Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

jesus titelCopyright © - Barbara Krähmer

Wenn wir geschichtlich eines wissen über Jesus Christus, so ist es, dass er die tiefe Intimität mit Gott hatte, diese kindliche Intimität und Gott als Abba ansprach, einem Wort, das zu der Zeit nicht geläufig war und als ein bisschen zu intim angesehen wurde. Das spricht ganz klar aus, dass wir Jesus Christus zuerst und zutiefst als Mystiker verstehen müssen.

Unser heutiges Verständnis von Jesus Christus, aus unserer heutigen Perspektive heraus, setzt voraus, dass wir mit Jesus Christus als Mystiker anfangen. Und zwar Mystik im ganz einfachen Sinn verstanden als die Erfahrung grenzenloser Zugehörigkeit zu Gott.

Zumindest im biblischen Bereich können wir den Begriff Gott hier einführen, sonst müsste man sagen, im Allgemeinen sei Mystik die Erfahrung grenzenloser Zugehörigkeit zum Urgrund des Seins. Wir kennen die Mystik auch in Traditionen, die den Gottesbegriff nicht so ausdrücklich kennen, in nicht theistische Traditionen.

Jesus ist also zuerst, an wichtigster Stelle, Mystiker. Und da bleibt er nicht stehen. Er ist Mystiker, der diese Erfahrung grenzenloser Zugehörigkeit übersetzt in Sozialreform. Und das ist das Reich Gottes. Das Reich Gottes ist eine Gesellschaftsordnung, die er ja nicht nur predigt, sondern auch lebt mit seinen Jüngern, mit den Ausgestoßenen, Verachteten und den «Sündern» ‒ alle sind hineinbezogen in diese Familie Gottes, wie man sagen könnte.

Und das ist die neue Gesellschaftsordnung aus der Zugehörigkeit heraus, eine Gemeinschaft aller ‒ aus der Vereinzelung heraus ein Daheimsein in Gottes Familie, aus der Entfremdung heraus eine Zugehörigkeit zum Erdhaushalt, wie man das nennen könnte.

Das ist Bekehrung: dieser Umschwung von der konventionellen Gesellschaft zur Gesellschaftsordnung, die dem Zugehören entspricht. Das ist die Bekehrung zum Reich Gottes. Darum geht die Botschaft Jesu Hand in Hand mit dem Ruf nach Bekehrung:[1]

Von der Ausbeutung Anderer bekehrte man sich zu diesem Haushalt Gottes, zu diesem «Oikos». Daher ist das Reich Gottes «ökumenisch» ‒ das Wort kommt von dem Wort «oikos», dem Haushalt, es ist «ökologisch», denn es beschränkt sich nicht nur auf die Menschen: die ganze Familie Gottes gehört zu diesem Erdhaushalt Gottes, und es hat sogar ganz entschiedene ökonomische Auswirkungen, denn auch das gehört zum Haushalt. Daher auch politische.[2]

Und da liegt schon ein weiterer, ganz besonders wichtiger Zusammenhang zwischen der Zeit Jesu und unserer Zeit, dass beide gekennzeichnet sind als Krisenzeiten, und dass sich alle die Krisen[3] unserer Zeit und auch seiner Zeit zurückführen lassen auf eine Krise, die wir Autoritätskrise nennen könnten.

Wir stehen in einer Krisenzeit, und wenn wir lang genug hinschauen, sehen wir, dass alle Schwierigkeiten, und also auch die Schwierigkeiten des multikulturellen Zusammenlebens und die Schwierigkeiten der Spannungen zwischen uns und unserer Erde, die Spannungen zwischen Männern und Frauen, die Spannungen, die sich in Kriegen auslösen, alle diese Spannungen letztlich auf Autoritätskrisen, auf die Autoritätskrise zurückzuführen sind.

Es fragt sich eben: Wo wird Autorität  lokalisiert? Wo wird sie gesehen?

Und Jesus Christus weist hin auf die Autorität Gottes, nicht wie bisher außerhalb irgendwo, sondern in den Herzen seiner Hörer.

Das ist das Entscheidende: Gegen die Autorität der Unterdrückung und der Entmächtigung spricht er für die authentische Ermächtigung jedes einzelnen Menschen, denn wenn wir alle Söhne und Töchter Gottes sind, dann gehören wir alle der Familie Gottes an, dann leben wir, wie es schon auf der ersten Seite der Bibel heißt, mit Gottes eigenem Leben.

Das war schon immer in der jüdischen Tradition. Jesus war aber der erste, der das so hervorgeholt hat.

