LEBENSTHEMEN und SCHLÜSSELBEGRIFFE

LEBENSTHEMEN und SCHLÜSSELBEGRIFFE

Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

«Wolkengestalten in ihren pausenlosen Verwandlungen
erstaunen und begeistern mich,
schon seit ich mit Kinderaugen
ihrem Dahinziehen in die Ferne folgte.
Und seither hat jeder Tag ‒
so viele Jahre und Jahrzehnte lang ‒
neue Wunder an Wolkengestalten vor mir aufgetürmt
und an mir vorüberziehen lassen.
Alles, was ich an Wandel der Welt
erleben durfte in meinem langen Leben
‒ und es war viel ‒,
fand im Wandel der Wolken sein Widerspiel.
Das Stürmen der Zeit und Stürme im Luftraum:
Stimme und Gegenstimme im Kontrapunkt
der einen großen polyphonen Musik
und darüber gewölbt Deine Stille
als ungetrübtes Blau des Himmels.

Ich will lernen, mich dem Wandel
nicht zu widersetzen.
In meinem Leben kann ich so wenig aufhalten
wie am Wolkenhimmel.
Lass mich Schritthalten lernen ‒ Tanzschritt.
Amen»

«Bewegung in zahllosen Formen,
das ist doch eigentlich
,
was wir das Leben nennen.
Vom Kreisen der Galaxien,
Sonnen und Planeten zum Kreisen
der Falken, ihrem Hinabsausen
und dem Zappeln der Maus;
vom plötzlichen Aufblühen der
Feuerwerksraketen zum sachten Entfalten
der Wiesenblumen; vom Flug des Pfeiles
zum Fallen plumper Pflaumen,
Bewegungen von Fliehen und Erhaschen,
von Mühe und Entspannung,
Einschlafen und Erwachen.

Aber auch die Bewegung aufsteigender
Dankbarkeit, sprießenden Verliebtseins,
stiller Verinnerlichung.
Verinnerlichung hinein in eine Stille,
die nicht Stillstand bedeutet,
sondern bis zum scheinbaren Stillstand
geballte Bewegung ‒
wie der Flügelschlag des Kolibris.
Aus dieser Mitte lass jede letztlich
ein Empfangen und Weiterschenken werden,
ein Geben und Nehmen zwischen Dir und mir.
Amen.»

(Bruder David: Erwachende Worte (2023): ‹Meditative Gebete›, 55 und 105)

«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines
Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Zu diesem Strömen gehört auch das Fließen
meiner Lebenszeit in die Ewigkeit.
Schon jetzt ist Ewigkeit gegenwärtig in der Zeit,
so wie unsichtbares Licht gegenwärtig ist
in allem, was ich sehe.
Weil ich hier im Diesseits
Ewigkeit in der Zeit erlebe,
darf ich mir vorstellen,
dass im Jenseits Zeit in Ewigkeit aufgehoben ist.
Übergangspunkt ist meine Sterbestunde.
Wann sie kommen wird, weiß ich nicht,
aber jeden Tag durchlaufe ich diesen Punkt.
Daran will ich heute denken
und jede Stunde so
vollbewusst leben,
als wäre es meine letzte. Amen.»

(Bruder David: Du großes Geheimnis (2019): ‹Gebete zum Aufwachen›, 56)

Das Leben will Wandlung ‒
in immer glühendere Lebendigkeit
auf immer höheren Ebenen.
(98 und 101)

Rilkes Sonett «Wolle die Wandlung» ist ein Weckruf zu wacher Lebendigkeit:

«Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert,
drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt;
jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert,
liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt.»

(Rilke: ‹Wolle die Wandlung›:
Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XII) (100)

«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines
Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Es wird mir immer klarer, dass ich
vor allem für den verschwindend kurzen
Zwischenraum zwischen einem Gedanken
und seiner Ausführung wach sein muss,
um wirklich achtsam zu leben.
In dieser haardünnen Zeitritze
scheinen Entscheidungen Platz zu haben,
auf die alles ankommt ‒
etwa die Entscheidung, ob ich ein Wort,
das mir schon auf der Zunge liegt,
sagen soll, oder es verschlucken.
Ungesagt kann ich es nachher
nicht mehr machen.
Oft wird mir das erst zu spät bewusst.
Heute will ich auf diesen Drehpunkt achten.
Amen»

(Bruder David: Du großes Geheimnis, 87)

«Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte;
wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau's?
Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte.
Wehe –: abwesender Hammer holt aus!»

