Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
[Video ab (36:46)]: «Der Geschmacksinn ist eigentlich der innerlichste unserer Sinne. Es ist kein Zufall, dass das lateinische Wort für Weisheit ‒ sapientia ‒ eigentlich ein innerliches Schmecken heißt. Wörtlich ist sapientia ein innerliches Schmecken.
Und die tiefste Weisheit des Herzens besteht darin, einen Geschmack für die Welt zu entwickeln.
Und wie sollen wir das tun, wenn wir es nicht auch sinnlich mit unserer Zunge, mit unserm Geschmack lernen? Das ist eine sehr spirituelle Aufgabe wie mit all den andern Sinnen. Es handelt sich einfach darum, wirklich lebendig zu werden, wirklich aufzuwachen zu der Tiefe und Fülle des Lebens.
(38:40) Diese Art der Spiritualität, diese Art wirklich lebendig zu sein, und die Askese der Sinne, die dazu führt, ist im wahrsten Sinne allumfassend und also im echten Sinne katholisch. Sie schließt sich der ganzen Welt auf. Und das ist unsere große Aufgabe.
Das Kind in uns ist immer Dichter, bleibt Dichter. Und es tut das, was der Dichter tut. Es hebt das Sinnliche über den Wandel der Zeit ins Zeitlose hinaus.
(40:09) Das Erlebnis ist nicht vollendet, bevor es nicht in Erinnerung übergeführt wird. Diese Verwandlung von Sinneserfahrung in Erinnerung ist eine Verwandlung aus dem Sichtbaren, Schmeckbaren, Tastbaren, Riechbaren, Hörbaren in einen Bereich des Übersinnlichen.
Der Dichter Rainer Maria Rilke hat das so schön ausgedrückt.[1] Er vergleicht uns Menschen mit Bienen, die den Nektar des Sichtbaren in die großen goldenen Honigwaben des Unsichtbaren sammeln. Das ist unsere große menschliche Aufgabe.
(41:26) Diese Offenheit der Welt gegenüber von der wir hier sprechen, ist etwas so Wunderschönes, so Anziehendes, dass man sich wundern muss, warum wir uns so oft davor verschließen, warum wir nicht so leben, einfach im Alltag, warum man das üben muss. Und die einzige Antwort, die ich finden kann, ist, dass wir uns fürchten. Es kostet uns zu viel, uns dem auszusetzen. Wir wollen auswählen. Wir wollen uns nur dem aussetzen, was uns gut gefällt. Daher verschließen wir uns. Daher engen wir unsern Gesichtskreis ein. Angst verengt uns überhaupt. Angst verengt schon die Blutgefäße. Angst hat zu tun mit Angina, ángina: mit Enge: mit der inneren Enge, mit dem nicht atmen können. Es hat aber auch zu tun mit der Enge des Geburtskanals, durch den wir durchmüssen, um wirklich das Licht der Welt zu sehen, um geboren zu werden. Und das verlangt ungeheuren Mut von uns.
Dieser Mut, dieser Lebensmut, dieses gläubige Vertrauen in das Leben, das heißt im religiösen Sprachgebrauch Glaube. Und der Glaube ist eben einfach diese Offenheit dem Leben gegenüber, diese Bereitschaft für alles, was uns entgegenkommt. Dieses tiefe Vertrauen in die Welt, in das Leben und in den Urgrund und die Quelle des Lebens: Gott, wenn wir es so nennen wollen.
(43:41) Das Einzige, das wir wirklich lernen müssen, und das ist sehr einfach, ist aufzuwachen zu den vielen, vielen Geschenken, die wir täglich empfangen und sie dankbar entgegenzunehmen. Wenn wir wirklich dankbar sind, dann nehmen wir schon ganz spontan die Haltung ein, von der hier die Rede ist. Denn in der Dankbarkeit ist schon das Vertrauen beinhaltet dem Geber gegenüber, dem Gegebenen gegenüber, dem Leben, das uns sich gibt. Wenn wir dankbar sind, sind wir offen für dieses Geben, es in Empfang zu nehmen. Wir sind offen für Überraschungen. In der Dankbarkeit freut man sich über Überraschungen. Man weist sie nicht zurück, sie sind einem willkommen, man ist bereit dafür. Und wir sind auch bereit für dieses Geben und Nehmen, das zur Dankbarkeit gehört, das in Empfang nehmen und das Dank sagen. Und in diesem Geben und Nehmen besteht unsere Zugehörigkeit zu der Welt: unser Daheimsein in der Welt.»
