Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

dankbark u opferritus titelCopyright © - Barbara Krähmer

«Ich werde oft gefragt, wie ein Buddhist die Frage: ‹Existiert Gott›? beantwortet.

Vor ein paar Tagen ging ich am Fluss entlang. Der Wind wehte. Plötzlich dachte ich: ‹Oh, die Luft existiert wirklich!› Wir wissen, dass die Luft da ist, aber solange uns nicht der Wind ins Gesicht weht, sind wir uns ihrer nicht bewusst. Vom Wind umweht, wurde mir plötzlich bewusst, dass sie wirklich da ist.

Genauso ist es mit der Sonne. Plötzlich nahm ich die Sonne wahr, die durch die kahlen Bäume schien. Ihre Wärme, ihre Helligkeit alles vollkommen frei, vollkommen gratis. Wir können sie einfach genießen. Und ohne es bewusst zu wollen, völlig spontan, legte ich die Hände gegeneinander und machte ‹gassho›. Da wurde mir klar, dass es nur darauf ankommt: dass wir uns verbeugen, tief verbeugen können. Nur das. Einfach nur das.»[1]

Wären wir in der Lage, diese elementare Dankbarkeit ständig zu empfinden, dann bräuchten wir nicht darüber zu sprechen, und viele der Widersprüche, die unsere Welt zerreißen, wären sofort aufgehoben. In unserer derzeitigen Situation mag es jedoch angebracht sein, davon zu sprechen. Es könnte uns zumindest helfen, die Erfahrung zu erkennen, wenn sie uns geschenkt wird, und uns den Mut geben, uns in die Tiefe der Dankbarkeit hinabsinken zu lassen.

Zunächst einmal sollten wir uns fragen: Was geschieht, wenn wir uns spontan dankbar fühlen? (Natürlich geht es uns hier um das konkrete Phänomen, nicht um irgendeine abstrakte Idee.) Zum einen spüren wir Freude. Freude liegt der Dankbarkeit zweifellos zugrunde. Aber es ist eine ganz besondere Freude ‒ eine Freude, die uns von einem anderen Menschen geschenkt wird. Meine Freude wird um etwas wesentliches erweitert, wenn ich spüre, dass jemand anders, ein anderer Mensch, sie mir schenkt.

Ich kann mich selbst mit einem köstlichen Mahl verwöhnen, aber meine Freude wird in diesem Fall eine ganz andere sein, als wenn jemand anders mich verwöhnt hätte (und sei es auch mit einem weniger exquisiten Essen). Ich kann mir selbst etwas gönnen, aber keine geistige Verrenkung wird mich in die Lage versetzen, mir selbst dankbar zu sein; hierin liegt der Unterschied zwischen der Freude, aus der Dankbarkeit entspringt, und jeder anderen Art von Freude.

Dankbarkeit bezieht sich auf eine andere Person. Wir können nicht im selben Sinne Dingen oder unpersönlichen Mächten, wie dem Leben oder der Natur, dankbar sein, es sei denn, wir empfinden sie auf irgendeine unklare Weise als menschlich, vielleicht als übermenschlich.

Kann sich Dankbarkeit nicht auf eine Person richten, schwindet sie. Woran liegt das? Dankbarkeit impliziert, dass mir die Gabe, die ich empfange, aus freien Stücken geschenkt wird, und jemand, der mir einen Gefallen tun kann, ist, per definitionem, eine Person.

Aber auch wenn mir jemand anders eine Freude bereitet, empfinde ich nur dann Dankbarkeit, wenn er es absichtlich getan hat. In dieser Hinsicht sind die meisten Menschen sehr empfindlich. Wenn wir in der Cafeteria ein ungewöhnlich großes Stück Kuchen erhalten, zögern wir wahrscheinlich einen Augenblick, und erst wenn wir die Möglichkeit ausgeschlossen haben, dass es eben ab jetzt größere Stücke gibt oder dass es sich um ein Versehen handeln könnte, interpretieren wir es als persönlichen Gefallen, der uns ein Lächeln für den Angestellten hinter der Theke wert ist.

