Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Du aber, Göttlicher, du, bis zuletzt noch Ertöner,
da ihn der Schwarm der verschmähten Mänaden befiel,
hast ihr Geschrei übertönt mit Ordnung, du Schöner,
aus den Zerstörenden stieg dein erbauendes Spiel.Keine war da, dass sie Haupt dir und Leier zerstör.
Wie sie auch rangen und rasten, und alle die scharfen
Steine, die sie nach deinem Herzen warfen,
wurden zu Sanften an dir und begabt mit Gehör.Schließlich zerschlugen sie dich, von der Rache gehetzt,
während dein Klang noch in Löwen und Felsen verweilte
und in den Bäumen und Vögeln. Dort singst du noch jetzt.O du verlorener Gott! Du unendliche Spur!
Nur weil dich reißend zuletzt die Feindschaft verteilte,
sind wir die Hörenden jetzt und ein Mund der Natur.(Rilke, Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XXVI)
Orpheus ist es,
«der das Ohr den Geschöpfen gelehrt»,
wie es in den Sonetten an Orpheus 1. Teil, XX heißt. Er lehrte sie horchen.
«Und alles schwieg»,
denn Schweigen – innere Stille –
ist die Vorbedingung wahren Horchens,
so wie Horchen
die Vorbedingung wahren Hörens ist.
Weil Tiere uns Menschen, aus Rilkes Sicht, in der Haltung des schweigenden Horchens überlegen sind, können sie uns darin Vorbild und Lehrer werden.
«Tiere aus Stille»
nennt er sie im ersten Sonett (1. Teil, I) und erdichtet hier einen mythischen Bericht von Orpheus, der ihnen – und uns ‒
«Tempel im Gehör»
errichtet durch sein Singen.
Wer aber ist Orpheus eigentlich? Wer ist er für Rilke?[1]
[Video ab (19:15)]: Bruder David: «Orpheus ist im griechischen Mythos der große Sänger, dessen junge Frau von einer Schlange gebissen wurde und ganz jung stirbt. Und er ist so untröstlich, dass er nicht aufgibt, bis er den Zugang zur Unterwelt findet, bis zum Gott der Unterwelt, Hades, vorstößt und dort singt. Ich glaube es ist Milton, ein englischer Dichter, der das so schön beschreibt: Der Gott der Unterwelt war so gerührt, dass er eiserne Tränen geweint hat.[2] Und neben ihm ist seine Gattin Persephone gesessen, die ja auch von Hades geraubt wurde, sie durfte aber jedes Jahr die halbe Zeit wieder zurück auf die Erde, dann blüht alles wieder auf und dann muss sie wieder zurück in die Unterwelt. Persephone hat ihn überredet, und so hat Pluto-Hades Orpheus erlaubt, seine Eurydike wieder mitzunehmen, doch eine Bedingung war daran geknüpft: Er darf sie nicht ansehen, solange sie noch nicht im Sonnenlicht sind. Und es fällt ihm natürlich sehr schwer, sich nicht umzudrehen, denn sie dürfen nicht sprechen und er weiß ja gar nicht sicher, ob sie noch da ist. Dann endlich kommt er ins Sonnenlicht und dreht sich um, sie ist aber noch im Schatten und muss wieder in die Schattenwelt zurück.
Dieser Mythos hat die Menschen in der Antike sehr berührt und darunter waren dann auch viele, die Christen geworden sind, und für die war es ja naheliegend, diesen Orpheus, der in die Unterwelt hinabsteigt und seine Braut zurückführt, mit Christus, der in seinem Tod die Kirche heraufbringt, zu vergleichen. Damals war in der frühen Christenheit die Höllenfahrt Christi viel mehr betont als bei uns, und in der Ostkirche ist sie immer noch sehr betont. Dort gibt es gar keine Bilder von der Auferstehung wie bei uns, sondern Christus steigt in die Unterwelt und zieht Adam, an den sich Eva klammert, und alle anderen alttestamentlichen Menschen hinauf aus der Unterwelt ans Licht. Das war sehr naheliegend für die ersten Christen.
