier spielen wir wieder das Geben und Nehmen nicht gegeneinander aus, sondern lernen die beiden angesichts von Leben und Tod in ein richtiges Verhältnis zu bringen.

Ich erinnere mich an eine Geschichte, die mir von einer jungen Frau erzählt wurde, deren Mutter nahe am Sterben war.[2] Sie fragte sie: „Mutter, hast du Angst vor dem Sterben?“, und ihre Mutter antwortete: „Ich habe keine Angst, aber ich weiß nicht, wie ich es machen soll“. Die Tochter, durch die Antwort überrascht, legte sich aufs Sofa und überlegte, was sie selbst tun würde in dieser Situation, und dann ging sie zu ihrer Mutter und sagte: „Mutter, ich glaube, du musst dich einfach hingeben“. Ihre Mutter gab keine Antwort, aber kurz darauf sagte sie: „Mache mir eine Tasse Tee und mache es genau so, wie ich es gerne mag, mit viel Sahne und Zucker, denn es wird meine letzte Tasse Tee sein. Ich weiß jetzt, wie ich sterben kann.“

Sind wir aufrichtig mit jemandem befreundet, müssen wir diesen Freund immer wieder lassen um ihm Freiheit zu geben, wie eine Mutter, die ihr Kind unablässig freigibt. Gibt die Mutter das Kind nicht frei, kann es schon gar nicht geboren werden; es stirbt im Mutterleib. Aber auch nach der physischen Geburt, muss das Kind immer wieder freigegeben und losgelassen werden. Viele Schwierigkeiten, die wir mit unseren Müttern haben, und die unsere Mütter mit uns haben, kommen daher, dass sie uns nicht gehen lassen können; und offensichtlich ist es viel schwieriger für eine Mutter, einem Teenager das Leben zu schenken als einem Baby. Doch ist dieses Auf-Geben nicht auf Mütter beschränkt; wir müssen uns alle gegenseitig bemuttern, egal ob wir Männer oder Frauen sind. Ich denke, Bemuttern ist in dieser Hinsicht wie Sterben; es ist etwas, das wir unser ganzes Leben hindurch tun müssen. Und immer, wenn wir einen Menschen oder einen Gegenstand oder einen Standpunkt aufgeben, wahrhaft aufgeben, dann sterben wir ‒ ja, aber wir sterben hinein in eine größere Lebendigkeit. Wir sterben hinein in die Einheit mit dem Leben. Nicht zu sterben, nicht aufzugeben heißt, dass wir uns von diesem freien Lebensstrom ausschließen. [Sterben lernen (2005)]

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[1] Wegweisend für Bruder David «Den unberechenbaren Tod täglich vor Augen haben» (RB 4,47), siehe (34) Lebendig sein ‒ den Tod allzeit vor Augen haben (Fest des hl. Benedikt), aus: DVD-Vortrag 2006 – Der Atem der Stille, Mystik heute – Die christlich-buddhistische Begegnung

[2] «Wähle das Leben» (5. Mose 320,19) ‒ Überlegungen zu Tod, Sterben, Leben: Gespräch Teil 1



Quellenangaben

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