In manchen Fällen lässt sich nur schwer entscheiden, ob uns eine Gefälligkeit auch wirklich persönlich zugedacht war, aber unsere Dankbarkeit hängt von dieser Interpretation ab. Zumindest muss die Gefälligkeit einer Gruppe gelten, mit der ich mich persönlich identifiziere. (Trägt man ein Mönchsgewand, dann geschieht es nicht selten, dass man ein größeres Stück Kuchen bekommt oder mit einer anderen unerwarteten Freundlichkeit bedacht wird ‒ noch dazu von Menschen, die einem völlig fremd sind und die man auch nie wiedersehen wird. Hier ist man in seiner Eigenschaft als Mönch persönlich gemeint.) Völlig anders ist es in der peinlichen Lage, in der jemand uns zulächelt ‒ oder wir meinen so ‒ um dann festzustellen, dass das Lächeln jemandem gilt, der hinter uns steht.

Wozu diese kleine Phänomenologie der Dankbarkeit? Soviel ist sicher: Dankbarkeit beruht auf der Einsicht, dass mir etwas Gutes widerfahren ist, das von einem anderen Menschen ausging, dass es mir aus freien Stücken geschenkt wurde und als Gefälligkeit gedacht war. In dem Augenblick, wo ich dies erkenne, empfinde ich spontan Dankbarkeit: «Je suis reconaissant» ‒ Ich erkenne, ich anerkenne, ich bin dankbar; im Französischen umfasst dieser eine Ausdruck alle drei Bedeutungen. Ich erkenne die besondere Qualität dieser Freude der Dankbarkeit: es ist eine Freude, die mir aus freien Stücken als Gefälligkeit zugedacht wurde. Indem ich ein Geschenk, das mir nur ein anderer aus freien Stücken geben kann, aus freien Stücken akzeptiere, erkenne ich meine Abhängigkeit an.

Ich bin dankbar und erlaube meinen Gefühlen, die Freude, die mir geschenkt wurde, voll auszukosten und zum Ausdruck zu bringen. So fließt die Freude ‒ durch die Dankbarkeit, die ich ausdrücke ‒ zu ihrer Quelle zurück. Aufrichtige Dankbarkeit nimmt den ganzen Menschen in Anspruch: Der Verstand erkennt das Geschenk als Geschenk; der Wille erkennt Abhängigkeit an; die Gefühle schwingen mit der Freude dieses Erlebnisses mit.

Der Intellekt erkennt: Ja, diese Freude ist wirklich ein Geschenk; der Wille erkennt an: Ja, es ist gut, meine Abhängigkeit zu akzeptieren; die Gefühle schwingen in Dankbarkeit mit und preisen die Schönheit dieses Erlebnisses. So findet das dankbare Herz, das im Wahren, Guten und Schönen die Fülle des Seins erfährt, durch Dankbarkeit seine Erfüllung. Deshalb ist ein Mensch, der nicht von Herzen dankbar sein kann, ein so beklagenswertes Geschöpf. Fehlende Dankbarkeit weist immer auf eine Störung im Bereich des Intellekts, des Willens oder der Gefühle hin, welche eine Integration der Persönlichkeit verhindert.

So mag etwa der Verstand auf Misstrauen bestehen und nicht erlauben, dass eine Gefälligkeit als solche erkannt wird. Selbstlosigkeit lässt sich nicht beweisen. Wenn ich auch über die Motive eines anderen nachgrüble, so muss an einem gewissen Punkt der Verstand doch dem Vertrauen Platz machen. Dankbarkeit ist eine Geste, die nicht vom Verstand allein, sondern vom ganzen Herzen ausgeht. Vielleicht weigert sich auch mein stolzer Wille, meine Abhängigkeit von einem anderen Menschen anzuerkennen. Das lähmt mein Herz, noch bevor es sich zum Dank erheben kann.

Schließlich mögen auch die Narben verletzter Gefühle eine volle emotionale Antwort verhindern. Mein Verlangen nach reiner Selbstlosigkeit mag so tief und meine bisherigen Erfahrungen so schlecht sein, dass ich verzweifle. Wer bin ich denn auch schon? Weshalb sollte irgendjemand selbstlose Liebe an mich verschwenden? Bin ich es wert? ‒ Nein. Dieser Tatsache ins Auge zu sehen, meine Unwürdigkeit zu erkennen und mich doch hoffnungsvoll der Liebe zu öffnen ‒, das ist der Ursprung aller menschlichen Ganzheit und Heiligkeit, der Kern der verbindenden Geste des Dankens. Die innere Geste der Dankbarkeit kann sich jedoch nur dann verwirklichen, wenn sie auch Ausdruck findet.