Sie haben manchmal die Orpheus-Statuen genommen und als Christusstatuen verwendet. In den Katakomben findet man sehr häufig Bilder von Orpheus als Friedensfürst mit den Tieren, die ganz zahm vor ihm liegen, und er spielt und singt. Das Bild von Jesus Christus als den großen Sänger, den großen Liebhaber seiner Braut, der Kirche, spricht uns heute viel mehr an als das immer wiederholte: ‹Er hat uns durch seinen Tod von den Sünden befreit›.[3]
Das spricht uns nicht mehr an! Das muss man zugeben. Es ist ja nur eine von den vielen Erklärungen für den Tod Jesu, die schon im Neuen Testament gegeben werden. Aber sie hat sich so durchgesetzt, weil es eben der Machtpyramide der Kirche in die Hände spielt, leider, sehr schlecht:
Christus wollte das Reich Gottes: Gleichheit, Brüderlichkeit, Friedfertigkeit ‒ es erinnert sehr an die französiche Revolution, die ja in ihren Anfängen auch von Christen begeistert begrüßt wurde und dann sehr schnell ins Gegenteil abgefallen ist. Christus wollte ganz etwas anderes, das immer Menschen anspricht.
Und so ist auch für uns heutzutage Orpheus ein wunderschönes Christusbild.
Ich weiß nicht: würde Rilke das zugeben? Ich glaube, er würde sagen: es ist, was unser Christus-Bild sein sollte. So stelle ich mir das vor. Aber überall, wo Orpheus auftaucht, kann man Christus auf eine ganz neue, viel anziehendere Weise erkennen, als wir uns bisher vorgestellt haben.
(26:55-28:30) Denken wir zum Beispiel an das ‹Blut Christi›. Da wollen die meisten Leute beim ersten Augenblick schon wegschauen. Immer wieder dieses Blut: ‹Mit seinem Blut hat er uns erlöst›.
Im ganzen Mittelalter war dahinter das Motiv ‹Christus als Keltertreter›. Er tritt in der Kelter auf die Trauben und das ‹Traubenblut› spritzt heraus als ‹der Wein, der das Menschenherz erfreut›, wie es in der Bibel schon im Alten Testament heißt (Psalm 104,15).
Und Rilke sagt von Orpheus:
‹Sein Herz, o vergängliche Kelter
eines den Menschen unendlichen Weins.›(Rilke, Die Sonette an Orpheus 1. Teil, VII: ‹Rühmen, das ists!›)
Da ist alles drin, wovon wir jetzt gesprochen haben. Es ist eine ganz neue Interpretation, darin ganz klar die alten Bilder.»[4]
Zuletzt wird er von rasenden Anhängerinnen des Gottes Dionysos in Stücke gerissen, weil er ihren Gott berauschter Freude in seinem Schmerz nicht mehr verehrt.
Sie vermögen ihn zu töten, seinen Gesang aber können sie nicht zum Schweigen bringen. Stück für Stück an das ganze Universum verteilt, singt er immer noch in Felsen, Bäumen und wo immer «es singt».
«Wir sollen uns nicht mühn
um andre Namen. Ein für alle Male
ists Orpheus, wenn es singt»,
sagt Rilke in einem anderen der Sonette im 1. Teil, V.
Der Sänger schlechthin ist Orpheus und dadurch Urbild der Dichter. Und nicht nur der Dichter, sondern der Menschen überhaupt, denn der Mensch ist ja Dichter, das sprachbegabte Tier.
Hier berühren wir wieder das Religiöse,
denn in allen religiösen Traditionen der Menschheit
spielt das Bild des vollendeten Menschen eine zentrale Rolle.
Denken wir etwa an
I’itoi bei den Tohono-O’odham-Indianern,
Purusha im Hinduismus,
Maitreya Buddha,
den ursprünglichen Adam, Orpheus, Christus ...