Er war daher nicht Prophet ‒ man liest das ja noch in den Evangelien, dass man anfänglich versucht hat, ihn einzuordnen und einer dieser Einordnungsversuche war, ihn Prophet zu nennen, «ein großer Prophet ist unter uns aufgestanden» (Lk 7,16), aber es hat einfach nicht gepasst. Und zwar deshalb nicht, weil der Prophet typisch die Autorität Gottes hinter sich weiß. Der Prophet kommt und sagt: «So spricht Gott der Herr.» Der Prophet ist Sprachrohr Gottes. Und Jesus sagt nicht ein einziges Mal: «So spricht Gott der Herr» oder irgendetwas, was so ähnlich klingen könnte. Sondern ‒ was sagt er?

Er lehrt in Gleichnissen. Und das ist wieder einer der wenigen Punkte, die wir ganz sicher historisch über Jesus wissen, dass er in Gleichnissen lehrt. Und das heißt?

Sein typisches Gleichnis beginnt mit der Frage: «Wer von euch weiß das nicht schon?» ‒ «Wer von euch, der Saat sät oder Brot backt oder fischen geht oder Kinder hat oder Gäste empfängt, weiß das nicht schon?»

Und die Hörer sagen einstimmend: «Das weiß ja jeder.»

«Ah, wenn ihr es alle wisst, warum handelt ihr dann nicht darnach?»

So wirkt das Gleichnis: Wir schlucken diesen Fischhaken und schon hat er uns und zieht uns.

Die Voraussetzung für das typische Gleichnis Jesu ist: Dass wir alle in unserem Herzen ‒ und zwar alle Menschen: Ausgestoßene ‒ «Sünder» ‒, dass wir alle in unserem Herzen alles wissen, was notwendig ist von Gott:

Dass Gott zu uns in unserem eigenen Herzen spricht, dass wir, wie es Paulus ja noch vor dem Niederschreiben der Evangelien, wie wir sie jetzt haben, schon sagen wird:

«Wir haben den Geist Gottes empfangen, so dass wir die Tiefen Gottes ausloten können, dass wir Gott mit Gottes eigenem Selbstverständnis verstehen können» (1 Kor 2,10-12).[4]

Das entspricht vollkommen der Lehre Jesu.

Und das erklärt nun, warum einerseits seine Hörer ‒ und zwar besonders die einfachen Leute, die armen Leute, die Entmächtigten ‒ sagen: «D e r  Mensch spricht mit Autorität» ‒ das steht schon ganz am Anfang des Markusevangeliums (Mk 1,21).

Und dann kommt gleich der Satz: «Nicht wie unsere Autoritäten.»

Und mit dieser ganz einfachen Feststellung ist schon der ganze Lebenslauf Jesu vorgezeichnet. Von dem Augenblick an wissen wir schon, er wird am Kreuz enden.

Wer spricht mit Autorität? Jeder, der die göttliche Autorität in unsern eigenen Herzen zum Mitschwingen bringt. Und das ermächtigt uns.

Und die autoritären Autoritäten ‒ Autoritäten haben gewöhnlich die Tendenz, autoritär zu werden ‒ sind nur daran interessiert, uns zu entmächtigen, denn sonst können sich die autoritären Autoritäten nicht in ihrer Position halten.

Wer aber wirklich Autorität hat und mit Autorität spricht, der kann es sich leisten, die andern zu ermächtigen.

Und so ermächtigt Jesus seine Hörer und sie können plötzlich stehen, wenn sie lahm waren und sehen, wenn sie blind waren. Wir kennen ähnliche Ereignisse aus unserer eigenen Zeit, wunderbar bleiben sie, aber es ist verständlich, dass sich dieses geistige «auf seinen eigenen Füßen stehen», auch physisch ausdrücken kann.

Und damit ist aber auch schon gesagt, dass sich sowohl die autoritären politischen Autoritäten wie die autoritären religiösen Autoritäten früher oder später zusammentun werden, um ihn wegzuräumen.

Und wir sehen das heute noch, dass wenn jemand in dem Geist Jesu lebt und lehrt, dass das immer wieder geschieht.

Wer die Entmächtigten und Entmündigten ermächtigt und ermündigt ‒ sei nun in Lateinamerika oder in Südafrika, oder sonst wo in der Welt ‒, der wird von den autoritären Autoritäten früher oder später ans Kreuz genagelt.

Und so geht es uns selber ja auch. Wenn wir aus diesem Geist Jesu leben und sprechen, werden wir ja auch gekreuzigt ‒ nicht so dramatisch ‒, aber halt am Konferenztisch oder im Familientreffen oder sonst irgendwo ganz privat. Aber man kann dem nicht entgehen.

