LEBENSTHEMEN und SCHLÜSSELBEGRIFFE

LEBENSTHEMEN und SCHLÜSSELBEGRIFFE

Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

«Ein Gott vermags. Wie aber, sag mir, soll
ein Mann ihm folgen durch die schmale Leier?
Sein Sinn ist Zwiespalt. An der Kreuzung zweier
Herzwege steht kein Tempel für Apoll.

Gesang, wie du ihn lehrst, ist nicht Begehr,
nicht Werbung um ein endlich noch Erreichtes;
Gesang ist Dasein. Für den Gott ein Leichtes.
Wann aber  s i n d  wir? Und wann wendet  e r

an unser Sein die Erde und die Sterne?
Dies ists nicht, Jüngling, daß du liebst, wenn auch
die Stimme dann den Mund dir aufstößt, ‒ lerne

vergessen, daß du aufsangst. Das verrinnt.
In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch.
Ein Hauch um nichts. Ein Wehn im Gott. Ein Wind.»

(Rilke: Die Sonette an Orpheus 1. Teil, III) (32)

Mit einer Frage beginnt dieses Sonett und führt zu ihrer Beantwortung. Dabei dreht sich alles um die Einsicht «Gesang ist Dasein.»

Für Orpheus gilt das.

Sein Dasein und sein Singen sind eins.

Orpheus aber ist für Rilke Urbild und Vorbild des Dichters, also des Menschen schlechthin. Unsere höchste Aufgabe als Menschen ist es ja, alles, was es gibt, zu rühmen. (33)

Und wenn Rilke von Gesang spricht, geht es nicht nur ums Singen, sondern ums ganze Leben:

«Gesang ist Dasein.» (74)

In Übereinstimmung mit vielen anderen seiner Aussagen dürfen wir das auch umdrehen:

Dasein ist Gesang.

«Gesang» ist in Rilkes Wortgebrauch gleichbedeutend mit «Rühmung»:

«Rühmen, das ists! Ein zum Rühmen Bestellter
ging er hervor …»

(Die Sonette an Orpheus 1. Teil, VII)

Wir alle sind zum Rühmen bestellt. Rühmen ist unsre höchste Aufgabe im Leben. (79)

Wie aber soll es einem Menschen gelingen, sein ganzes Leben ‒ im Blick auf Orpheus ‒ in rühmendem Singen zusammenzufassen?

Dieser Frage gibt Rilke eine spannende Formulierung: «Wie aber, sag mir, soll ein Mann ihm folgen durch dich schmale Leier?»

Spannend ist daran, dass wir zwar fühlen, was mit dem «Folgen durch die schmale Leier» gemeint ist, uns aber nicht bildlich vorstellen können, wie es aussehen könnte. Dadurch wird das Gefühl der Fragwürdigkeit noch erhöht.

Rilke nennt Orpheus einen Gott. Im griechischen Mythos ist er ein Mensch. Hier zeigt sich wieder, wie bei Rilke, wohl weitgehend unbewusst, der christliche Gottmensch durch Orpheus durchschimmert.

Auch das Eigenschaftswort «schmal» echot das Wort im Evangelium:

«Das Tor, das zum Leben führt, ist eng
und der Weg dorthin schmal» (Matthäus 7,14).

Der Philosoph Sören Kierkegaard spricht von der Freude, dass gerade die Enge der Weg ist.

Ja, denn sooft das Leben uns durch Engpässe führt, dürfen wir uns darauf verlassen auf dem rechten Weg zu sein.

Freilich, solches Lebensvertrauen fällt uns schwer. Wir zweifeln. Unser «Sinn ist Zwiespalt».

Mag die «Kreuzung zweier Herzwege» die Gabelung unseres eigenen Weges bedeuten oder seine Überschneidung mit dem Weg eines anderen Menschen, wo Zwiespalt herrscht, da «steht kein Tempel für Apoll», den Gott der Harmonie.

