Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

gipfelerlebnis b kraehmer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Unser wahres Selbst ist nicht das kleine individualistische Selbst neben anderen. Dies entdecken wir in jenen Augenblicken, in denen wir zu unserer großen Überraschung eine tiefe Kommunion mit allen anderen Wesen erfahren. Diese Momente gibt es in unser aller Leben. Vielleicht erinnern wir sie als «Hochwassermarken» der Bewusstheit, der Lebendigkeit, als Momente unserer besten Verfassung, als jene Augenblicke, in denen wir am meisten wir selbst waren.

Vielleicht aber versuchen wir auch die Erinnerung an jene Momente zu verdrängen, denn jene Springflut der Kommunion ist eine Bedrohung der defensiven Isolation, in der wir uns geschützt vorkommen.

Die Mauern, hinter denen wir uns verstecken, mögen dem Ansturm des Lebens lange standhalten. Aber ganz plötzlich, an irgendeinem Tag, wird, wie in dem folgenden Bericht aus «The Protean Body» von Don Johnson, die große Überraschung über uns einbrechen:

«Ich ging hinaus auf eine Mole im Golf von Mexico. Ich hörte auf zu sein. Ich erfuhr mich als Teil des Windes, der von der See hereinkam, als Bestandteil der Bewegung von Wasser und Fischen, der Sonnenstrahlen, der Farben der Palmen und tropischen Blumen. Es gab keine Vorstellung mehr von Vergangenheit oder Zukunft. Und es war kein besonders seliges Erlebnis: es war furchterregend. Es war die Art ekstatischer Erfahrung, die ich mit einigem Aufwand an Energie zu vermeiden versucht hätte. Ich erlebte mich nicht als identisch mit Wasser, Wind und Licht, sondern als nähme ich teil am gleichen Bewegungssystem. Wir tanzten alle miteinander.»

In diesem großartigen Tanz sind Gebende und Empfangende eins.

Ganz plötzlich können wir erkennen, wie unwesentlich es ist, welche der beiden Rollen man in einem gegebenen Moment zu spielen hat.

Jenseits aller Zeit ruht unser wahres Selbst in vollkommener Stille in sich selbst.

Verwirklicht wird dies in der Zeit durch ein anmutiges Geben und Nehmen  im Tanz des Lebens.

Wie bei einem sich schnell drehenden Kreisel sind Stille und Tanz eins.

Nur in jenem Einssein  von Geben und Nehmen findet sich wahre Selbständigkeit. Jede andere Selbständigkeit ist Illusion. Das Wirkliche aber erweist sich am Ende immer als jeder Illusion überlegen.

Früher oder später wird es durchscheinen wie die Sonne durch den Nebel.

Das Leben, unser Lehrer, wird das besorgen. [FN 1) 24f.; 2-5) 24f.; 6) 27f.; ebenso: Geben und Empfangen (2008), in: Das Inspirationsbuch 2009]

Wer kennt nicht diesen Wendepunkt von denken zu danken aus eigener Erfahrung? Wir müssen nur an einen jener Augenblicke denken, die wir alle manchmal erleben, obwohl wir sie nur den Mystikern zutrauen.

Ganz unerwartet werden wir da plötzlich wach, fallen aus Zeit und Raum in eine unauslotbare Stille hinein und fühlen überwältigende Dankbarkeit in uns aufsteigen.

Ganz gleich wo uns das widerfährt ‒ auf einem Berggipfel, in einer Kathedrale, oder mitten im Verkehrsstau ‒ das ist ein mystisches Erlebnis.

Abraham Maslow erforschte solche «peak experiences», wie er sie nannte, vom Standpunkt der Psychologie.

Er fand, dass solche Erfahrungen bei ganz gewöhnlichen Menschen häufig sind und sich in keiner Weise von denen der Mystiker unterscheiden.

Ein Unterschied liegt vielmehr darin, dass die meisten von uns weiterleben, als ob nichts geschehen wäre, und bald wieder «das Zufällige und Ungefähre» laut werden lassen, während die Mystiker aus der Stille  leben.

Es steht auch uns frei das zu tun, und so unser Leben im Bleibenden zu verankern. Der Schlüssel dazu ist dankbares Leben. [Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille (1982), 182 und AH 3-5) 156]

Denken Sie einmal an eine Erfahrung zurück, von der Sie sagen können: «So etwas macht das Leben lebenswert.»