Und so kann Jesus dem auch nicht entgehen, und zwar schon deshalb nicht, weil die Ermächtigten ‒ und das ist der entscheidende Punkt ‒, plötzlich sehen, dass sie damit eine Verantwortung übernehmen müssen.[5]

Im innersten Herzen wissen wir, dass Gottes Autorität in uns ist, nicht nur außer uns.

Die gerechte Autorität, die es immer geben muss, zeigt sich darin, dass sie andere ermächtigen kann, weil sie selber in Ordnung ist. Autorität, die in Ordnung ist, ist eine feste Grundlage für das Gemeinschaftsleben. Sie ist im Frieden, sie ist befriedet.

Aber Autorität, die sich nur in Machtposition halten kann, wenn sie andere unterdrückt: das ist autoritäre Autorität und das finden wir sehr häufig. Und die hinterfragt er. Darauf räumen ihn sowohl die politischen wie die religiösen Autoritäten schließlich aus dem Weg; hätten das aber nicht tun können, wenn alle die einfachen Leute, die armen Leute, die er da ermächtigt hat, hinter ihm gestanden wären.

Warum stehen sie nicht hinter ihm?

Und die Antwort ist ganz einfach und die ist auch angedeutet in den Evangelien an einer ganz entscheidenden Stelle:

«Von nun an gingen die Vielen ‒ diese Massen, die ihm zugelaufen sind, weil sie sich eben ermächtigt fühlten ‒, nicht mehr mit ihm» (Joh 6,66).

Warum gehen sie nicht mehr mit ihm?

Sie haben plötzlich erkannt, das mit dieser Autorität, die in uns verlegt wird, mit dieser Bürde, die uns auf unsern eigenen Füßen stehen lässt, auch Verantwortung kommt. Und die wollen wir nicht. Und das wissen wir alle selber: Wir wollen zwar Autorität, aber wir wollen nicht Verantwortung. Wir schieben die lieber ab. Wir wollen sie so wenig, dass wir sie lieber abschieben an diese religiösen Autoritäten und an die politischen Autoritäten, und uns dann beklagen: Ja, ja, die sind schuld, und nicht unsere Verantwortung selber auf uns nehmen.

Lieber geben wir die Autorität auf, als dass wir die Verantwortung übernehmen, die mit der Autorität geht.

Die Bekehrung, die Umkehr, der Eintritt in diesen Gotteshaushalt würde voraussetzen, dass wir die Autorität als Kinder Gottes auf uns nehmen mit der Verantwortung, die damit kommt.

Darum sagt Jesus auch an einer andern ganz entscheidenden Stelle über Autorität:

«Die Autoritäten in der Welt ‒ in der weltlichen Welt, die wir geschaffen haben ‒, die drücken die Andern nieder, die beuten die Andern aus: Mit euch soll es anders sein, der Größte unter euch soll der Diener aller sein» (Mt 20,25f.).

Autorität soll nur dazu verwendet werden, die Andern auf ihre Füße zu stellen, die Andern zu ermächtigen, zu ermündigen. Und darum wäscht er ihnen auch zu der Stunde die Füße, macht sich zum Diener aller ‒ es ist kein Zufall, dass er ihnen die Füße wäscht: «Ihr könnt auf euren eigenen Füßen stehen.»[6]

(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 5f.)

[Ergänzend:

1. Kreuz und Auferstehung

2. Credo: ‹gekreuzigt› (2015), 111f.:

«Nichts ist revolutionärer als die Vorrangstellung, die Jesus in seinen Gleichnissen dem gesunden Menschenverstand einräumt. Dieser stellt geradezu den Gegenpol dar zum konventionellen Denken.

Durch ihn spricht ja der Heilige Geist im Menschenherzen.

Jesus beruft sich also nicht darauf, sozusagen Sprachrohr der göttlichen Autorität zu sein; darin unterscheidet er sich von den Propheten vor ihm.

Er maßt sich auch nicht selber höchste Autorität an, sondern ‒ und das ist etwas völlig Neues in der Religionsgeschichte ‒ er appelliert an die Autorität Gottes in den Herzen seiner Hörer:

Gott spricht zu uns durch unseren gesunden Menschenverstand ‒ das ist es, was jedes Gleichnis voraussetzt, und es ist zentral für das Gottesverständnis Jesu.

Dadurch löste seine Lehre eine gewaltige Autoritätskrise aus, deren Erschütterungen wir bis heute fühlen.

Jesus ermächtigte seine Zuhörer, für sich selber zu denken.