Den Tempel, den das Singen des Orpheus baut,
kennen nur jene, deren Herzen eins sind ‒
mit sich selbst und untereinander.
Und nur aus diesem Einssein heraus
können wir «in Wahrheit singen» ‒
authentisch, also auf solche Art,
dass unser ganzes Leben zur Rühmung wird,
denn nur dann «sind wir» wahrlich.
(33f.)

«Rühmen» ist das Wort, das für Rilke zusammenfast,
worum es letztlich geht, in den «Sonetten an Orpheus»,
bei allem Dichten, ja im Leben überhaupt.
Solches Rühmen ist die Frucht unserer vollen Lebendigkeit,
einer Haltung, die Zwiespalt und Zweifel überwindet
durch Lebensvertrauen.

In der ersten Fassung des Sonetts «Rühmen, das ists!» hieß es vom rühmenden Sänger ausdrücklich: «Aber der Zweifel war ihm verächtlich», denn Orpheus, der Dichter, der Mensch schlechthin, ist seinem Wesen nach auf Lebensvertrauen angelegt und so «ein zum Rühmen bestellter». (39)

Alexandra Kreuzeder: Als Menschen liegt unsere höchste Aufgabe darin, alles, was es gibt, zu rühmen, sagst du. Gilt das auch für das Leiden, das Sterben und die Vergänglichkeit?

Bruder David: Durch alles Vergängliche sieht der Tiefblick des Dichters so klar das Unvergängliche leuchten, dass er sagen kann:

«Ach, das Gespenst des Vergänglichen,
durch den arglos Empfänglichen
geht es, als wär es ein Rauch.»

(Rilke: Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XXVII)

Das weiß auch ein anderer Dichter, Werner Bergengruen, für den

«nichts vergänglich ist als die Vergänglichkeit.»[1] (35)

Alexandra: Diesen Tiefblick zu erlernen, sollten wir uns wohl alle bemühen. Er ist tröstlich. Da bleiben uns aber trotzdem noch Leiden und Sterben und alles Schwere im Leben.

Bruder David: Rilke hat die Frage zum Schweren im Leben selber eingehend in einem Brief beantwortet, in welchem es letztlich um Lebensvertrauen geht:

«Möge das Leben Ihnen aufgehen, Tür um Tür;
mögen Sie in sich die Fähigkeit finden, ihm zu vertrauen,
und den Mut, gerade dem Schweren das meiste Vertrauen zu geben.

Jungen Menschen möchte ich immer nur dieses eine sagen
[es ist fast das Einzige, was ich bis jetzt sicher weiß] ‒
dass wir uns immer an das Schwere halten müssen;
das ist unser Teil.

Wir müssen so tief ins Leben hineingehen,
dass es auf uns liegt und Last ist;
Nicht Lust soll um uns sein, sondern Leben ...

Was von uns verlangt wird, ist,
dass wir das Schwere lieben
und mit dem Schweren umgehen lernen.
Im Schweren sind die freundlichen Kräfte,
die Hände, die an uns arbeiten.

Mitten im Schweren sollen wir unsere Freuden haben,
unser Glück, unsere Träume;
da, vor der Tiefe dieses Hintergrunds,
heben sie sich ab,
da sehen wir erst, wie schön sie sind.

Und nur im Dunkel der Schwere
hat unser kostbares Lächeln einen Sinn;
da leuchtet es erst mit seinem tiefen, träumenden Licht,
und in der Helligkeit, die es für einen Augenblick verbreitet,
sehen wir die Wunder und Schätze,
von denen wir umgeben sind.»

(aus dem Brief Rilkes an Emmy Hirschfeld vom 20. November 1904) (36 und 205)

Alexandra: Er ermutigt uns also dazu, das Wagnis des Lebens zu wollen und uns diesem Wagnis bewusst zu stellen.