Oder denken Sie an den Begriff «Gipfelerfahrung», ein ausgezeichneter Begriff, der unter anderem andeutet, dass es sich um etwas handelt, das aus Ihren normalen Erfahrungen herausragt, darüber steht.

Es ist ein Augenblick, in dem Sie sich irgendwie erhaben fühlen, oder wenigstens erhabener als sonst.

Und es ist nur ein Augenblick, auch wenn er lange dauern kann, vielleicht sogar eine Stunde; selbst dann erscheint so eine Erfahrung wie ein Augenblick. Immer wird sie als ein Punkt innerhalb der Zeit empfunden, so wie auch ein Berggipfel immer ein Punkt ist.

Es kann ein hoher oder ein niedriger Gipfel sein; worauf es jedoch ankommt, ist, dass ein Gipfel erreicht wird.

Wenn Sie nun Ihren Tag oder Ihr Leben oder irgendeine Zeitspanne überblicken, dann sehen Sie diese Gipfel herausragen, und es sind Punkte einer erhabenen Erfahrung, Punkte einer Erfahrung des Schauens, einer Erkenntnis, wenn Sie so wollen.

Das ist auch ein wichtiger Aspekt bei dieser Vorstellung vom Gipfel:

Wenn Sie sich auf einem Gipfel befinden, dann haben Sie eine bessere Sicht. Sie können nach allen Seiten sehen. Solange Sie noch aufsteigen, wird ein Teil Ihrer Sicht, ein Teil des Horizonts, von dem Gipfel verdeckt, den Sie ersteigen. Aber einmal auf dem Gipfel angekommen, erhalten Sie einen Einblick in den Sinn, in die Bedeutung.

Es ist ein Augenblick, in dem Sie vom Sinn wirklich berührt werden. Das ist die Art des Erkennens, von der jetzt die Rede sein soll.

Es bedeutet nicht, die Lösung für ein Bündel konkreter Probleme zu finden; es ist vielmehr ein Augenblick uneingeschränkten Erkennens. Sie setzen Ihrem Erkennen keine Grenzen.

Versuchen Sie nun einmal, an solch einen Augenblick zu denken und ihn sich zu vergegenwärtigen, und zwar sehr präzise und fest umrissen. Verallgemeinerungen werden uns hier nichts nützen.

Es braucht kein riesiger Gipfel zu sein, das ist sowieso sehr selten im Leben. Ein Ameisenhügel ist auch ein Gipfel, also genügt uns alles, was einen Gipfel darstellt.

Versuchen Sie es einfach, erinnern Sie sich ganz konkret an eine Erfahrung, in der Sie etwas sehr tief berührt hat, eine Erfahrung, in der Sie auf irgendeine Weise über die normale Ebene erhoben wurden. [Der Mönch in uns (1978); siehe auch Auf dem Weg der Stille (2016), 49f.]

[Ergänzend:

1. GIPFELERLEBNIS, in: Orientierung finden (2021): Das ABC der Schlüsselworte, 140f.:

«Peak Experience» nannte Abraham Maslow (1908-1970) Höhepunkte, also ‹Gipfel› menschlicher Erfahrung, Augenblicke bewussten All-Einsseins, wie wir sie aus Berichten der großen Mystiker kennen. Maslows Forschung konnte aber zeigen, dass jeder psychisch gesunde Mensch gelegentlich Gipfelerlebnisse hat, oft unbeachtet oder sogar aus dem Bewusstsein verdrängt. Was hingegen die großen Mystiker auszeichnet, ist, dass sie ihren Alltag dem All-Einheitsbewusstsein gemäß gestaltet haben. Maslow zeigte, dass uns in Gipfelerlebnissen alle großen Werte ‒ wie etwa das Schöne, Wahre, Gute ‒ gegenwärtige Wirklichkeit sind. Es gilt nun, diese Werte, dem Beispiel der Mystiker folgend, in unser tägliches Leben einfließen zu lassen. Gipfelerlebnisse sind immer ein überraschendes Geschenk. Wir können uns nur auf sie vorbereiten, sie aber nicht erzwingen. Aufreizenden psychischen Erfahrungen nachzujagen, das stellt immer wieder eine Gefahr für spirituell suchende Menschen dar. Die große Aufgabe ist es, uns genügsam für das Empfangene dankbar zu erweisen. Dies tun wir dadurch, dass wir alle Energie darauf verwenden, unser Leben dem uns bereits Geschenkten gemäß zu gestalten.»