Das hat ungeheure politische Konsequenzen. Es war damals, und ist heute noch, bedrohlich für alle autoritären Strukturen; Jesus wird daher ‒ vom Standpunkt der Machthaber aus mit Recht ‒ als subversiv gebrandmarkt und gekreuzigt.

Von den einfachen Menschen aber, die Jesu zuhörten heißt es:

‹Sie waren außer sich über seine Lehre, denn er lehrte wie einer, der Vollmacht hat.›

Und dann fügten sie vergleichend hinzu, ‹nicht wie die Schriftgelehrten› (Mk 1,22 / Mt 7,28f.).

Mit diesem Vergleich ist sein Schicksal besiegelt. Die Schriftgelehrten werden ihm das nie verzeihen. Sie machten ihre Zuhörer klein; Jesus hob sie über sich selbst hinaus.

Dadurch war der verhängnisvolle Ausgang seiner Karriere praktisch unausweichlich. Gegen alle autoritären Machtansprüche einzutreten, hat nicht nur religiöse, sondern auch politische Konsequenzen. Das wissen wir. Die letzte Konsequenz für Jesus war seine Kreuzigung.»

3. Auf der Suche nach einem heilen und heilenden Gottesverständnis (2005): Die Gotteserfahrung Jesu und sein Heilen, 77-80:

«Wir wissen nicht so viel über Jesus, wie manchmal behauptet wurde, aber doch mehr als manchmal zugegeben wird. Ich beschränke mich hier auf vier Tatsachen, die heute kein Wissenschaftler bestreitet, der sich mit Jesus als geschichtlicher Gestalt befasst. Er war Heiler, er nannte Gott ‹Abba›, er verkündete eine neue Gesellschaftsordnung, die er ‹Reich Gottes› nannte, und er lehrte in Gleichnissen. Diese nackten geschichtlichen Tatsachen, die allen Interpretationen vorausgehen, genügen um zu zeigen, dass Jesu Heilungen untrennbar damit verbunden sind, dass er aus mystischer Sicht seine Gesellschaft reformierte und die von ihm ererbte Religion umgestaltete. Sein Gottesbild entsprang seiner mystischen Erfahrung, floss über in seine Vision einer heilen Gesellschaft und erreichte deren einzelne Mitglieder mit psychischer und physischer Heilkraft.

Vor Jesus war ‹Abba› als Anrede Gottes selten. Es drückt sich darin eine Vertrautheit zu Gott aus, die unserem deutschen Wort ‹Vater› fehlt. ‹Papa› kommt da schon näher. Eigentlich umfasst ‹Abba› den vollen Gefühlsgehalt, der für uns heute anklingt, wenn wir von ‹Mütterlichkeit› sprechen.

Dies stand im Gegensatz zu der im Alten Testament vorherrschenden Vorstellung von Gott als kosmischem Monarchen, die in der religiösen Haltung von Jesu Zeitgenossen, den Pharisäern, Ausdruck fand. Sie stellten sich Gott als von uns durch Heiligkeit getrennt vor. Daher ihre Bemühung, sich zu heiligen, indem sie sich von allen trennten, die als ‹unrein› galten. ‹Heiligkeit durch Reinheit› war ihr Ziel.

Jesus dagegen steht in einer mystischen Tradition des Alten Testamentes, in welcher die Nähe Gottes das Gottesbild bestimmt. Verbundenheit durch Mitgefühl und Barmherzigkeit, nicht Reinheit durch Trennung ist hier Ziel des spirituellen Weges.

Die Bemühung der Pharisäer um Reinheit führte zu gesellschaftlicher Spaltung. Nur die Wohlhabenden konnten es sich leisten, die peinlich genauen Reinheitsvorschriften zu befolgen. Die ungewaschene Menge der Armen war ausgeschlossen von der Gemeinschaft der Reinen, Gottgefälligen.

Jesus ersetzte diese Gesellschaftsordnung der Exklusivität durch eine solche allumfassende Barmherzigkeit. Das fand Ausdruck in seinem schockierenden Umgang mit ‹schlechter Gesellschaft›. Er setzte sich mit allen an den Tisch, auch mit Unreinen und Ausgestoßenen.

Das ‹Reich Gottes› war in den Augen Jesu eine von allen Ausgrenzungen geheilte Gesellschaft: rein und unrein, arm und reich, ‹Gerechte› und ‹Sünder› ‒ alle sind sie von Gottes bedingungsloser Liebe umarmt. Und nicht nur Menschen: die Vögel des Himmels und die Blumen des Feldes ‒ die ganze Natur ist in dieser neuen Ordnung eingeschlossen.