In einem seiner Gedichte geht er sogar darüber hinaus: Wir Menschen können «einen Hauch wagender»[2] sein als das Leben selbst. (36)

Gerade wenn wir dieses Wagnis bewusst bejahen und dem Leben, «aus dem Gefühl des Ganzen»[3] heraus vertrauen, ohne Sicherheitsnetz, speist uns das Leben paradoxerweise aus der Quelle der Sicherheit, die in unserem Sein wurzelt: «ein Sichersein, dort, wo die Schwerkraft» der reinen Kräfte wirkt[4].

Bruder David: Immer, wenn wir uns mutig der Weite des Lebens zuwenden, das heißt «ins Offene»[5] schauen, anstatt vor dem Unvermeidlichen zurückweichen, sagen wir «Ja» zum Leben in seiner ganzen Fülle.

Offensichtlich meint Rilke mit Rühmen nicht so sehr den Lobpreis Gottes mit Hymnen und Liedern, sondern vor allem die Lebensfreude.

Die erreichen wir in einem Dreischritt: Lebensvertrauen ist die Grundlage. Ihr entspringt Lebensmut. Und dieser blüht auf in Lebensfreude. Dankbare Lebensfreude selbst ist schon Rühmung.

Alexandra: Dass Rilke selbst diese Haltung der dankbaren Lebensfreude tief verinnerlicht hat, zeigt sich auch am Ende seines Lebens, als er schon krank ist. Mitten in großen Schmerzen sagt er zu seiner Vertrauten Nanny Wunderlich-Volkart:

«Vergessen Sie nie, das Leben ist eine Herrlichkeit.»[6] (37)

«Wandelt sich rasch auch die Welt
wie Wolkengestalten,
alles Vollendete fällt
heim zum Uralten.

Über dem Wandel und Gang,
weiter und freier,
währt noch dein Vor-Gesang,
Gott mit der Leier.

Nicht sind die Leiden erkannt,
nicht ist die Liebe gelernt,
und was im Tod uns entfernt,

ist nicht entschleiert.
Einzig das Lied überm Land
heiligt und feiert.»

(Rilke: Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX) (53)

So vieles bleibt noch unvollendet in unserer Welt:

«Nicht sind die Leiden erkannt,
nicht ist die Liebe gelernt,
und was im Tod uns entfernt,
ist nicht entschleiert.»

Wenn uns in einem dieser Bereiche Vollendetes gelingt ‒ sei's auch nur ein kaum bemerkter Augenblick vollendeter Liebe, liebend erduldeten Leidens oder vollendetes Durchstehen eines jener «Stirb-und-Werde»-Augenblicke[7], aus denen das Leben besteht ‒ dann fällt es heim zum Uralten, nimmt also teil an der Harmonie des großen Liedes überm Land, das allem Sinn gibt. (56)

Alexandra: Dankbare Menschen können auch deshalb im Unglück singen, weil sie dem Leben vertrauen. So verlieren sie nicht die Hoffnung und ihre tiefe Freude geht ihnen auch im Unglück nicht verloren.

Bruder David: Unglück ist ja nicht das Gegenteil von Freude, sondern von Glück. Das Gegenteil von Freude ist Mangel an Dankbarkeit.

Alexandra: Die Freude selbst ist ja der eigentliche Dank. (164f.)

Bruder David: Das Leben selbst scheint uns zuzurufen

«Rühme alles, was es gibt, einfach weil es da ist» ‒
und aus keinem anderen Grund.

Das ist eine tiefe Einsicht. Sie entspringt einem radikalen Lebensvertrauen, bestimmt Rilkes ganzes Denken und Dichten und kann auch unser Leben bereichern.