2. GIPFELERLEBNIS in Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)]: Schlüsselbegriffe «Angst ‒ Zusammengehören», FN 1) 170f.; 2-5) 174; 6) 173):

«Abraham Maslow, der den Begriff Gipfelerlebnis in die Psychologie einführte, bestand darauf, dass es keine Möglichkeit gäbe, es von der mystischen Erfahrung, wie sie die Mystiker beschreiben, zu unterscheiden. Und doch haben die meisten (wenn nicht alle) von uns Gipfelerlebnisse, Momente, in denen wir überwältigt sind von einem Bewusstsein der Zugehörigkeit, universellen Heil- und Heiligseins, Augenblicke, in denen das Leben Sinn hat. Annehmen ist ein Wort, das häufig bei der Beschreibung von Gipfelerlebnissen benutzt wird. Einen Moment lang, der jenseits von Zeit zu sein scheint, fühlen wir uns ganz und gar angenommen und können alles, was ist, voll und ganz akzeptieren, annehmen. Dankbarkeit durchdringt jeden Aspekt dieser Gipfelerlebnisse. Das Religiöse an jeder Religion wird durch diese Momente überwältigender Dankbarkeit genährt. Wenn wir unsere eigene Religion als gültig betrachten, so können wir jenes Urteil nur auf jene Erfahrungen gesteigerter Bewusstheit gründen. Jede Religion wird gemessen an Standards, die man von jenen Gipfeln dankbaren Annehmens erspähte. Und darum können wir Dankbarkeit die Wurzel aller Religion nennen.»

3. Mehr als alles (2010): Toni Zimmermann zitiert David Steindl-Rast.

4. Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003):
«Ein Jahrzehnt später zeigte Abraham Maslow von der Psychologie her, dass Gipfelerlebnisse (‹Peak Experiences›) praktisch im Leben jedes Menschen vorkommen, und von klassischen mystischen Erlebnissen in keiner Weise unterscheidbar sind. Welche Tragweite Maslows Pionierarbeit für die Geistesgeschichte besitzt, wird auch heute noch nicht voll gewürdigt.»

5. Die Begebenheit auf einer Mole im Golf von Mexiko findet sich nicht nur im Buch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018), 28 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 25], sondern auch im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 114f.:

Bruder David: «Es handelt sich um die Schilderung eines Freundes von mir, Don Johnson, in seinem Buch ‹The Protean Body›.»

Hinweis: Kapitel 8 «Auf heiligem Grund stehen» im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 112-119, übersetzt von Bernardin Schellenberger, ist inhaltlich identisch mit Sakramentales Leben ‒ «Zieh' deine Schuhe aus! (1979), übersetzt von Eve Landis.

6. Audios:

Wie uns dankbar leben heil und gesund macht (2011): Audio und Transkription:
(09:36) «Jeder Mensch ist ein besonderer Mystiker» (Abraham Maslow): Gipfelerfahrungen im Alltag

Das Gottesbild des modernen Menschen (2009):
Teil 1:
(10:16) Abraham Maslow nennt die mystischen Erlebnisse des All-Einsseins Gipfelerlebnisse / (13:18) Der Mystiker ist nicht ein besonderer Mensch, jeder Mensch ist ein besonderer Mystiker. Die großen Mystiker lassen diese Erlebnisse in den Alltag einfließen ‒ Thomas Mertons Gipfelerlebnis und Beispiele in unserem Alltag

Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Audio und Mitschrift: Spiritualität, volle Lebendigkeit, Peak Experience (Maslow) und Audio und Mitschrift: Peak Experience, mystische Erfahrung, vier Kennzeichen
Siehe auch die Mitschrift des Vortrags: Wie das Göttliche in uns wächst (2005), 02-03

Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Audio: Mystische Erfahrung ‒ Anstoß zur Praxis dankbaren Lebens und Audio: Wir alle haben diese Gipfelerlebnisse]



Quellenangaben

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