Der Ausdruck des Dankes ist ein wesentlicher Bestandteil der Dankbarkeit, er ist ebenso wichtig wie das Erkennen des Geschenks als solches und die Anerkennung meiner Abhängigkeit. Man denke nur an die Hilflosigkeit, die wir empfinden, wenn wir ein anonymes Geschenk erhalten und folglich nicht wissen, wem wir dafür danken sollen. Erst wenn unser Dank zum Ausdruck gekommen ist und akzeptiert wurde, ist der Kreis des Gebens und Dankens geschlossen und ein Austausch zwischen Geber und Empfänger hergestellt.

Allerdings ist das Bild vom geschlossenen Kreis nicht besonders gut gewählt. Austausch ist wohl eher mit einer Spirale zu vergleichen, in der der Geber den Dank entgegennimmt und so selbst zum Empfänger wird. So wird die Freude des Gebens und Empfangens immer stärker. Die Mutter beugt sich über das Kind in der Wiege und reicht ihm eine Rassel. Das Baby erkennt das Geschenk und erwidert das Lächeln der Mutter. Die Mutter, ihrerseits hochbeglückt von der kindlichen Geste der Dankbarkeit, hebt das Baby hoch und küsst es. Das ist sie, die Spirale der Freude. Ist nicht der Kuss ein größeres Geschenk als das Spielzeug? Ist nicht die Freude, die darin zum Ausdruck kommt, größer als die Freude, die unsere Spirale ursprünglich in Bewegung setzte?

Die Aufwärtsbewegung der Spirale deutet jedoch nicht nur an, dass die Freude stärker geworden ist. Vielmehr sind wir zu etwas völlig Neuem gelangt. Ein Übergang hat stattgefunden. Ein Übergang von der Vielheit zur Einheit: Zu Anfang waren es Geber, Geschenk und Empfänger; daraus wird die Umarmung, die Danksagung und entgegengenommenen Dank umfasst. Wer kann im abschließenden Kuss der Dankbarkeit noch zwischen Geber und Empfänger unterscheiden?

Bedeutet Dankbarkeit nicht einen Übergang vom Misstrauen zum Vertrauen, von stolzer Isolation zu demütigem Geben und Nehmen, von der Versklavung in falscher Unabhängigkeit zur Selbst-Annahme in der befreienden Abhängigkeit? Ja, Dankbarkeit ist die die große Geste des Übergangs.

Und diese große Geste des Übergangs eint uns. Sie eint uns als menschliche Wesen, denn wir erkennen, dass wir in diesem ganzen vergänglichen Universum die Einzigen sind, die um ihre Vergänglichkeit wissen. Darin liegt ja unsere menschliche Würde. Darin liegt zugleich unsere menschliche Aufgabe. Sie besteht darin, den Sinn dieses Übergangs auszuloten. Unser ganzes Leben ist ja Übergang. Sein Sinn will durch die Geste des Dankens gefeiert sein.

Diese Geste des Übergangs eint uns tief in unserm Innern, wo Menschsein religiös sein bedeutet. Dankbarkeit ist im wesentlichen Selbstannahme in jener Abhängigkeit, die befreit. Die Abhängigkeit, die befreit, ist jedoch nichts anderes als jene Religiosität, die allen Religionen zugrunde liegt. Ja, sie liegt sogar jener tief religiösen (wenn auch irrigen) Ablehnung aller Religionen zugrunde.

Wenn wir uns die großen Übergangsriten ansehen, die Teil des ältesten religiösen Erbes der Menschheit sind, dann wird uns die religiöse Bedeutung der Dankbarkeit klar. Anthropologie und vergleichende Religionswissenschaft haben diesen «rites de passage», Riten, die Geburt und Tod und andere wichtige Übergänge im menschlichen Leben feiern, in den letzten Jahren große Bedeutung beigemessen. Im Mittelpunkt dieser Riten steht immer ein Opfer, was insofern verständlich ist, als das Opfer an sich typisch für alle Übergangsriten ist.