W. H. Auden hat diese Lebenshaltung in einem schrulligen, aber tiefsinnigen Gedicht zum Ausdruck gebracht, in dem er in fünf Strophen zu seinen fünf Sinnen spricht und sie in einer letzten Strophe alle zusammen anweist:

«Seid freudig, werte Fünf,
mein ganzes Leben lang.
Und fragt mich nicht, woran
ihr euch denn freuen sollt.»
Lasst euch halt irgendetwas einfallen,
aber gehorcht.
Ich könnte (was ihr nicht könnt)
schnell genug Gründe finden
in Wut und Verzweiflung
über die Zustände den Himmel anzubrüllen
und zu verlangen, dass er mir sage,
wer an allem schuld ist.
Der Himmel würde einfach warten
bis mir der Atem ausgeht,
und dann ‒ als ob ich nicht da wäre ‒
diesen einzigartigen, mir unverständlichen Befehl
wiederholen:
«Rühm, was es gibt, weil’s da ist!
Dem muss ich doch gehorsam sein:
Wozu denn sonst geboren sein,
einverstanden oder nicht.»

(W. H. Auden: ‹Precious five›;
siehe auch das Gedicht in Segnen und Segen) (58)

Alexandra: So bedingungsloses Rühmen ist nicht nur für W. H. Auden, sondern auch für Rilke die entscheidende Herausforderung. (59)

[Video ab (33:55-38:14)]: Alexandra Kreuzeder liest die letzten sechs Verse des Sonetts (Die Sonette 2. Teil, X): ‹Alles Erworbene bedroht die Maschine, solange sie sich erdreistet, im Geist, statt im Gehorchen zu sein›:

«Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert
Stellen ist es noch Ursprung. Ein Spielen von reinen
Kräften, die keiner berührt, der nicht kniet und bewundert.

Worte gehen noch zart am Unsäglichen aus …
Und die Musik, immer neu, aus den bebendsten Steinen,
baut im unbrauchbaren Raum ihr vergöttlichtes Haus.»

Bruder David: Rilke hat gekniet und bewundert sein ganzes Leben lang. … Also das Dasein ist «ein Spiel von reinen Kräften, die keiner berührt, der nicht kniet und bewundert.»: «Es ist genug, das nach Hause zu nehmen, das ist für einen ganzen Abend genug.»

Wir spüren die Gegenwart von Stille, wenn Bruder David diese Verse wiederholt und … «bewundert»:

«Und zugleich sieht man da auch die tiefe Religiosität von Rilke.»

Alexandra: Und zugleich fällt mir ein, was sicher viele von euch kennen:

«Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,
du mein tieftiefes Leben;
dass du weißt, was der Wind dir will,
eh noch die Birken beben.

Und wenn dir einmal das Schweigen sprach,
lass deine Sinne besiegen.
Jedem Hauche gieb dich, gieb nach,
er wird dich lieben und wiegen.

Und dann meine Seele sei weit, sei weit,
daß dir das Leben gelinge,
breite dich wie ein Feierkleid
über die sinnenden Dinge.»

(Rilke: ‹Mir zur Feier›)

Bruder David berührt: Danke. ‒ Das ist wieder so ein unanschauliches kristallklares: … Nicht-Bild[8] … und es könnte für Dichtung im Allgemeinen stehen:

Die Dichtung breitet sich wie ein Feierkleid
über die sinnenden Dinge.

[Obiger Text ist eine Komposition von Texten im Buch von David Steindl-Rast und Alexandra Kreuzeder: HerzWerk (2025): Freude finden mit Rainer Maria Rilkes ‹Sonette an Orpheus› und der Transkription der Passage (33:55-38:14) im Video zur Buchpräsentation des Buches HerzWerk]

[Ergänzend:

1. Der spirituelle Rilke (2025): Josef Bruckmoser über das Buch HerzWerk:

«In den ‹Sonetten an Orpheus› sind es zwei Themen, um die das spirituelle Denken des Dichters kreist: das Rühmen und der Doppelbereich. ‹Unsere höchste Aufgabe als Menschen ist es ja, alles, was es gibt, zu rühmen.›»

2. ‹Wandelt sich rasch auch die Welt wie Wolkengestalten› (Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX); siehe auch Sterben und Wandlung: Ergänzend. 3.