(Rilke: ‹Wolle die Wandlung›) (100)

«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines
Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

An manchen Tagen scheint alles schon
beim Aufstehen zu klemmen.
Alles stockt irgendwie.
Ich kann nur tief durchatmen
und mich Dir anvertrauen,
Du Lebensstrom,
an dem mein Atmen teilnehmen darf.
Dann denke ich an alles,
was in der großen Welt draußen klemmt,
an Stellen, wo Austausch stockt
und Beziehungen brechen.
Und weil alles mit allem zusammenhängt,
kann ich überall, wo Leben nach Heilung schreit,
Dich, Du Lebenskraft, hineinatmen.
Lass das nicht eine Art Magie sein,
sondern Fürbittgebet für meine Lieben.
Amen.»

(Bruder David: Du großes Geheimnis, 52)

«Wer sich als Quelle ergießt, den erkennt die Erkennung;
und sie führt ihn entzückt durch das heiter Geschaffne,
das mit Anfang oft schließt und mit Ende beginnt.»

(Rilke: ‹Wolle die Wandlung›) (100)

«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines
Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Dieses Strömen von allem ist doch zugleich
auch ein Kreisen:
Alles kehrt zu seinem Ursprung zurück,
wie Wasser verdunstet,
aber als Regen zurückkehrt;
wie Erde sich verwandelt in Lebendiges,
das wieder zu Erde wird.
Kreisläufe vermitteln Geborgenheit.
Darum will ich in allem,
was kreist ‒ im Kreisverkehr,
in den unzähligen Rädern ‒,
nicht nur das Hinwegreißende
beachten, sondern das
im Kreislauf Ruhende.
So kann mein Anschauen den tollen Wirbel
in einen gelassenen Rundtanz verwandeln.
Heute soll Reigentanztag werden ‒
Dir zu Ehren. Amen.»

(Bruder David: Du großes Geheimnis, 59)

«Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von Trennung,
den sie staunend durchgehn. Und die verwandelte Daphne
will, seit sie lorbeern fühlt, dass du dich wandelst in Wind.»

(Rilke: ‹Wolle die Wandlung›) (100)

«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines
Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Du schenkst mir den Morgenwind;
der mir Stirn, Wangen und Ohren streichelt.
Er tut es ohne Absicht, hat kein Ziel.
Er weht eben.
Er ist reines Verschenken.
So wünsche ich mir mein eigenes Dasein.
Hast Du es nicht so gemeint?
Mein Leben vergeht so oder so.
Ich will es nicht auströpfeln lassen
wie Wasser durch ein Loch im Eimer.
Lass es mich willig verströmen
und freudig verschenken an alle,
die mir begegnen, und durch alles,
was ich tue ‒ am heutigen Tag
und immer. Amen.»

(Bruder David: Du großes Geheimnis, 15)

«Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert,
drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt;
jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert,
liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt.

Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte;
wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau's?
Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte.
Wehe –: abwesender Hammer holt aus!

Wer sich als Quelle ergießt, den erkennt die Erkennung;
und sie führt ihn entzückt durch das heiter Geschaffne,
das mit Anfang oft schließt und mit Ende beginnt.

Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von Trennung,
den sie staunend durchgehn. Und die verwandelte Daphne
will, seit sie lorbeern fühlt, dass du dich wandelst in Wind.»

(Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XII) (100)

[Obiger Text ist eine Komposition mit Auszügen aus dem Buch von Bruder David und Alexandra Kreuzeder: HerzWerk (2025): ‹Freude finden mit Rainer Maria Rilkes ‹Sonette an Orpheus›,98, 100f., und Gebeten von Bruder David in Erwachende Worte (2023) und Du großes Geheimnis (2019)]

[Ergänzend:

‹Wolle die Wandlung›

1. Video Leben in Zeiten der Bedrängnis (2017) und Transkription; siehe auch Abschied, der Klang des Lebens und Abschied, Wandlung, Aufheben:

(15: 36) «Und was hindert uns daran so zu überleben? So zu überstehen?

Was uns hindert ist Furcht. Furcht vor Wandel. Wir wollen, dass alles immer bleibt. Wir fürchten den Wandel. Und da sagt Rilke im Sonett: ‹Wolle die Wandlung›:

Wenn es still ist und wir uns ins Bleiben verschließen wollen, ist das nur die Stille vor dem Sturm, nur die Stille vor dem Hammer, der schon ausholt. Denn nichts kann sich dem Bleiben verschließen: das Leben ändert sich ständig. Und das macht uns Angst.»