Wir können die verschiedenen Formen des Opferritus auf ihre gemeinsamen Grundzüge hin untersuchen. Da finden wir dann, dass zwischen der Struktur der Dankbarkeit als einer Geste des menschlichen Herzens und der inneren Struktur des Opferns eine erstaunlich große Ähnlichkeit besteht. In beiden Fällen findet ein Übergang statt. In beiden Fällen geht die Geste vom freudigen Erkennen eines empfangenen Geschenks aus, gipfelt in der Anerkennung der Abhängigkeit des Empfängers vom Geber und findet ihre Vollendung im äußerlichen Ausdruck des Dankes. Geber und Empfänger werden dadurch vereint, sei es in Form des traditionellen Händedrucks oder in Form einer Opfer-Mahlzeit.

Denken wir nur an Formen des Erstlingsopfers. Fast sicher gehören die ältesten Opferriten hierher. Selbst in seiner einfachsten und primitivsten Form hat der Ritus eindeutig die beschriebene Struktur.

Da wären etwa die Chenchu, ein Stamm, der in Südindien lebt und zu den ältesten Kulturen nicht nur Indiens, sondern der ganzen Welt zählt. Was geschieht, wenn ein Chenchu von einer Sammel-Expedition im Dschungel zurückkehrt? Er wirft eine Handvoll der gefundenen Nahrung in den Busch zurück und begleitet diese Opfergeste mit einem Gebet zur Gottheit, die als Herrin des Dschungels und all seiner Früchte verehrt wird. «Unsere Mutter», sagt er, «durch deine Güte haben wir gefunden. Ohne dich empfangen wir nichts. Dafür danken wir dir.»

Unter den primitiven Völkern sind Tausende ähnlicher Riten beobachtet worden, aber das ebengenannte Beispiel (es wurde von Christoph von Fürer-Haimendorf (1909-1995), der unter den Chenchu Feldforschung betrieben hat, aufgezeichnet) zeichnet sich durch seine besonders klare Struktur aus. Jeder Satz des einfachen Gebets, das die Gabe begleitet, entspricht einer der drei Phasen der Dankbarkeit. «Unsere Mutter, durch deine Güte haben wir gefunden»: Das entspricht dem Erkennen der Gabe als Gabe. «Ohne dich empfangen wir nichts»: Das bringt die Abhängigkeit zum Ausdruck. «Dafür danken wir dir» ist der Ausdruck der Dankbarkeit, der die ursprüngliche Freude über das erhaltene Geschenk auf ein höheres Niveau hebt.

Was das Gebet unter drei Gesichtspunkten ausdrückt, vermittelt der Ritus in einer einzigen Geste: Der Jäger, der einen Teil seiner Beute der Gottheit opfert, drückt damit aus, dass er das Geschenk zu schätzen weiß und dass er durch das symbolische Teilen des Geschenks gewissermaßen einen Bund mit dem Geber eingeht.

Die Ähnlichkeit zwischen gesellschaftlichen Dankesbezeugungen und religiösen Opferhandlungen springt ins Auge. Wir dürfen aber nicht dem Irrtum verfallen, es handle sich bei den Opfergaben der Chenchu und ähnlichen Beispielen lediglich um die Übertragung gesellschaftlicher Konventionen auf die religiöse Ebene. Zwischen den beiden Phänomenen besteht keine einfache Abhängigkeit. Beide entspringen in der Tiefe des Herzens, dehnen sich jedoch in unterschiedliche Richtungen aus.

Das religiöse Bewusstsein des Menschen verwirklicht sich in seinen Opferriten, sein Bewusstsein menschlicher Solidarität im Dank, den einer dem anderen ausspricht.

Der Mensch sieht das Leben an uns, sieht, dass es aus einer Quelle zu ihm kommt, die außerhalb seiner Reichweite liegt. Er sieht das Leben an uns, sieht, dass es gut ist ‒ gut für ihn. Und aus der Sicherheit dieser beiden intellektuellen Einsichten heraus wagt das Herz den Sprung zu einer dritten Einsicht, die über rationale Erwägungen hinausgeht: der Einsicht, dass alles Gute, das mir widerfährt, ein Geschenk aus der Quelle des Lebens ist. Dieser Sprung des Glaubens übertrifft alle Zusammenhänge, die der Verstand herstellt. Er ist ebenso wie das Vertrauen, das man in einen Freund setzt, eine Geste des ganzen Menschen.