2.1. Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(08:59) Ellinor Jensen (Sprecherin): ‹Wandelt sich rasch auch die Welt in Wolkengestalten›

2.2. Audio So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(25:52) ‹Wandelt sich rasch auch die Welt›: Bruder David deutet das Sonett mit Blick auf die Zeit und das Jetzt, das kleine Ich und das Selbst, Orpheus und Christus

2.3. Audio Retreat-Woche in Assisi (1989)
Schöpfungsmythos und Anfangsritual am Beispiel der hl. Taufe …:
(36:58) ‹Wandelt sich rasch auch die Welt›

2.4. Im Buch HerzWerk (2025): 6. ‹Wandelt sich rasch auch die Welt› (Die Sonette 1. Teil, XIX): ‹Aufs uralte Lied überm Land horchen›, 53-59:

«Bei unserer Sinnsuche weist der Dichter uns an, nicht nur  i n, sondern ‹ü b e r  dem Wandel und Gang› der Welt den Sinn des Ganzen zu finden, auf einer höheren Ebene im ‹Lied überm Land›, wie er es so schön nennt.

Zweimal klingt das Wort ‹über› hier an. Was aber soll ‹Lied überm Land› bedeuten?

Bei genauem Hinhorchen gibt das Sonett selbst uns die Antwort: Das Uralte ist gemeint, das immer währt.» (54)

2.5. Das Sonett in Die Achtsamkeit des Herzens (2018): ‹Sinnlichkeit und christliche Askese›, 98f., siehe auch in Abschied, Wandlung, Aufheben und Altern: Ergänzend: 5.: ‹Unter Tränen lächelnd, willig dieses Lied singen›

3. Freude an den ‹Sonetten an Orpheus›

3.1. Audios Lebendige Spiritualität (2015) mit Bruder David und Pater Johannes Pausch in vier Gesprächsabenden mit Gedichten und Texten von Rilke
Verstehen durch TUN:
(20:22) Rühmen und die Gestalt des Orpheus, bei Rilke und den Kirchenvätern eine Christus-Figur – ‹Rühmen, das ists› (Die Sonette an Orpheus 1. Teil, VII) ‒ Gott verherrlichen
(31:05) ‹Singe die Gärten, mein Herz, die du nicht kennst› (Die Sonette 2. Teil, XXI) – ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (hl. Augustinus)
(35:04) ‹Nur im Raum der Rühmung darf die Klage gehn› (Die Sonette 1. Teil, VIII) – ‹Zwischen den Hämmern besteht unser Herz› (Die neunte Elegie)
Wort
(01:10:30) ‹Alles Erworbene bedroht die Maschine› (Die Sonette 2. Teil, X)

3.2. Einsichten aus Rilkes Dichtung mit Bruder David in Flüeli-Ranft (2014), Transkription des Seminars Teil I und Teil II

4. Im ‹Raum der Rühmung› mit dem Buch HerzWerk (2025)

4.1. Ebd. 80-86, 10. ‹Alles Erworbene bedroht die Maschine› (Die Sonette an Orpheus 2. Teil, X): ‹Knien und bewundern›:

Alexandra: «Und das Rühmen beginnt mit dem Niederknien und Bewundern.»

Bruder David: «Auch die große US-amerikanische Dichterin Mary Oliver meint wohl diese Gebärde, wenn sie in ihrem Gedicht ‹Sommertag› sagt:

‹Ich weiß nicht genau, was ein Gebet ist.
Ich weiß aber, wie ich achtsam sein,
mich fallen lassen kann ins Gras,
niederknien kann im Gras ...›

Auch sie ‹kniet und bewundert›. Und sie spricht für viele der Religion entfremdete Menschen. Mit diesem staunenden Niederknien beginnt die Wiederentdeckung der Ehrfurcht

Alexandra: «Dieses Staunen vor dem Geheimnis des Lebens drückt Rilke auch in einem anderen Gedicht kraftvoll aus:

‹Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,
du mein tieftiefes Leben …›

(Rilke: ‹Mir zur Feier›)»

Bruder David: «‹Lauschen und Staunen› macht uns auch offen und empfänglich für die tiefe Frage, die Mary Olivers Gedicht uns am Ende stellt:

‹Sag mir, was hast du vor mit deinem einen, wilden und kostbaren Leben?›

Wir brauchen nur hinhorchen. Das Leben selbst wird uns die Antwort geben. Ein tröstlicher Gedanke.»