Es ist kein Zufall, dass in der frühchristlichen Kunst Christus nicht selten als Orpheus dargestellt wurde. Einzelne Elemente des Orpheus-Mythos klingen an den christlichen Mythos an.
Um mehr als Anklänge christlicher Motive handelt es sich nicht, solche aber tauchen auch in Rilkes Dichtung immer wieder auf.
Zeitlebens musste der Dichter sich innerlich vom verzerrten, beengenden Verständnis der christlichen Religion, in das seine Mutter ihn als Kind hineingezogen hatte, absetzen und befreien.
«Ins reine, ins hohe, ins thorig
offene Herz träte er anders, der Gott
wirklicher Milde»,(Die Sonette an Orpheus 2. Teil, IX),
schrieb er. In der Kraft seiner tiefen Religiosität fand er neue Wege zu jener Ergriffenheit vom Großen Geheimnis des Lebens, die ja das Entscheidende an jeder Religion ist. Dabei wusste er vieles am Christentum zu schätzen. Auf allen Reisen hatte er seine Bibel mit sich und schrieb:
«Unter den alten Büchern,
die mich zu neuen kaum kommen lassen,
ist die Bibel das vorzüglichste.»[5]
Kein Wunder, dass, wohl zum Teil unbewusst, Zusammenhänge wie die zwischen Christus und Orpheus auf ihn einwirkten und zum Ausdruck kamen, so wie in vielen dieser Sonette.[6]
[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 4 und 6]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Audios Lebendige Spiritualität (2015) mit Bruder David und Pater Johannes Pausch in vier Gesprächsabenden mit Gedichten und Texten von Rilke
Verstehen durch TUN:
(20:22) Rühmen und die Gestalt des Orpheus, bei Rilke und den Kirchenvätern eine Christus-Figur: ‹Rühmen, das ists› (Die Sonette 1. Teil, VII)
Wort:
(32:33) ‹Höre, mein Herz, wie sonst nur Heilige hörten› (Rilke, Die erste Elegie) – Die Gestalt des Orpheus – ‹Da schufst du ihnen Tempel im Gehör› (Die Sonette 1. Teil, I)
1.2. Orpheus im Heldenmythos
Lebensorientierung (2015)
Tag 5, 14. Februar, Samstagvormittag mit 9. Impulsvortrag (Bruder David), siehe Nachschrift Tag 5:
(37:18) Die drei Phasen des Heldenmythos (Joseph Campbell) in Grenzsituationen von Liebe und Tod: immer wieder sterben in ein größeres, volleres Leben hinein im Vollzug der (42:30) ‹Rites de passage› (Arnold van Gennep), den Übergangsriten, der typischste ist das Opfer mit der Geste des Aufhebens (G. W. F. Hegel): Eucharistie in Verbindung mit dem Schicksal von Orpheus: er wurde ‹verteilt› wie die Kommunion
1.3 Orpheus, ein Name für das Selbst ‒ Orpheus, der große Sänger, der große Abschiednehmer
So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(25:52) ‹Wandelt sich rasch auch die Welt› (Die Sonette 1. Teil, XIX): Bruder David deutet das Sonett mit Blick auf die Zeit und das Jetzt, das kleine Ich und das Selbst, Orpheus und Christus
(36:46) ‹Wolle die Wandlung› (Die Sonette 2. Teil, XII)
(39:16) ‹Sei allem Abschied voran› (Die Sonette 2. Teil, XIII): Bruder David deutet das Gedicht mit Versen aus: ‹Ich lese es heraus aus deinem Wort› (Rilke, Das Stunden-Buch) und der neunten Duineser Elegie ‒ ‹All is always now› (T.S. Eliot) ‒ Jeder Augenblick ist aufgehoben (ausgelöscht, bewahrt, in das Bleibende hinaufgehoben)
(31:21) «Wir gehören uns selbst an: Selbst ist ja das, zu dem wir gehören, ob wir es wollen oder nicht. Das ist unser Selbst, unser wahres tiefstes Selbst. Und dieses Selbst haben wir alle gemeinsam. Das ist der Christus in uns (Gal 2,20). Andere Traditionen sprechen von diesem selben Selbst mit anderen Namen, aber es handelt sich immer um dasselbe: die ‹Buddha-Natur›, ‹Purusha› in Indien, ‹I’itoi› bei den Indianern. Und Rilke nennt es Orpheus.