Das ganze Universum ist die Gottes-Familie, in der jeder Zuhause ist, weil alle Gottes Kinder sind. Von solchem Zugehörigkeitsbewusstsein fließt eine heilende Kraft aus. Daher auch die enge Verbindung zwischen Heilung und Sündenvergebung.

Sein Gottesbild, das auf mystischer Erfahrung gründet, erlaubt Jesus, den Ausgestoßenen zu verkünden, dass Gottes Barmherzigkeit ihre ‹Sünden› vergeben hat, obwohl religiöse Autoritäten sie ihnen vorwerfen.

Es sollte uns nicht erstaunen, dass Vertrauen in diese neue Weltsicht Blinde sehend machte, und dass der Glaube an diese Frohbotschaft Taube wieder hören ließ. Noch öfter berichten die Evangelien, dass Jesus Lahme heilte; sie konnten wieder auf ihren eigenen Füssen stehen und das entsprang einem ganz neuen Selbstbewusstsein. Die Gleichnisse Jesu sind Grundlage eines vorher nie da gewesenen menschlichen Selbstbewusstseins durch Verinnerlichung göttlicher Autorität.

Das typische Gleichnis Jesu beginnt mit einer Frage, die sich an den gesunden Menschenverstand richtet. Wer von euch weiß nicht, wie selbst ein widerspenstiges Kind den Eltern am Herzen liegt? Wer von euch weiß nicht, wie wichtig und teuer ein Ding wird, im Augenblick wo wir es verlieren? Wer von euch weiß nicht, dass man beim Unkrautjäten leicht auch den Weizen ausreißen könnte.

Indem Jesus so den gesunden Menschenverstand seiner Hörer herausfordert, bringt er sie dazu, diesen auch auf ihre Weltsicht, ja auf ihr Gottesbild anzuwenden.

Was dahinter steht ist verblüffend: Jesus beruft sich auf die Stimme der göttlichen Autorität, nicht in heiligen Texten und Lehren, sondern in den Herzen seiner Hörer.

Er stellt sie sozusagen auf ihre eigenen Füße. Nichts können verunsicherte Obrigkeiten weniger dulden als das; und das gilt für religiöse sowohl wie für politische Autoritäten. Damit ist das Schicksal Jesu besiegelt: er muss eliminiert werden. Obrigkeiten sind zu jeder Zeit an dem Bild Gottes als kosmischem Monarchen interessiert. Dieses stellt ja die Spitze einer Machtpyramide dar, in der sie sich um die nächsthöhere Position streiten.

Jesus ersetzt diese vertikale Machtstruktur durch horizontale Vernetzung.

‹Die weltlichen Könige herrschen, und die Gewaltigen heißt man gnädige Herren. Ihr aber nicht also! Sondern der Größte unter euch soll sein wie der Jüngste und der Vornehmste wie ein Diener› (Mt 20,25f. / Lk 22,25f.).

Das verlangt ein völliges Umdenken, nicht nur politisch, sondern auch theologisch: der Gott hierarchischer Ferne wird von Jesus als Gott mystischen Nahseins erlebt und verstanden ‒ als Vater, mit dem er als Sohn im heiligen Geist liebender Lebendigkeit verbunden ist.

Die Heilung, die jene erfahren, die Jesus folgen, hat ihre Wurzeln in der Gemeinschaft mit Gott im eigenen Herzen.

Wer sich darauf einlassen will, kann jederzeit selber erfahren, dass uns die göttliche Wirklichkeit ‒ das alles übersteigende Mehr ‒ auf dreifache Weise bewusst wird: als der unauslotbare Seinsgrund, aus dem wir kommen und auf den wir bezogen bleiben; als das abgründige Geheimnis, das wir uns selber sind; und als das Leben, die Liebe, und das Verstehen, die uns durchpulsen und doch unendlich über uns hinausgehen.

Erst später projizierten die Theologen diese persönliche Erfahrung von dem Gott, in dem wir ‹leben, weben und sind› (Apg. 17,28) ‒ auf einen ganz andersartigen, von uns getrennten, theistischen Gott im Jenseits.

Hier stoßen wir auf den entscheidenden Unterschied zwischen der Gottesvorstellung, die auf Jesus zurückgeht, und ihrer theistischen Uminterpretation.[7]

Der Schritt vorwärts auf ein lebensförderndes Gottesverständnis hin verlangt von Christen heute eine Rückbesinnung auf das Gottesverständnis Jesu.»