Alexandra: «Fast könnte unser Sonett schon enden mit der Wiederentdeckung der Ehrfurcht durch Knien und Bewundern. Aber die drei letzten Verse sind doch wunderschön. Wer wollte sie missen?» (85)

Bruder David: «Auch erscheint das Wörtchen ‹noch› hier zum dritten Mal und bindet diese letzte Strophe fest an das ganze Sonett. Der tröstliche Gegensatz zur Zerstörung durch die Maschine beginnt mit den Worten:

‹Aber noch ist uns das Dasein verzaubert.›

Dann heißt es: ‹Noch› ist es Ursprung. Und hier nun das dritte ‹noch›:

‹Worte gehen noch zart am Unsäglichen aus ...›

Wenn wir dieses ehrfürchtige Verstummen, dieses Sprachlos-Werden beim Knien und Bewundern aus Erfahrung kennen, dann brauchen wir keinen weiteren Beweis, dass das Dasein immer noch verzaubert ist.

Die Musik, die immer neu aus den bebendsten Steinen im unbrauchbaren Raum ihr vergöttlichtes Haus baut, ist ein Bild, das wir unschwer verstehen.

Zugleich ist dies aber auch eines der schönsten Beispiele für Rilkes kristallklare und zugleich unanschauliche Bilder.

Schon dieses eine Bild macht dieses Sonett unvergesslich.» (85f.)

4.2. Ebd. 38-44, 4. ‹Rühmen, das ists!› (Die Sonette 1. Teil, VII): ‹Weckruf zum Lebendigsein›:

Rühmen, das ists! Ein zum Rühmen Bestellter
ging er hervor wie das Erz aus des Steins,
Schweigen. Sein Herz, o vergängliche Kelter
eines den Menschen unendlichen Weins.›

(Die Sonette an Orpheus 1. Teil, VII) (38)

«Die Kelter ist eine ‹vergängliche› Kelter, der Wein aber fließt unendlich, ist also unvergänglich. Das Leiden gehört zu unserem vergänglichen Leben in der Zeit. Es vergeht. Die Rühmung aber nimmt schon jetzt Anteil am Unvergänglichen. Das will das abschließende Bild zeigen: Der Rühmende hält ‹noch weit in die Türen der Toten Schalen mit rühmlichen Früchten›.

Dieses Sonett ist selber eine solche Schale voll Trauben in Rilkes ‹fühlendem Süden gereift›, die er uns hinhält.

Das reichste Geschenk, das er uns damit macht, ist dieses:

Er schenkt uns Mut, aus der vergänglichen Kelter unseres Lebens
in der Zeit unvergängliche Freude fließen zu lassen.
Denn Rühmen ist nicht nur spontane Antwort auf große Freuden,
sondern dankbares Rühmen keltert Freude
auch aus den unscheinbarsten Früchten unseres Alltags.» (40f.)

«In der christlichen Botschaft wurde das Leid zunehmend überbetont und die Freude, die ja der Mittelpunkt der Frohbotschaft sein sollte, vernachlässigt. … Ziel des Lebens war für Jesus keinesfalls das Leiden. Gott will Lebensfreude, nicht Leid. Nicht seine Leidensgeschichte war die eigentliche Passion Jesu. Seine Passion im Sinne überragender Leidenschaft war die Verherrlichung Gottes ‒ das Rühmen also.» (40)

4.3. Ebd. 158-165, 20. ‹Singe, die Gärten, mein Herz› (Die Sonette 2. Teil, XXI): ‹Singen als Herzwerk›; siehe auch das Geleitwort, 5:

«Denn des Anschauns, siehe, ist eine Grenze.
Und die geschautere Welt
will in der Liebe gedeihn.