In dem Augenblick, wo ich das Leben als ein Geschenk erkenne und mich selbst als den Empfänger dieses Geschenks, wird mir meine Abhängigkeit klar, und ich muss eine Entscheidung treffen: Ebenso wie ich mich im zwischenmenschlichen Bereich weigern kann, Abhängigkeit anzuerkennen, und mich hinter meinem Stolz verbarrikadieren kann, so kann ich auch auf der religiösen Ebene eine Haltung stolzer Unabhängigkeit gegenüber der Quelle des Lebens einnehmen. Und die Versuchung ist groß, die Lächerlichkeit dieser Pose zu übersehen. Abhängigkeit im religiösen Zusammenhang beinhaltet ja mehr als das Geben und Nehmen in der gegenseitigen Abhängigkeit von Menschen; sie beinhaltet Gehorsam gegenüber der Quelle aller Gaben, die größer ist als ich ‒ eine Tatsache, mit der sich mein kleinlicher Stolz nicht abfinden mag. (Hierin liegt übrigens auch die Ursache für die scheinbare Grausamkeit vieler Opferriten. Wir können auf diesen Aspekt hier nicht näher eingehen. Es sei nur angemerkt, dass blutige Opferriten sinnvoll sein können als Symbol für die Gewalt, die wir uns selbst antun müssen, bevor unser im Eigensinn versklavtes Herz die Freiheit liebenden Gehorsams gewinnen kann.)

Der Mensch, der ein Tier opfert, drückt in diesem Ritual die Bereitschaft aus, selber zu sterben, für alles, was ihn vom Ziel dieses Übergangs trennt. Das Ziel ist die Vereinigung des Menschlichen mit dem Göttlichen. Daher muss zunächst eine Vereinigung göttlichen und menschlichen Willens erreicht werden. Dies geschieht durch Gehorsam. Dabei ist der Tod des Eigensinns nur der negative Aspekt des Gehorsams. Sein positiver Aspekt ist das Erwachen des Menschen zu echter Lebendigkeit und Freude. Der rituellen Tötung folgt die Freude des Opfermahls.

Wenn wir von Gehorsam sprechen, sollten wir der Unterwerfung keine allzu große Bedeutung beimessen. Der positive Aspekt ist viel wichtiger: Aufmerksamkeit für die geheimen Zeichen, die den Weg zur wahren Freude weisen. (Ich nenne sie geheime Zeichen, weil sie ganz persönlicher Natur sind; wir erkennen sie in Augenblicken, in denen wir ganz wir selbst sind.)

«Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zugvögel verständigt», schreibt Rilke in den «Duineser Elegien». Unser Übergang ist nicht durch den Instinkt vorbestimmt. Uns sind nur Ahnungen gegeben, wie jene Regung der Dankbarkeit in unserem Herzen, und die Freiheit, diesen Ahnungen zu folgen.

In dem Maße, wie wir diese Freiheit verwirkt haben, ist Losgelöstheit vonnöten. Gehorsam ist unsere Wachheit, unsere «disponibilité», unsere Bereitschaft, unserem heimwärts strebenden Herzen in seinem Aufwärtsflug zu folgen. Losgelöstheit befreit die Flügel unseres Herzens. So erst können wir uns aufschwingen zur Dankbarkeit für das Leben in seiner ganzen Fülle. Wir müssen unsere Hand öffnen und loslassen, was wir festhalten. Dann erst können wir die Geschenke empfangen, die uns jeder neue Augenblick darbietet. Losgelöstheit und Gehorsam sind nur Mittel zum Zweck. Das Ziel ist Freude.

