Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

sterben titelCopyright © - Klaudia Menzi-Steinberger

Freudig zu leben ‒ darum geht’s uns allen, auch wenn wir glauben, wir müssen uns unglücklich machen, um wirklich freudig zu leben ‒ das gibt es, nicht so selten der Fall ‒, das Ziel ist doch immer, freudig zu leben.

Um wirklich freudig zu leben, müssen wir auch mit dem Sterben auskommen. Das Sterben gehört zum Leben dazu und wir müssen irgendwie auch unser Sterben verstehen.

Sterben lernen heißt leben lernen und leben lernen heißt sterben lernen.

Und da können wir jetzt einen anderen Ansatz machen ‒ wir werden sofort sehen, wie eng die beiden verbunden sind ‒, und zwar können wir wieder der Sprache nachforschen und sehen, dass wir sagen: Ich habe einen Leib. Das ist eine sehr sonderbare Feststellung. Wer hat denn diesen Leib? Wer sagt denn das? Das ist ein Leib, der das sagt; wenn er keinen Mund hätte, könnte er es nicht sagen: Ich habe einen Leib. Ist da so ein Kleiner irgendwie, der da drinnen sitzt und einen Leib hat. Sonderbare Situation:
Ich bin ein Leib, der da sagt, ich habe einen Leib. Und das ist das Geist Materie Problem, auf das wir auch immer wieder stoßen.

In unserem Selbst, weil wir eben in diesem Doppelbereich von Materie und Geist leben, kennen wir etwas, was nicht gemessen und nicht geteilt werden kann, und alles, was materiell ist, kann gemessen und geteilt werden. Aber unser Selbst kann nicht gemessen und nicht geteilt werden. Es ist Eines. Und das kennen wir.

Wir kennen es nur von innen ‒ und das ist der Unterschied ‒ und nicht von außen. Von außen kennen wir die Dinge, die geteilt und gezählt werden können. Es gibt eben verschiedene Perspektiven. Und die Geist Perspektive ist eine Erste-Person-Einzahl Perspektive. Von innen her erleben wir das.

Ken Wilber, mit dessen Werk sicher viele von ihnen vertraut sind, hat das ja sehr eingehend und am besten von allen, die darüber schreiben, dargestellt, dass wir immer, was er die Quadranten nennt, beobachten müssen. Also wir müssen beobachten: In welcher Perspektive sprechen wir jetzt? Und über den Geist können wir nur in der ersten Person sprechen. Über die Materie in der dritten Person.

(33:58) Und jetzt leben wir in diesem Doppelbereich: Wir sind Leib und haben Leib. Und das ist die Aufgabe in unserem Leben. Und worum geht es im Leben? Worum geht es? Mit einem Wort: Um Erfahrung oder um Reife, um reif werden.

Was immer für ein Wort wir finden, wir merken, dass im Bereich der Materie ‒ also im Bereich unseres Leibes ‒ ein anderer Vorgang sich abspielt im Leben als im Bereich des Geistes.

Im Bereich des Leibes, der Materie, nehmen wir teil in dem Leben, das wir überall rund um uns beobachten können auch von außen her, und das ist, was Goethe das große «Stirb und Werde» nennt:[1]

Es beginnt mit einem Samen, es führt zu einer Geburt, es kommt zur Blüte, es treibt Früchte, es verwelkt, es stirbt. Und es bleibt vielleicht noch ein Same, der wieder aufwächst und wieder blüht und wieder Früchte trägt: Es ist dieses «Stirb und Werde.» Dem gehören wir an, dem gehört jede und jeder von uns an, weil wir eben im Bereich der Materie leben.

Im Bereich des Geistes geht es um etwas ganz anderes. Da geht es nicht um Entwicklung, sondern um etwas, was man Anreicherung nennen könnte.

Brigitte hat gestern schon in ihrem Vortrag auf das schöne Wort von Rilke hingewiesen, der sagt von uns Menschen:

«Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Wir heimsen den Nektar des Sichtbaren ‒ und das heißt, den Nektar des Sichtbaren und mit allen Sinnen Erfahrbaren: darum leben wir in dieser Körperlichkeit im Bereich der Materie ‒ Wir heimsen den Nektar des Sichtbaren in die große goldene Honigwabe des Unsichtbaren.»[2]

Und das ist der Bereich des Geistes. Das ist, was ich Anreicherung nenne und das kann niemand von außen beobachten, das können wir nur aus eigener Erfahrung, nur von innen her.

Dinge, die großartig von außen ausschauen, tragen vielleicht sehr wenig zu unserer Bereicherung innerlich bei. Und andere Kleinigkeiten, die sonst von außen kaum jemand bemerkt, können uns unglaublich Reichtum schenken.

Also, so wie wir im Bereich der Materie diesem «Stirb und Werde» angehören, so geht es im Bereich des Geistes um Erfahrungsreichtum: um Erfahrungsreichtum ansammeln.

Und wenn wir das sehen, dann haben wir schon einen Zugang, nicht nur zu dem, worum es im Leben geht ‒ eben in diesem Doppelbereich um zweierlei, das innigst miteinander verwoben ist ‒, sondern wir haben auch Zugang zu dem Sterben:

Das Sterben kann sich nur auf das Materielle beziehen.

Das, was nicht geteilt und nur innerlich erlebt werden kann, ist nicht diesem Sterben unterworfen.

Und das kann ein großer Trost sein, nicht was äußerlich Beweiskraft hat, aber etwas, das innerlich Trost und Stärke geben kann. Dass wir in diesen großen goldenen Honigwaben etwas ansammeln, was durch unser Sterben, das eben zum Leben gehört ‒ zum Leben gehört das Sterben ‒, überhaupt nicht betroffen wird, sondern eben: Sein ist über den Tod erhaben. Sterben ‒ Tod ist nicht das Gleiche. [Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog: Vortrag (2014), siehe auch Mitschrift 7-9]

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[1] «Und so lang du das nicht hast, / Dieses: Stirb und werde! / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde.»
(Johann Wolfang Goethe, Selige Sehnsucht)

[2] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014) 105-107. Br. David spricht in diesem Vortrag von Bereicherung, meint aber dasselbe wie Anreicherung.



Quellenangaben

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