Werk des Gesichts ist getan,
tue nun Herzwerk …»

(Rilke: ‹Wendung›)

Alexandra: «Mir fällt auf, dass Rilke in diesem Sonett das Herz anspricht.»

Bruder David: «Das kommt wirklich unerwartet. Gewöhnlich fühlen wir ja, dass in seinen Gedichten das Herz spricht. Hier wird es angesprochen, immer wieder.»

Alexandra: «Mit einem Imperativ nach dem anderen: ‹Singe›, ‹zeige›, ‹meide› ...»

Bruder David: «Auch: ‹Singe sie selig, preise sie …›»

Alexandra: «Und zum Schluss noch: ‹Fühl, daß der ganze, der rühmliche Teppich gemeint ist.›»

David: «Fühlen soll das Herz diese Einsicht, nicht nur wissen oder bedenken. Das Herz ist ja für Rilke ‹das ins Ganze geborne› (Die Sonette 2. Teil, II). Es ist Sinnbild für die Ganzheit von Denken, Fühlen und Wollen, ja, von Leib und Geist.»

Alexandra: «Sollten wir nicht all diese Aufforderungen an das Herz als Auftrag verstehen, ‹Herzwerk› zu leisten, wie Rilke es nennt?»

Bruder David: «Herzwerk ‒ das bringt alles auf den Punkt. ‹Herzwerk› tun, ist für Rilke eine ganz wichtige Aufgabe. Für Rilke ist ‹Rühmen› das eigentliche ‹Herzwerk› und statt Rühmen sagt er hier Singen.»

Alexandra: «Darum beginnt wohl dieses Sonett mit den Worten: ‹Singe ... mein Herz›. Singen ist eben für Rilke so viel mehr, als wir gewöhnlich mit diesem Wort meinen.» (162)

Bruder David: «Er sagt ja: ‹Gesang ist Dasein› (Die Sonette 1. Teil, III) und Gesang als ‹Herzwerk› ist erfülltes Dasein ‒ die Erfüllung der Aufgabe, für die wir da sind.» (162f.)

4.4. Ebd. 50, aus der neunten Duineser Elegie; siehe auch Lobpreis des Lebens, Weihnachtsgrüße 2014, Singen, Danken, preisen, segnen, Abschied, der Klang des Lebens:

«Zwischen den Hämmern besteht
unser Herz, wie die Zunge
zwischen den Zähnen, die doch,
dennoch, die preisende bleibt.»

4.5. Ebd. 50f., Beginn des Sonetts 1. Teil, VIII:

«Nur im Raum der Rühmung darf die Klage gehn.»

4.6. Ebd. 51 und 207, aus dem Brief Rilkes an Adelheid von der Marwitz vom 11. September 1919:

«… das Hiesige ist uns nun einmal gegeben und zugemutet
und wir müssen alles, was uns widerfährt,
in eine neue Vertraulichkeit und Befreundung
mit ihm umzuwandeln suchen,
denn wohin sollen wir uns abwenden mit Sinnen,
die doch für seine Erfassung und Bewältigung
vorzüglich eingerichtet sind, ‒
und wie dürften wir uns der Pflicht entziehen,
das uns von Gott Zugetraute zu bewundern, ‒
worin doch sicher alle Vorbereitung enthalten ist
für jede künftige und ewige Bewunderung!»