Verstünden wir das moralische Opfer in diesem positiven Sinn, dann könnten wir auch seinen Ausdruck, das rituelle Opfer, verstehen. Weder das eine noch das andere ist so schrecklich, wie es manchmal dargestellt wird. Beide haben die Struktur des Übergangs im Dank. Beide gipfeln in der Freude über die Vereinigung des Menschen mit dem, was ihn transzendiert. Dies findet im Höhepunkt des Opferritus, dem Opfermahl, seinen Ausdruck. Dieses frohe Mahl drückt das Vertrauen aus, dass der Geber aller Gaben unseren menschlichen Dank annimmt. Es ist die Umarmung, die den Schenkenden mit dem Dankenden vereint. (Hier sei noch angemerkt, dass im religiösen Kontext Gott allzeit der Gebende ist, wir Menschen die Danksagenden. Nur in dem weit weniger ursprünglichen Kontext der Magie kann diese Beziehung zu einer Art wirtschaftlicher Transaktion degenerieren oder gar zu dem Bemühen von Menschen, über-menschlichen Mächten etwas zu entlocken. Aber Magie und Ritualismus sind Sackgassen des Herzens; sie betreffen uns hier nicht.)

Worauf es uns ankommt, ist, dass unsere eigene Erfahrung der Dankbarkeit mit einem universellen religiösen Phänomen zusammenhängt: mit dem Opfer, das zum Wesenskern aller Religionen gehört. Haben wir nur einmal diesen Wesenskern erfasst, dann wird uns jede Religion zugänglich. Man kann die gesamte Entwicklung der Religionen als eine Entfaltung der Opfergeste verstehen. Wir selbst vollziehen innerlich diese Geste, sooft Dankbarkeit in unseren Herzen aufsteigt.

So geht etwa die jüdische Religion von der unausgesprochenen Überzeugung aus, dass der Mensch kein Mensch wäre, wenn er kein Opfer darbrächte, und gelangt zu der ausdrücklichen Erkenntnis, dass «nur der, der sich selbst als Opfer darbringt, verdient, Mensch genannt zu werden». (Rabbi Israel aus Rizin; verstorben im Jahre 1850.)

Genau dasselbe finden wir im Hinduismus: Ein früher vedischer Text sieht den Menschen als «das einzige Tier, das es versteht, Opfer zu bringen» (Satapata Brahmanah VII, 5, 2, 23). Die Entwicklung findet ihren Höhepunkt in einer Stelle aus dem Chandogya Upanishad (III, 16, 1), wo es heißt: «Wahrlich, Mensch sein heißt Opfer sein.» Zeigt uns nicht unsere eigene Erfahrung, dass ein Mensch erst in der Opfergeste der Dankbarkeit völlig Mensch wird?

Und selbst zum Verständnis des Gebots der Nächstenliebe (das in der einen oder anderen Form die reife Frucht jeder Religion ist) verschafft Dankbarkeit uns Zugang. Im Vorgehenden hat uns die scheinbare Rohheit der Wurzel, aus der Religion entspringt, abgestoßen. Jetzt stößt uns der scheinbare Widerspruch ab, den ihre reifste Frucht enthält. Kann man denn Liebe gebieten? Kann es denn eine Verpflichtung zur Liebe geben? Liebe ist nicht Liebe, wenn sie nicht frei von Zwängen ist. Unsere Erfahrung mit der Dankbarkeit gibt uns einen Hinweis: Eine Gefälligkeit, die wir einem anderen erweisen, bleibt eine Gefälligkeit, bleibt freiwillige Zuwendung, auch wenn uns unser Herz sagt, dass wir es tun sollten, dass wir großzügig sein sollten, verzeihen sollten. Weshalb? Weil uns eine tiefe Solidarität verbindet, die das Herz spürt. Wir gehören zusammen, weil wir gemeinsam einer Wirklichkeit verpflichtet sind, die über uns hinausreicht.

Jesus sagt dazu: «Darum, wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst, und wirst allda eingedenk, dass dein Bruder etwas wider dich habe, so lass allda vor dem Altar deine Gabe, und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann komm und opfre deine Gabe.» (Mt 5,24).