Und das ist gar kein Zufall: Die frühesten christlichen Statuen des guten Hirten waren ursprünglich römische Statuen von Orpheus. Und dann wurden sie auf Christus umbenannt sozusagen, jetzt auf Christus hin. Das wissen wir aus unserer eigenen Geschichte.
Und Orpheus ist der große Sänger, der große Abschiednehmer.
Wir kennen ja die Geschichte: Er ist der große Liebende. Seine junge Frau wird von einer Schlange im Gras gebissen und muss zur Unterwelt hinunter. Und das ist sein erster Abschied. Und sein erster Abschied ist der untröstliche Abschied. Er ist so untröstlich, dass er sucht und sucht, bis er den Zugang zur Unterwelt findet, in die Unterwelt hinuntersteigt und vor Pluto, dem Gott der Unterwelt seine Leier spielt.
Und er spielt mit solcher Überzeugung und solcher Kraft und solcher Untröstlichkeit, dass es heißt: ‹Pluto weint eiserne Tränen›. Nur eiserne Tränen kann der Gott der Unterwelt weinen. Er hat keine richtigen Tränen.[7]
Und es wird ihm gestattet, Eurydike zurückzuführen in die Welt oben in die Sonne, nur unter der Bedingung, dass er sich nicht umdreht, sie geht hinter ihm und er darf sich nicht umdrehen, solange sie nicht das Sonnenlicht erreicht haben.
Und sie gehen und er hält es tapfer durch, aber wie er dann im Sonnenlicht ist, dreht er sich um, aber sie ist noch im Schatten und verschwindet in den Schatten zurück und er hat sie zum zweiten Mal verloren.
Und das ist jetzt der zweite Abschied. Aber diesen zweiten Abschied bewältigt er anders. Da ist jetzt nicht mehr die Untröstlichkeit, sondern die Verinnerlichung.
Sie ist jetzt nicht mehr bei ihm, aber verinnerlicht bei ihm. Und er bleibt unverheiratet, weil sie eben doch bei ihm ist, und er wird dann von den Mänaden zerrissen. Aus Rache für sein Alleinbleiben wollen.
(34:38) Und Rilke sagt: er wurde nicht zerrissen, er wurde verteilt, so wie die Kommunion verteilt wird. Und darum singen wir jetzt: Er singt in uns, in den Felsen, in den Löwen, in den Bäumen singt er noch, er wurde verteilt. Er wird zur Christus Figur. Sie konnten sein Haupt nicht zerstören, das Haupt schwimmt am Fluss hinunter und singt noch. Und die Leier wird in den Himmel gehoben und wird zum Sternbild. Er wird verteilt an die ganze Welt. Das ist der große Gott, der göttliche Sänger. Und der singt in uns. Und das steht hinter diesem Sonett: ‹Wandelt sich rasch auch die Welt wie Wolkengestalten› …
Wir müssen es nicht erreichen, wir müssen nicht das Leiden erkennen, wir müssen nicht die Liebe erlernen, wir müssen nur sein, wo wir sind in dieser ständigen Wandlung, in diesem ständigen Weitergehen, in diesem ständigen Abschiednehmen, und das Lied bleibt schön, so wie die Finger der Harfenspielerin über die Saiten gehen, alles ist Bewegung, alles ist Veränderung, alles ist Schwingung, aber das Lied ist eines und bleibt schön: das Lied überm Land.»