4.7. Ebd. 78 und 209, aus dem Brief Rilkes an seinen Schwager Helmut Westhoff vom 12. November 1901:

«Weißt du aber, was mir die Hauptsache dabei war,
lieber Helmuth:
Dass ich wieder mal sah, dass die meisten Menschen
die Dinge in der Hand haben,
um damit irgendeine Dummheit zu machen
[wie zum Beispiel sich zu kitzeln mit Pfauenfedern],
statt sich jedes Ding gut anzusehen
und statt jedes um die Schönheit zu fragen,
die es besitzt. So kommt es,
dass die meisten Menschen gar nicht wissen,
wie schön die Welt ist
und wie viel Pracht in den kleinsten Dingen,
in irgendeiner Blume, einem Stein,
einer Baumrinde oder einem Birkenblatt sich offenbart.
Die erwachsenen Menschen,
die Geschäfte und Sorgen haben
und sich mit lauter Kleinigkeiten quälen,
verlieren allmählich ganz den Blick für diese Reichtümer,
welche die Kinder, wenn sie aufmerksam und gut sind,
bald bemerken und mit dem ganzen Herzen lieben.»

5. Hymne auf das große Lied (2016): Trailer und deutsche Übersetzung von Bruder David in Hymne auf das große Lied (2016):

(00:17) «Es gibt wirklich nur ein Lied, und das ist das Große Lied, das kosmische Lied, das Lied, das alle Dinge, Tiere, Pflanzen und Menschen in ihrem tiefsten Herzen singen.

(00:32) Und jedes Lied, das ein Mensch mit seiner Stimme singt, ist nur ein Ausdruck dieses einen großen Liedes, das von Anfang an da ist und nach dem Ende da sein wird.

(00:51) Das große Lied, der große Klang kommt aus der Stille ‒ oder es ist nicht das Große Lied.

(01:00) Wenn man tief in die Stille hineinhorcht, entdeckt man das Lied.»]

______________

[1] Schlusszeile im Gedicht ‹Grabschrift›, in: Werner Bergengruen (1892-1964): ‹Die heile Welt: Gedichte›, Zürich, im Verlag der Arche 1952, 78

[2] Rainer Maria Rilke: ‹Wie die Natur die Wesen überläßt› (Aus dem Nachlass: Widmungen). Entstehung: 4. Juni 1924, Muzot.

[3] Aus dem Brief Rilkes an Henriette Löbl vom 2. Juli 1914:

«Denn gestern, Heute und Morgen sind nicht die eigentlichen Bestandteile unseres Daseins, es ist, mehr als wir glauben, aus einem Stück und wir müssen versuchen, aus dem Gefühl des Ganzen heraus, dem Einzelnen freundlich und unversöhnlich zu sein.»

[4] Rainer Maria Rilke: ‹Wie die Natur die Wesen überläßt›

[5] Ebd.

[6] J. R. von Salis: ‹Rilkes Schweizer Jahre› (= Suhrkamp-Taschenbuch, 289), Frankfurt a.M., Suhrkamp 1975, 277

[7] J. W. von Goethe: ‹Selige Sehnsucht› (West-östlicher Divan):

«Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.»

[8] ‹Nicht-Bild› drückt paradox aus, was Bruder David im Buch ‹HerzWerk›, 86, ‹kristallklare und zugleich unanschauliche Bilder› nennt. Siehe auch:

«Und dann kommt wieder eines jener gewagten klaren und doch unvorstellbaren Bilder: …» (51)

«Das ist wieder ein gutes Beispiel für einen Kunstgriff, der für Rilkes dichterisches Vorgehen typisch ist. Er schleudert uns in unmissverständlich klaren Worten ein Bild zu, das völlig unanschaulich ist: …» (43)

Alexandra: «… Bei Rilke stossen wir immer wieder auf solche ‹kristallklaren Unanschaulichkeiten› … Warum verwendet er dieses stilistische Mittel so oft?»

Bruder David: «Ich weiß nicht, ob ‹stilistisches Mittel› eine passende Bezeichnung für Rilkes ‹kristallklare Unanschaulichkeit› ist. Jedenfalls haben solche Verse ganz und gar nichts von Effekthascherei an sich, sondern sind das Ergebnis eines leidenschaftlichen Bemühens, über die Grenzen des Sagbaren hinauszugehen. Darum finden wir Beispiele dafür auch gerade dort, wo sein Dichten sozusagen in Weißglut gerät.» (104)



Quellenangaben

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.