[Bruder David im Buch HerzWerk (2025), 163, 98, 55-57]:
Werner Bergengruen sagt so schön (163):
«Nichts ist, was dich schrecken darf, und du bist daheim.»[2]
Das Leben will Wandlung ‒
in immer glühendere Lebendigkeit
auf immer höheren Ebenen. (98 und 101)
In seinem mit Recht berühmten Brief vom 13. November 1925 an seinen polnischen Übersetzer Withold Hulewicz erklärt Rilke eine grundlegende Einsicht seines Weltverständnisses:
«Alle Welten des Universums stürzen sich ins Unsichtbare,
als in ihre nächst-tiefere Wirklichkeit.»
Und noch einmal, etwas anders ausgedrückt:
«Die Vergänglichkeit stürzt überall in ein tiefes Sein.
Und so sind alle Gestaltungen des Hiesigen
nicht nur zeitbegrenzt zu gebrauchen,
sondern, soweit wirs vermögen,
in jene überlegenen Bedeutungen einzustellen,
an denen wir Teil haben.» (55 und 207)
Uns Menschen fällt bei dieser Verwandlung eine ganz wesentliche Aufgabe zu:
«Unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde
uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen,
dass ihr Wesen in uns ‹unsichtbar› wieder aufersteht.»
In uns also findet nach Rilkes Verständnis die Verwandlung des Sichtbaren in Unsichtbares statt:
«Die Erde hat keine andere Ausflucht,
als unsichtbar zu werden: in uns,
die wir mit einem Teil unseres Wesens
am Unsichtbaren beteiligt sind.» (55)
Um Verinnerlichung geht es bei diesem Prozess und Rilke sagt das ausdrücklich in seiner siebten Duineser Elegie:
«Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen. Unser
Leben geht hin mit Verwandlung. Und immer geringer
schwindet das Außen.»
Verwandlung stellt für Rilke unsere einzigartige Lebensaufgabe als Menschen dar. Wohl deshalb, weil wir Menschen jene Tiere sind, die bewusst am Übersinnlichen Anteil haben.
Für den Dichter besteht offenbar der Reifungsprozess eines Menschenlebens in fortschreitendem Verwandeln, bei dem das Außen immer geringer wird und schließlich verschwindet, wenn aller von uns lebenslang eingeheimster Nektar des Sichtbaren zu Honig wurde ‒ im unsichtbaren Bereich. Er nennt uns Menschen ja
«die Bienen des Unsichtbaren».
«In uns allein kann sich diese intime
und dauernde Umwandlung
des Sichtbaren in Unsichtbares,
vom sichtbar- und greifbar-sein
nicht länger Abhängiges vollziehen,
wie unser eigenes Schicksal in uns
fortwährend zugleich
vorhandener und unsichtbar wird. …
Wir sind, noch einmal sei's betont, …
diese Verwandler der Erde,
unser ganzes Dasein,
die Flüge und Stürze unserer Liebe,
alles befähigt uns zu dieser Aufgabe
(neben der keine andere, wesentlich, besteht).»(56 und 207f.)
Alexandra: In dem wichtigen Brief, den du hier mehrmals zitierst, finde ich das Bild der «Bienen des Unsichtbaren» besonders hilfreich für ein Verständnis von Verwandlung.
Bruder David: Ja, Alexandra, außerordentlich hilfreich. Rilke sagt:
«Wir sammeln voll Leidenschaft ‒
eigentlich ‹ganz in unserer Arbeit aufgegangen› ‒
den Honig des Sichtbaren, um ihn zu speichern
im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren.»
Er schreibt diesen einen Satz auf Französisch:
«Nous butinons éperdument le miel du visible,
pour l'accumuler dans la grande ruche d’or de l’invisible.»
Alexandra: Es war ja tatsächlich die überragende Leidenschaft Rilkes, durch sein Leben und Dichten alles Sichtbare im Bereich des Unsichtbaren zu speichern ‒ es innerlich auf eine höhere Ebene hinaufzuheben und dort sozusagen aufzuheben wie in einer großen goldenen Honigwabe. (56f.)