Dies stimmt völlig überein mit der Tradition der Propheten Israels. Diese bestanden darauf, dass wahres Opfer Danksagung sei, wahrer Opfertod Gehorsam, der wahre Sinn des Opfer-Mahls Barmherzigkeit, «hesed». «Hesed» ist jene Bundesliebe, die uns Menschen miteinander verbindet, in dem sie uns als Gemeinschaft an Gott bindet. Abzulehnen ist nur leerer Ritualismus, nicht das Ritual an sich. Danksagung, Barmherzigkeit, Gehorsam sollen das Ritual nicht ersetzen, sondern ihm seinen vollen Sinn geben. Das ganze Menschenleben soll zu einem heiligen Ritual des Dankes werden, das ganze Universum ein Opfer. Der Prophet Sacharja sagt, dass «in jener Zeit» (der Zeit des Messias) «alles Küchengeschirr in Jerusalem und ganz Judäa» dem Herrn der Heerscharen heilig sein werde, heilig genug, um Opfer darin darzubringen. Das heißt, dass es nichts auf Erden gibt, was der Mensch nicht wie ein Gefäß mit Dank füllen und zu Gott emporheben könnte.

Diese universelle Eucharistie, diese kosmische Feier eines Dankopfers, ist der Kern der christlichen Botschaft. Und selbst den Nicht-Christen unter uns erlaubt die Erfahrung der Dankbarkeit zumindest eine gewisse Annäherung an die christliche Überzeugung, dass die Dankesspirale das dynamische Muster jeglicher Realität ist. Innerhalb der absoluten Einheit des dreieinigen Gottes ist Raum für einen ewigen Austausch von Geben und Danken, für eine Spirale der Freude. In der einen und unteilbaren Gottheit gibt sich der Vater dem Sohn hin; der Sohn gibt sich in Dankbarkeit dem Vater hin; das Geschenk der Liebe, das immerfort zwischen Vater und Sohn ausgetauscht wird, ist der Heilige Geist, selbst göttliche Person, der Geist der Dankbarkeit.

Schöpfung und Erlösung sind lediglich das Überfließen dieser göttlichen «perichorese», dieses innergöttlichen Reigens der Dreifaltigkeit, ein Überfließen in das, was von sich aus Nichts ist.

Gottes Sohn wird, dem Willen des Vaters gehorchend, Menschensohn. Durch sein liebendes Opfer vereint er alle Menschen miteinander und mit Gott. Im Geist der Dankbarkeit führt er sie zurück in die ewige Umarmung Gottes, so dass «Gott alles in allen sei» (1 Kor 15,28). «Alles, was existiert, existiert durch das Opfer» (Satapata Brahmanah XI, 2, 3,6). Der ganze Kosmos wird Augenblick für Augenblick durch das Opfer erneuert, durch Dank zu seiner Quelle zurückgeführt, und als Geschenk in all seiner ursprünglichen Frische neu empfangen. Aber dieses kosmische Opfer ist nur deshalb möglich, weil der eine Gott zugleich Geber, Gabe und Danksagung ist.

Denen unter uns, die durch den Glauben bereits in dieses Geheimnis eingedrungen sind, braucht es nicht erklärt zu werden; den anderen kann es nicht erklärt werden. Aber in dem Maße, wie in unseren Herzen Raum für Dankbarkeit ist, haben wir alle an dieser Wirklichkeit teil, wie auch immer wir sie nennen. Es ist eine Wirklichkeit, die wir nie ganz erfassen werden. Worauf es ankommt, ist, dass wir uns von ihr ergreifen lassen, dass wir die innere Gebärde von Dankbarkeit und Opfer vollziehen. Der Vollzug dieses Übergangs führt uns zur Einheit mit uns selbst, zur Einheit mit allen anderen und zur einen Quelle des Lebens. Denn «… nur darauf kommt es an: dass wir uns verbeugen, tief verbeugen können. Nur das, einfach nur das». [AH 1-2) 139-155; 3-5) 135-151; SD 39-54]

[Ergänzend: Aufwachsen in Widersprüchen (1989) ‒ Salzburger intern. Pädagogische Werktagung, «Im Paradoxen Sinn erfahren»: Vortrag und Dialog am 19. Juli 1989, Teil 7: Das Opfer ‒ ein Übergansritual]

[1] Aus einer Ansprache des Rev. Eido Tai Shimano, eines japanischen Zen-Meisters, der bei der Gesellschaft für Zen-Studien in New York unterrichtet.



Quellenangaben

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