4. Unsere Zukunft: das Reich des Kindes (1987): «Wo stehen wir?»:

«Und wenn wir uns dieser Botschaft unvoreingenommen öffnen, so werden wir finden, dass Jesus von Nazareth kein Religionsstifter war, sondern dass in ihm ein menschheitsgeschichtlicher Durchbruch stattgefunden hat: In ihm finden wir menschlichen Universalismus erstmals umfassend verwirklicht.

Dieses wird allerdings nur verständlich, wenn wir Jesus von Nazareth als Mystiker sehen. Nur als Mystiker können wir ihn verstehen. Und der Grund dafür liegt darin, dass wir selber Mystiker sind.

Auch wir kennen eben jenes mystische Erleben des Aufgehobenseins in der Gegenwart, aus der heraus Jesus ausdrücklich spricht ‒ jenes mystische Aufgehobensein, das sich bei ihm ausdrückt als tiefste Intimität mit Gott.

Aus diesem Erleben heraus spricht Jesus Gott als ‹Abba› an, und aus ihm heraus versteht er sich als Gotteskind. Und auch wir erfahren ja dieses Gotteskind in uns, auch wir fühlen uns in diesen besten Augenblicken als Kind dessen, der uns ent-gegenwartet. Wir fühlen uns aufgehoben, wie man bei einer Mutter aufgehoben ist ‒ und tatsächlich schwingt ja in ‹Abba› sehr viel Mütterliches mit im Gegensatz zu unserem Wort ‹Vater›.

Aus diesem auch uns bekannten mystischen Erleben heraus also spricht Jesus, und was er sagt, begreifen wir dann erst richtig, wenn uns klar wird, auf welche Autorität sich Jesus beruft.

Wir scheinen uns diese Frage noch nicht so genau überlegt zu haben. Wen immer wir fragen, auch unter gebildeten Christen, wird sagen, Jesus spricht mit der Autorität Gottes, die sozusagen hinter ihm steht. Tatsächlich aber erlaubt kein einziger Satz in den Evangelien, das so zu sehen. Jesus beruft sich vielmehr auf die Autorität Gottes in den Herzen seiner Hörer. Schauen Sie sich doch die Evangelien ‒ vor allem die synoptischen ‒ einmal genau daraufhin an. Sie werden feststellen, dass Jesus sich immer wieder auf die Autorität Gottes in den Hörern beruft. Und die typische Form, in der dies geschieht, ist die Gleichnisrede.

Sogar auf die ausdrückliche Frage ‹Mit welcher Vollmacht tust du dies? Wer hat dir diese Autorität gegeben›? (Mt 21,23-27) antwortet Jesus nicht, mit der göttlichen Autorität in mir, sondern auch hier richtet er sich an den Geist Gottes in den Herzen derer, die ihn fragen, indem er zurückfragt: mit welcher Autorität hat Johannes der Täufer gesprochen und gehandelt, mit göttlicher oder menschlicher Autorität? Und es heißt, da getrauten sie sich nicht, ihm zu antworten. Denn sie dachten sich, wenn wir sagen, mit göttlicher, dann sind wir überführt; wenn nämlich Johannes mit göttlicher Vollmacht sprach, warum dann nicht er? Wenn wir aber sagen, mit rein menschlicher Autorität, dann fallen die einfachen Leute über uns her:

Die einfachen Leute, das sind die, die viel unkomplizierter nach dem Hausverstand leben, weil sie nicht so viel zu verlieren haben. Als Professor an einer Universität hat man viel zu verlieren, dann lebt man lieber nach den Spielregeln der Universität. Und als Angehöriger einer Korporation lebt man nach den Spielregeln der Korporation. Auf diese Weise stecken wir alle in irgendeiner Gemeinschaft mit eigenen Spielregeln und lassen uns daran hindern, die Wahrheit zu sagen und nach der Wahrheit zu leben.

So lassen wir uns alle tyrannisieren von gesellschaftlichen Zwängen und davon abhalten, wirklich lebendig zu werden.

Es fällt uns offensichtlich nicht schwer, unter solchen Zwängen zu leben.

Nichts fällt uns schwerer, als auf eigenen Füßen zu stehen. Wir wollen keine Verantwortung tragen. Wir beruhigen uns, in dem wir sagen: wir tun ja nur, was jeder tut. ‒ Ist es aber deshalb richtig? Sehen Sie, hier liegt die wirkliche Krise, und die Herausforderung des Christentums.

Und das führt uns nur zu dem frühzeitigen und furchtbaren Ende der Geschichte Jesu: Jeder, der das Kind in sich, das göttliche Kind, sprechen lässt, kommt unausweichlich mit den Autoritäten um uns in Konflikt.