«So gilt es, alles Hiesige nicht nur
nicht schlecht zu machen und herabzusetzen,
sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen,
die es mit uns teilt,
sollen diese Erscheinungen und Dinge
von uns in einem innigsten Verstande
begriffen und verwandelt werden.
Verwandelt? Ja, denn
unsere Aufgabe ist es.»(57 und 208)
Bruder David: Und dieses Verwandeln ist aus Rilkes Sicht eben unsre große Aufgabe als Menschen:
«Umwandlung des Sichtbaren in Unsichtbares.»
Er versteht «Unsichtbares» als etwas «vom sichtbar- und greifbar-sein nicht länger Abhängiges».
Dabei ist offenbar, dass es Rilke daran liegt, «im Unsichtbaren einen höheren Rang der Realität zu erkennen», wie er ausdrücklich betont (57):
«Der Engel der Elegien ist dasjenige Wesen, das dafür einsteht,
im Unsichtbaren einen höheren Rang der Realität zu erkennen. ‒
Daher ‹schrecklich› für uns, weil wir, seine Liebenden und Verwandler,
doch noch am Sichtbaren hängen.» (213)
[Obiger Text ist eine Komposition mit Auszügen aus der Transkription des Videos Wir sind daheim in dieser Welt (1975) ab (36:46) und dem Buch von Bruder David und Alexandra Kreuzeder: HerzWerk (2025): ‹Freude finden mit Rainer Maria Rilkes Sonette an Orpheus›, 163, 98, 55-57]
[Ergänzend:
‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren›
1. Audios
1.1. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 4
Nachmittag: ‹memento mori› ‒ ‹memento vivere› (Bruder David):
(21:24) Leben im Doppelbereich Leben-Sterben heißt Rühmen auch unter Schatten: ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus), ‹Seidener Faden kamst du hinein ins Gewebe› (Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XX), ‹Nur wer die Leier schon hob auch unter Schatten› (Rilke: Sonette an Orpheus 1. Teil, IX) ‒ ‹And the time of death is every moment› (T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, III) / (26:32) Leben im Doppelbereich Ich-Selbst heißt im Augenblick leben ‒ Warum das Ich? ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke): Nichts geht verloren: ‹All is always now› (T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V) / (31:31) Auferstehung des Fleisches: von allem, was vergänglich ist, unser Leben verborgen in Gott (Kol 3,3)
Siehe auch Jetzt im Doppelbereich und Jetzt und ewiges Leben
1.2. Lebendige Spiritualität (2015) mit Bruder David und Pater Johannes Pausch in vier Gesprächsabenden mit Gedichten und Texten von Rilke
Verstehen durch TUN:
(39:35) ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› ‒ ‹Preise dem Engel die Welt› – ‹Aber weil Hiersein viel ist› (Die neunte Elegie)
Siehe auch Lobpreis des Lebens: Ergänzend: 3.
1.3. Lebensorientierung (2015)
Tag 4:
(27:11) Der Schlüsselbegriff ‹Entwicklung› weist in seiner Doppelbedeutung hin auf unsere Lebensaufgabe, unsern einzigartigen Beitrag im Großen und Ganzen des Selbst: ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren›
Siehe auch in der Nachschrift Tag 4 den Abschnitt mit dem Untertitel: ‹Entwicklung auf zwei Ebenen›
1.4. Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014)
Vortrag:
(30:31) Worum geht es im Leben? Wie begegnen wir dem Sterben und dem Tod?
‹Anreicherung›, Erfahrungsreichtum im Bereich des Geistes unterscheidet sich von ‹Entwicklung›, dem ‹Stirb und Werde› im materiellen, leiblichen Bereich:[3]
Siehe auch die Transkription des Audios:
«Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Wir heimsen den Nektar des Sichtbaren ‒ und das heißt, den Nektar des Sichtbaren und mit allen Sinnen Erfahrbaren: darum leben wir in dieser Körperlichkeit im Bereich der Materie ‒ Wir heimsen den Nektar des Sichtbaren in die große goldene Honigwabe des Unsichtbaren.
Und das ist der Bereich des Geistes. Das ist, was ich Anreicherung nenne, und das kann niemand von außen beobachten, das können wir nur aus eigener Erfahrung, nur von innen her.»