2. Weitere Texte
2.1. Im Buch HerzWerk (2025)
Ebd. 2. ‹Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung› (Die Sonette an Orpheus 1. Teil, I): ‹Orpheus und Christus›; siehe auch Leseprobe, S. 26f.:
Alexandra: «Inwiefern spricht Rilke also von Christus, wenn er über Orpheus dichtet?»
Bruder David: «Rilke schöpft aus der Tiefe allgemein menschlicher Religiosität und drückt in seiner Dichtung seine mystische Erfahrung vom Wesen des Menschen neu aus. Dabei verwendet er aber bewusst Elemente des Orpheus-Mythos, mit dem griechische Dichter vor ihm ähnliche mystische Einsichten mythisch ausgedrückt haben.
Frühchristliche Autoren schöpften aus derselben Religiosität wie die griechischen Mythenschöpfer, um über den geschichtlichen Jesus mythisch als den Christus zu sprechen. Dabei verwendeten sie Elemente aus der ihnen vertrauten jüdischen Mythologie und nannten ihn etwa ‹Messias› (= Christus), den neuen ‹Adam› oder ‹Menschensohn›.
Von der christlichen Mythologie setzt Rilke sich bewusst ab. Das Christliche war ihm zu intolerant:
‹... Dieser Zwang zu Gott, hat keinen Platz,
wo einer mit der Entdeckung Gottes begonnen hat,
in der es kein Aufhören mehr gibt.›[8]
Wo Rilke auf das hinweist, was er von Gott und Mensch entdeckt, mischen sich aber doch immer wieder Anklänge an den Christus-Mythos ein, der sich seinem Innenleben von Kindheit an eingeprägt hat.
Dadurch kann uns auch sein Orpheus immer wieder Durchblicke auf Christus schenken, die unsere eigene Gottes-Erfahrung anregen und unser Verständnis vom Menschsein bereichern. Rilke hat eben auch das Christentum besser verstanden als seine bigotte Mutter. Denn es zu verstehen bedeutet, es mit der eigenen Religiosität in Verbindung zu bringen.»
Ebd. 3. ‹Ein Gott vermags› (Die Sonette 1. Teil, III): ‹Gesang ist Dasein›, 33:
«Rilke nennt Orpheus einen Gott. Im griechischen Mythos ist er ein Mensch. Hier zeigt sich wieder, wie bei Rilke, wohl weitgehend unbewusst, der christliche Gottmensch durch Orpheus durchschimmert.»
Ebd. 4. ‹Rühmen, das ists!› (Die Sonette 1. Teil, VII): ‹Weckruf zum Lebendigsein›, 40f.:
«Noch weit bekannter als die Symbolik des Einhorns war im Mittelalter das ikonographische Motiv ‹Christus als Keltertreter› ‒ eine symbolische Darstellung der Passion. Der Wein wurde als das in seinem Leiden vergossene Blut Christi verstanden und floss auf den Abbildungen oft in den Abendmahlskelch.
Rilke aber legt hier ein Verständnis nahe, das unsere Generation mehr anspricht, denn in der christlichen Botschaft wurde das Leid zunehmend überbetont und die Freude, die ja der Mittelpunkt der Frohbotschaft sein sollte, vernachlässigt.
Nicht für Leiden und Tod steht der Wein in diesem Sonett, sondern für Freude und Lebensfülle. Auch die Bibel spricht ja vom ‹Wein, der des Menschen Herz erfreut› (Psalm 104,15), und seine Verleumder nannten Jesus einen ‹Fresser und Weinsäufer› (Lukas 7,34), weil er freudige Tischgemeinschaft mit Armen, Ausgestoßenen und Verachteten feierte (Markus 2,16).
Ziel des Lebens war für Jesus keinesfalls das Leiden. Gott will Lebensfreude, nicht Leid. Nicht seine Leidensgeschichte war die eigentliche Passion Jesu. Seine Passion im Sinne überragender Leidenschaft war die Verherrlichung Gottes ‒ das Rühmen also.
