Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Einer der Gründe für ein Gefühl des Unbehagens in unserem Alltagsleben könnte darin liegen, dass wir entweder über die Vergangenheit grübeln oder uns Sorgen über die Zukunft machen und deshalb nicht im Hier und Jetzt sind, wo unser wirkliches Selbst weilt. Wenn wir uns die Zeit als Linie vorstellen, die von der Zukunft in die Vergangenheit reicht, dann frisst die Vergangenheit die Zukunft ständig und ohne den geringsten Rest auf. Solange wir uns «jetzt» als eine ganz kurze Zeitstrecke vorstellen, hält uns nichts davon ab, diese Strecke zu halbieren und dann nochmals in zwei zu teilen. Weil sich die chronologische Zeit immer weiter teilen lässt, gibt es kein «jetzt» auf unseren Uhren, und in der Uhrzeit lässt sich keine «stille Mitte» finden. Es ist ein Gedankenexperiment, das uns klar machen kann, wie wir im Jetzt etwas erfahren, das in der Zeit gar nicht enthalten ist, sondern weit über sie hinausgeht: die Ewigkeit.
Die Ewigkeit ist nicht eine lange, lange Zeit. Sie ist, wie Augustin sagte: «Das Jetzt, das nicht vergeht.» Wir können die Ewigkeit nicht dadurch erreichen, dass wir einfach in einer chronologischen Reihenfolge vorangehen, und dennoch ist sie uns in jedem Augenblick als geheimnisvolle Fülle der Zeit zugänglich.
Wir werden ab und zu, in den Augenblicken, in denen wir am lebendigsten sind, in unseren Gipfelerlebnissen, in das Mysterium der Zeit aufgenommen. Von solchen Momenten sagen wir etwa: «Die Zeit stand still» oder: «So viel hatte in einem einzigen winzigen Augenblick Platz» oder: «Stunden vergingen, und es war wie im Nu, wie eine Sekunde.» Unser Zeitgefühl verändert sich in solchen Momenten der tiefen und intensiven Erfahrung, und dann wissen wir, was Jetzt bedeutet. Wir fühlen uns in jenem Jetzt, in jener Ewigkeit zu Hause, weil das der einzige Ort ist, wo wir wirklich sind. Wir können nicht in der Zukunft sein, wir können nicht in der Vergangenheit sein; wir können nur in der Gegenwart sein. Wir sind nur in dem Maße wirklich, in dem wir im gegenwärtigen Hier und Jetzt leben. [ST 74f., Quelle: MS 1) 26-28; 2-3) 25f.; 4) 27-29]