«Und das kann ein großer Trost sein, nicht was äußerlich Beweiskraft hat, aber etwas, das innerlich Trost und Stärke geben kann. Dass wir in diesen großen goldenen Honigwaben etwas ansammeln, was durch unser Sterben, das eben zum Leben gehört ‒ zum Leben gehört das Sterben ‒, überhaupt nicht betroffen wird, sondern eben: Sein ist über den Tod erhaben. Sterben ‒ Tod ist nicht das Gleiche.»
1.5. Einsichten aus Rilkes Dichtung mit Bruder David in Flüeli-Ranft (2014): Audio Tag 3-4 ab (23:55), transkribiert in Teil II, 105-107; siehe auch Rühmen, Er-innern, Aufheben
1.6. Fülle und Nichts (1996)
Vortrag:
(30:42) In der Erinnerung verinnerlichen wir uns, was wir mit den Sinnen nicht mehr erreichen können – Beispiel einer blinden, 83jährigen, Frau
(32:04) ‹Wir Menschen sind die Bienen des Unsichtbaren›
1.7. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Eröffnungsreferat Vortrag:
(22:47) Verleiblichen des Geistigen und Vergeistigen des Leiblichen: Durch die Sinne Sinn finden – ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren›
Der Text des Vortrages Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ist abgedruckt im Tagungsband Schmerz ‒ Stachel des Lebens; siehe S. 23
1.8. Menschenwürde (2019)
‹Würde und unsere Einzigartigkeit›; siehe auch die Mitschrift:
«Jetzt haben wir über die Zugehörigkeit nachgedacht, über die Eigenart könnten wir auch nachdenken: Nicht zwei Menschen, nicht einmal Zwillinge haben den gleichen Fingerabdruck. Das heißt aber auch, dass niemand einen Strauß Tulpen so gesehen hat ‒ vorher oder nachher in der Geschichte ‒, wie jede und jeder jetzt diese Tulpen sieht. Denn was wir da sehen, ist ja nicht nur Licht, das unsere Augen trifft: Sehen heißt, es erleben. Und erleben hängt davon ab, wer wir sind. Wir sind so verschieden voneinander, dass nicht zwei Menschen das gleiche erleben können. Das ist auch unser Beitrag zur Menschheitsgeschichte, dass wir das wirklich erleben.
Rilke sagt: ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren, und wir heimsen den Nektar des Sichtbaren in die große goldene Honigwabe des Unsichtbaren›. Das ist unsere Aufgabe im Leben. Und das mit allen Sinnen zu machen. Und jede und jeder von uns kann das nur ganz anders machen wie alle andern. Wir unterscheiden uns so voneinander!»
2. Texte:
2.1. Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Sinnlichkeit und christliche Askese› (2021), 97f.:
«So gilt es, alles Hiesige nicht nur nicht schlecht zu machen und herabzusetzen, sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen, die es mit uns teilt, sollen diese Erscheinungen und Dinge von uns in einem innigsten Verstande begriffen und verwandelt werden. Verwandelt? Ja, denn unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, dass ihr Wesen in uns ‹unsichtbar› wieder aufersteht. Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l'accumuler dans la grande ruche d'or de l'Invisible.»
Ebd. ‹Die Dankbarkeit der fünf Sinne› (2021), 56f.:
«Wir sind daheim in dieser Welt, und das Kind in uns weiß es. Als Kinder zweifelten wir nicht einen Augenblick daran, dass Liebe diese Welt entwarf. Darum blickten unsere Augen noch ‹mit hellem Mut›. Wir hatten eben noch den Mut, die Welt arglos dankbar als das zu erkennen, was sie ist, als Gabe. Was verdüstert uns dann heute so oft hellen Mut und hellen Blick? Furcht. Wir fürchten, uns auf die Güte des großen Gastgebers zu verlassen; Furcht, uns ehrfürchtig vor dem Geber zu neigen. Wir haben Furcht vor der Ehrfurcht. Und warum? Weil die Ehrfurcht Gott jene Mitte zugesteht, die wir uns so gerne selber anmaßen. Gerhard Terstegen hat mit wenigen Worten zielsicher auf das Entscheidende an der Ehrfurcht hingewiesen: Nicht wir sind in der Mitte, sondern Gott.