2. Audio So leben wir und nehmen immer Abschied (2009); siehe auch Sterben und Wandlung: Ergänzend: 1.
Vortrag:

(36:46) ‹Wolle die Wandlung›

3. Einsichten aus Rilkes Dichtung mit Bruder David in Flüeli-Ranft (2014): Audio Tag 5-1 ab (48:52), transkribiert in Teil II, 150-155.

In den Vorträgen im Haus St. Dorothea in Flüeli-Ranft vom 14.-18. September 2014 bildete dieses Sonett ‒ wie auch ‹Sei allem Abschied voran› ‒ das Herzstück dieser vier intensiven Tage.

4. Im Buch HerzWerk (2025): ‹Wolle die Wandlung› (Die Sonette 2. Teil, XII): ‹Sich nicht ins Bleiben verschließen›, 100-107:

« … ‹in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt›:

Wen erinnert das nicht an die Vorliebe antiker Meister für den Wendepunkt einer Figur in Bewegung ‒ etwa beim berühmten Diskuswerfer des Myron. Nur deshalb wirken antike Skulpturen so lebendig, weil es dem Bildhauer gelang, den Augenblick der Stille im ‹Schwung der Figur› festzuhalten ‒ ein Bild für das Jetzt, in dem der ganze Ablauf von Vergangenheit und Zukunft Gegenwart wird.» (101f.)

«Die Verweigerung der Wandlung nennt Rilke hier das Bleiben ‒ verschlossen und erstarrt ‒, das Gegenteil vom ständig sich wandelnden Leben. Aber ‹jener entwerfende Geist›, das innerste Lebensprinzip, will Lebendigkeit und kann das Erstarrte nicht dulden. Man sollte diese warnenden Verse laut lesen und die Pause nach dem ‹Wehe› erleben, um ihre Drohung hautnah zu fühlen: ‹Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte. Wehe ‒: abwesender Hammer holt aus›!

Die Stille, in die sich alles zurückzieht, was sich ins Bleiben verschließt, ist ein grau verstaubtes duckmäuserisches Stillhalten, nicht die horchende Stille, wie Tiere sie uns vorleben.[1] Sie ist die unheilschwangere Stille vor dem Donnerschlag ‒ bevor der noch abwesende Hammer niederkracht.» (102)

«Aber wenn die Verkrustung dessen zerschlagen ist, was sich ins Bleiben verschließt, kommt alles wieder ins Fließen. ... Wir dürfen uns einfühlen in dieses Uns-Ergießen und in jenes Völlig-erkannt-Werden, nach dem wir uns zutiefst sehnen. Mit dieser Haltung werden wir uns ‹entzückt durch das heiter Geschaffne› führen lassen und erst solche Hingabe wird uns so recht die Heiterkeit der Schöpfung erleben lassen. Wir werden einbezogen in den großen Reigentanz alles Geschaffenen, in dessen Kreis Anfang und Ende eins sind.» (102)

«Das letzte Bild dieses Sonetts spielt auf einen griechischen Mythos an. Die Nymphe Daphne flieht vor der ungestümen Begierde Apollos und wird von Zeus zur Rettung in ein Lorbeerbäumchen verwandelt. Rilke stellt diese klassische Ikone der Verwandlung ans Ende dieses Sonetts und wandelt zugleich dessen Anfang ab, indem er die Blickrichtung umkehrt.

Hieß es am Beginn ‹Wolle die Wandlung ... drin sich ein Ding dir entzieht›, geht es am Schluss um die Verwandelte, die sich dir durch ihre Wandlung entzogen hat, und sie will etwas von dir: ‹dass du dich wandelst›.

Meisterhaft weist Rilke durch diese Umwandlung vom Ende auf den Anfang zurück. Er tut es, scheint mir, mit einem schelmischen Lächeln. Er weiß aus Erfahrung, dass jede Daphne ‹mit Verwandlungen prunkt›, und will, dass du dich wandelst, je nachdem, wie sie sich fühlt. Wenn sie sich lorbeerartig  f ü h l t, so ist es eben notwendig, ‹dass du dich wandelst in Wind›. Das stellt deine Liebe auf die Probe. Echte Liebe gibt Kraft zur Wandlung.»]

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[1] Im Buch HerzWerk (2025): 2. ‹Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung› (Die Sonette 1. Teil, I): ‹Orpheus und Christus, 23 und 29:

«Tiere aus Stille drangen aus dem klaren
gelösten Wald von Lager und Genist;
und da ergab sich, dass sie nicht aus List
und nicht aus Angst in sich so leise waren,

sondern aus Hören. Brüllen, Schrei, Geröhr
schien klein in ihren Herzen.»



Quellenangaben

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