Wir leben in einer Welt autoritärer Macht, die alles unterdrückt. Die wahre Autorität des Geistes unterdrückt nie, sie  b a u t  auf.

Dieser Vollmacht aber steht eben die Autoritätsordnung unserer Welt gegenüber, von der sich sogar die Apostel nicht so ganz freizumachen vermochten. So wehrt sich beispielsweise Petrus (Joh 13,8): ‹Nie sollst Du mir die Füße waschen›! Damit meint er doch, dass es eine Ordnung gibt in der Welt, ein Oben und Unten, und dass danach Jesus ‹über ihm steht›. Aber dahinter steht wohl ein bisschen die Haltung: früher oder später werde ja ich oben stehen, und dann will ich eben auch nicht anderen die Füße waschen müssen.

Mit anderen Worten: Jesus bringt uns in eine  t o t a l e A u t o r i t ä t s k r i s e , die wir bis heute, 2000 Jahre später, noch nicht bewältigt haben. Er sagt uns: In der Welt, da lassen sich die Mächtigen gnädige Herren nennen und unterdrücken alle. ‹Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Sklave sein› (Mt 20,25f.).

Nicht dass wir nicht gern einander dienen würden; aber so zu sprechen und handeln, wie es der Geist eingibt, das führt eben unweigerlich zum Konflikt mit den führenden religiösen und politischen Mächten, die, sofern sie autoritär sind, alles unterdrücken wollen.»

Und so kam es ja dann auch zu jener eigenartigen Mischung von religiöser und politscher Todesstrafe. Jesus wurde von den religiösen Autoritäten den politischen Machthabern ausgehändigt; das Kreuz war eindeutig eine Strafe für politische Verbrecher. Das Wirken des Geistes hat eben unausweichlich auch politische Implikationen. Er ist allumfassend.

Doch das Kreuz darf ja nicht isoliert gesehen werden. Es ist unlöslich verknüpft mit der Auferstehung, mit Ostern, mit Leben. Und Pfingsten bedeutet den Durchbruch dieses Lebens.

Ja, er ist gestorben; er wurde aufgehoben, ausgelöscht.

Aber zugleich wurde er hinaufgehoben – Himmelfahrt ist der symbolische Ausdruck für diese Aufhebung.

Und zugleich ist er auch aufgehoben in seinem ureigensten Sein – so aufgehoben, dass dieses Sein niemals wieder verloren gehen kann. – Und aus diesem Geist leben nun die Gläubigen, das heißt diejenigen, die sich vertrauend auf dieses Geschehen verlassen. ‹Sich darauf verlassen› – wie wunderschön – und  w o r a u f  verlassen sie sich? Auf den Geist, der uns alle gemeinsam erfüllt, auf diesen Geist-Atem, über den wir, wie wir sahen, mit allem verbunden sind.»

5. Weitere Audios

5.1. Was bedeutet uns Jesus Christus heute? (2004):
(04:22) Die Evangelien sind Bekenntnis zu Jesus, aber sie haben einen ganz wesentlichen geschichtlichen Kern und dieser bescheidene, aber äußerst schwerwiegende Kern ist völlig ausreichend für unser Verständnis für das ungeheure Gewicht seiner Persönlichkeit:
(05:50) Jesus ist Mystiker und hat Gott mit dem Kosenamen Abba, Vater angesprochen.
(12:41) Jesus spricht vom Reich Gottes
(16:17) Jesus hat in Gleichnissen gesprochen
Themen des Vortrags mit Link zu weiterführenden Texten und Audios von Bruder David:
(25:11) ‹Dieses Gottesbild, das jedem Menschen zugänglich ist, ist nicht theistisch›

(28:40) ‹So wurde es uns dargestellt›
(42:04) ‹Jesus war ja nicht göttlich, trotzdem er Mensch war ‒ er war göttlich, weil er Mensch war›

5.2. TAO der Hoffnung (1994)
Den Frieden hinterfragen; siehe auch Reich Gottes ‒ erlösende Kraft: Ergänzend: 1.1.
Vortrag:
(29:00) Wie Jesus auf die Frage der Hohenpriester und Ältesten antwortet auf ihre Frage: ‹Mit welcher Vollmacht tust du das›? (Mt 21, 23-27) – Viele wandten sich von ihm ab (Joh 6,66)

5.3. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
Highlights aus dem Gespräch von 4.1 mit Lama Sogyal Rinpoche in 9 Themen zusammengestellt:
Wie Jesus die Auffassung von Autorität revolutioniert

5.4. Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Dialog mit David Steindl-Rast
Teil 3:

(29:09) Wie Jesus uns ermächtigt ‒ er traut uns etwas zu: ‹Du kannst das doch›! ‒ einander etwas zutrauen

5.5. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn:
(12:11) ‹Abba›: Wie Jesus seinen himmlischen Vater anspricht im Unterschied zum Begriff Gott Vater in der Religionsgeschichte

(15:00) Jesus als Mystiker verstehen
Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn:
(00:00) Die Kernaussage: ‹Jesus Christus ist Kyrios› zielt für uns heute auf den entscheidenden Punkt im Autoritätsanspruch Jesu: Er verlegt die Autorität Gottes in die Herzen seiner Hörer.
(10:23) Mit Jesus bricht durch,
[8] was in Israel angelegt war: Wir sind lebendig mit Gottes eigenem Lebensatem. Jesus ist nicht in erster Linie Verkünder, sondern erinnert uns, dass wir in unserem eigenen Herzen mit dem innersten Gesetz unseres Lebens, in eins mit dem Baugesetz ‒ dem Hologramm ‒ des Kosmos, vertraut sind.]

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[1] Reich Gottes ‒ erlösende Kraft: Ergänzend: 2.2.:

«Das Neue, das mit Jesus anbricht, fasst Markus (1,15) ganz klar zusammen: ‹Die Zeit ist erfüllt› (jetzt), ‹Das Reich Gottes ist herbeigekommen› (hier). Ihr seid also erlöst. ‹Tut Buße und glaubt die Botschaft›

Nun hängt alles daran, was wir darunter verstehen: ‹Tut Buße›! ‒ Es gibt eine weltliche Auffassung von Buße, und es gibt eine christliche Auffassung.

Buße tun heißt umdenken. Dass wir das mit ‹Buße tun› übersetzen, ist etwas gefährlich, etwas zu weltlich. Die weltliche Auffassung von Buße ist alt: Wir haben etwas falsch gemacht, und wir müssen es jetzt so schnell wie möglich gutmachen. Das Beste, was dabei herausschauen kann, ist Flickwerk, und auch das gelingt uns selten, wie wir wissen.

Das Neue ist: Gott hat es getan! Es ist bereits geschehen. Wir sind erlöst. Wir müssen nur umdenken, neu denken. Es heißt nicht: Tut zuerst Buße, und glaubt danach! Sondern: Tut Buße, indem ihr umdenkt und glaubt, was zu gut scheint, um wahr zu sein.»

[2] Ausführlich in Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011  und im Buch Erkenntnis (2023)

[3] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Dialog, 1996-2006, 164:

«Wenn wir aus dem Bewusstsein der Fülle leben, was viel realistischer ist als die Vorstellung von Mangel, dann stehen wir auch ganz anders zu einer Krise. Dann ist die Krise nicht das Ende von allem.

‹Krise› stammt von der selben Sprachwurzel wie das Wort ‹Sieb›. Krise bedeutet ein Aussieben. In jeder Krise scheidet sich das, was lebensfähig ist, vom dem, was nicht mehr überlebensfähig ist. Das ist ein ähnlicher Prozess wie in der Natur: wenn sie die ausgetrockneten Hüllen abstreift, damit die jungen Blätter sich frei entfalten können.»

[4] Heiliger Geist ‒ Lebensatem Gottes;   Sinn ‒ dreifaltiges Mysterium: Anm. 9; Dreifaltigkeit: Ergänzend: 1.6.;
TAO der Hoffnung (1994): Diskussion nach dem Vortrag:
(08:23) Den dreifaltigen Gott von innen her verstehen (1 Kor 2,10-12)

[5] Audio Löwe Lamm und Kind (1992): Vortrag, transkribiert (25:21-36:05)

[6] Audio TAO der Hoffnung (1994)
Den Frieden hinterfragen ‒
Vortrag bei der Stiftung Gewaltfreies Leben, transkribiert (30:59-34:25); siehe auch Reich Gottes ‒ die Vision leben: Ergänzend: 7.

[7] Siehe auch Gott: Ergänzend: 3.1., Auszug aus: Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003)

[8] Reich Gottes - erlösende Kraft: Ergänzend: 1.2.:
(48:20) ‹Und das war nichts Neues, das war nur ein Durchbruch des Ältesten, so wie immer das Neuste der Durchbruch des Ältesten ist, auch heute›, denn schon in der ersten Seite der Bibel, im Schöpfungsmythos steht, dass wir Menschen ‒ Adam, der Mensch ‒ wir alle ‒ lebendig sind mit Gottes eigenem Lebensatem: Wir leben mit Gottes eigenem Leben.›



Quellenangaben

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