‹Gott ist gegenwärtig; lasset uns anbeten
Und in Ehrfurcht vor ihn treten!
Gott ist in der Mitte …›Gerhard Teerstegen: Anbeten vor Gottes Gegenwart
Wir müssen wählen zwischen Ehrfurcht und Furcht. Wer nicht den Mut zur Ehrfurcht hat, der fällt unweigerlich existentieller Angst zum Opfer. Nur die Ehrfürchtigen sind daheim in dieser Welt und wissen es.»
2.2. 99 Namen Gottes (2019): ‹88 al-Ġanī, der REICHE, der niemanden braucht›, 183:
«Wir gehören ja als Menschen dem Vergänglichen an, ragen aber ins Geheimnis hinein, also ins Unvergängliche. Durch uns fließt alles, was unsere Sinne ergreifen, ins unbegreifliche Geheimnis zurück. Darum nennt Rilke uns ‹die Bienen des Unsichtbaren›: Durch alles, was wir tun und erleiden, sammeln wir den Nektar des Sichtbaren in die große, goldene Honigwabe des Unsichtbaren. Dieses Bild zeigt den Strom des Segens als zurückfließend und der REICHE erscheint nun auch deshalb so überreich, weil sein verschenkter Reichtum unaufhörlich bereichert in ihn zurückfließt.
‹So fließt der Dinge Überfluss dir zu.
Und wie die obern Becken von Fontänen
beständig überströmen, wie von Strähnen
gelösten Haares, in die tiefste Schale, so
fällt die Fülle dir in deine Tale,
wenn Dinge und Gedanken übergehn.›
(Rilke: ‹Und du erbst das Grün›: Das Stunden-Buch: ‹Von der Pilgerschaft›)
Du bist einzigartig. Noch nie hat jemand einen Baum genau so gesehen, wie du ihn siehst. Alles, was du von Geburt aus bist, und deine ganze bisherige Erfahrung fließen in dein Schauen ein. Vielleicht willst du heute still und lange einen Baum anschauen und dich daran freuen, dass du dadurch das Universum bereicherst und dem REICHEN den Baum durch dein Schauen bereichert zurückschenkst.»
2.3. Im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 95f.; siehe den Text in Rühmen, Er-innern, Aufheben
2.4. Im Buch Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9. Doppelbereich ‒ Dialog›, 190f.; siehe auch Jetzt im Doppelbereich und Rühmen, Er-innern, Aufheben:
«Erinnerung ist nicht Wiederbringung von Vergangenem, sondern ‹Er-inner-ung›:
Etwas ist ins Innerste eingegangen und gehört nicht nur meinem persönlichen Innersten an, sondern dem Weltinnenraum.
Rilke fasst das in die dichterische Vorstellung, dass wir Menschen die ‹Bienen des Unsichtbaren› sind.
Unser ganzes Leben besteht darin, jeden Augenblick, jede Erfahrung in die ‹große goldene Honigwabe› des Weltinnenraums einzuheimsen.
Nichts kann dort je wieder verloren gehen. Was ich einheimse in diese große goldene Honigwabe, ist mein einzigartiger Beitrag.
Wir sind so verschieden voneinander, dass es wohl nie zwei Menschen gegeben hat, die, sagen wir, eine Rose angeschaut und dasselbe gesehen haben.
Mit meiner einzigartigen Sensibilität reichere ich den Weltinnenraum an.
Ich bereichere ihn mein Leben lang, nicht nur durch alles Angenehme, was ich erlebe, sondern auch durch jedes Leiden. Alles hat Wert und Bestand. Nichts geht verloren.»
Johannes Kaup: «Vom Leiden hoffen wir, dass es ebenfalls verwandelt wird. Deswegen frage ich noch einmal anders: Wird auch die Vergänglichkeit verwandelt?»
Bruder David: «Sie wird schon jetzt verwandelt. Jetzt oder nie.»
2.5. Bruder David im Gespräch mit Anselm Grün im Buch Das glauben wir (2016): ‹Wie kann ich endlich leben? ‒ oder: Über das Sterbliche und das Ewige›, 92f.:
Bruder David spricht vom Unterschied von Ich und Selbst: «Unser Selbst ist nicht in Raum und Zeit, wir erleben es im Jetzt, das über Raum und Zeit erhaben ist. Unser Ich dagegen ist in Raum und Zeit. Menschliche Größe und menschliche Aufgabe zugleich ist es, in diesem Doppelbereich zu leben.
Ich und Selbst durchlaufen dabei,
obwohl vereint,
zwei unterschiedliche Prozesse:
Für mein Ich stellt meine Lebensspanne von der Empfängnis bis zum Tod ein Prozess dar, in dem es um Entwicklung geht ähnlich wie vom Samen über die Blüte zur Frucht, die selbst wieder zu neuem Samen wird.
Beim Selbst geht es nicht um diese Art von Entwicklung, sondern um Entwicklung in einem anderen Prozess, den wir vielleicht Anreicherung nennen könnten.[4] In diesem Sinn verstehe ich, was der Dichter Rilke von uns Menschen sagt:
«Wir sind die Bienen des Unsichtbaren
und heimsen den Nektar des Sichtbaren in die
große goldenen Honigwabe des Unsichtbaren ein.»
Ich sehe den Sinn von allem, was wir in der Zeit an Freude und Leid erleben, in einem Anreichern, einem Einbringen in diese ‹goldene Honigwabe› des Überzeitlichen. Jenseits von Zeit wird das Selbst bereichert durch alle Leiden und Freuden, die wir Zeit unseres Erdendaseins durchstehen.
Im Doppelbereich stehen wir sozusagen auf zwei Beinen, einerseits mit unserem Ich in Raum und Zeit, andererseits mit unserem Selbst im Jetzt, im überzeitlich Bleibenden.
Ich sehe meine Aufgabe in meinem hohen Alter darin, mehr und mehr das Selbst zu meinem Standbein zu machen, bis mein Ich nur mehr das Spielbein ist.
Wenn mein Ich stirbt und nicht mehr da ist, genauso wenig, wie es vorher da war, dann bleibt doch das Selbst ‒ und, im Selbst aufgehoben, jeder Augenblick meiner Zeit mit all seiner Fülle. Ich kann mir das freilich nicht bildlich vorstellen. Auch ein Embryo kann sich ja nicht vorstellen, wie man außerhalb des Mutterschoßes leben könnte. Ebenso kann sich eine Raupe nicht vorstellen, wie es sein könnte, als Schmetterling zu fliegen.»
2.6. Einsichten aus Rilkes Dichtung mit Bruder David in Flüeli-Ranft (2014): Teil II, 105-107; siehe auch Ergänzend: 1.5.
2.7. Ostergrüße 2013]
_____________________
[1] Siehe weiter unten: R. M. Rilke am 13. November 1925 in einem Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz
[2] Werner Bergengruen (1892-1964): ‹POETA CREATOR, Ein Glückwunschgedicht›, in seinem Buch: ‹Die heile Welt: Gedichte›, Zürich, im Verlag der Arche 1952, 158-162; ausführlich in Heim ‒ Heimweg: Haupttext und Ergänzend: 3.
[3] Im Buch Orientierung finden (2021), 52, engt Bruder David den Begriff ‹Entwicklung› nicht mehr auf den Entwicklungsprozess ein, den wir mit andern Lebewesen teilen. Er gibt dem Wort ‹Entwicklung› nun drei Bedeutungen:
ENWICKLUNG, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 134:
«Entwicklung ist ein Wort mit dreifacher Bedeutung. [1] Einerseits bedeutet Entwicklung Entfaltung, etwa im Hinblick auf biologische Prozesse. [2] Das Wort ‹entwickeln› kann aber auch auf Prozesse wie das Aufbauen eines Wortschatzes hinweisen. [3] Und in der Fachsprache der Photografie ist Entwicklung der Prozess, durch den ein Negativ zum positiven Foto wird. Im Sinne dieser drei Prozesse lässt sich in unsrem Lebenslauf von Entwicklung sprechen. Entwicklung bedeutet also Entfaltung, Anreicherung und Verwirklichung von Möglichkeiten. Auch im Hinblick auf Entwicklung im Sinne von Evolution kommt diesen drei Aspekten große Bedeutung zu.»
[4] Überarbeite Fassung im Sinn von Anm. 3