Erlösung ‒ und das heißt Befreiung ‒ kann auch als innere Befreiung zum Rühmen verstanden werden, wie Rilke es hier nahelegt:
‹Alles wird Weinberg, alles wird Traube,
in seinem fühlenden Süden gereift.›
Die Kelter ist eine ‹vergängliche› Kelter, der Wein aber fließt unendlich, ist also unvergänglich.
Das Leiden gehört zu unserem vergänglichen Leben in der Zeit.
Es vergeht.
Die Rühmung aber nimmt schon jetzt Anteil
am Unvergänglichen.
Das will das abschließende Bild zeigen: Der Rühmende hält ‹noch weit in die Türen der Toten Schalen mit rühmlichen Früchten›.
Dieses Sonett ist selber eine solche Schale voll Trauben in Rilkes ‹fühlendem Süden gereift›, die er uns hinhält. Das reichste Geschenk, das er uns damit macht, ist dieses: Er schenkt uns Mut, aus der vergänglichen Kelter unseres Lebens in der Zeit unvergängliche Freude fließen zu lassen. Denn Rühmen ist nicht nur spontane Antwort auf große Freuden, sondern dankbares Rühmen keltert Freude auch aus den unscheinbarsten Früchten unseres Alltags.»
Ebd. 15. ‹Ist er ein Hiesiger?› (Die Sonette 1. Teil, VI): ‹Leben und sterben›, 121f.:
Alexandra: «Du erwähnst immer wieder, dass Rilke, wie übrigens auch Nietzsche, aus einer christlich geprägten Vorstellungswelt stammt. Davon klingt doch sicher auch etwas in den beiden ersten Versen unseres Sonetts an: ‹lst er ein Hiesiger? Nein, aus beiden Reichen erwuchs seine weite Natur.›
Bruder David: «Ja. Schon die Wortwahl macht das spürbar: ‹Seine zweite Natur› lässt an die christliche Lehre denken, dass Christus sowohl völlig Mensch als auch Gegenwart Gottes ist. Theologen sprechen von ‹zwei Naturen›. Und die Wendung ‹aus beiden Reichen› erinnert an Himmelreich und Reich Gottes auf Erden …»
Alexandra: «Verbindet sich für Rilke vielleicht auch der Abstieg des Orpheus in die Unterwelt mit der Vorstellung von ‹Christi Höllenfahrt› zwischen Kreuzestod und Auferstehung?
David: «Ich kenne keinen ausdrücklichen Beweis dafür, aber wir dürfen mit Sicherheit annehmen, dass unserem Dichter eine Verbindung zwischen den beiden Bildern bewusst war. Parallelen zwischen Christus und Orpheus gehen ja auf die früheste christliche Tradition zurück.
Rilke sagt, dass das Lied des Orpheus als ‹Klang noch in Löwen und Felsen verweilte› (Die Sonette 1. Teil, XXVI) ‒ in Nietzsches Steinen und Tieren also.
Schon im ersten christlichen Jahrhundert hatte Clemens von Alexandria in diesem Klang die Frohbotschaft Jesu erkannt ‒ ein ‹Lied des Lachens, der Hoffnung und der Auferstehung›.
Clemens jubelt: ‹Sieh, was das neue Lied vollbrachte: Menschen hat es aus Steinen ‒ Menschen aus Tieren gemacht. Und die sonst wie tot waren und keinen Anteil am wahren Leben hatten, sie wurden wieder lebendig, sobald sie nur Hörer des Gesanges geworden waren.[9]
Auch andere frühe Kirchenväter sahen in Orpheus eine Vorahnung und Vorausdeutung des Christus. Augustinus nannte Orpheus sogar ‹poeta theologus›: einen Dichter, der von Gott redet.»
Alexandra: «Auch in der bildenden Kunst des frühen Christentums auf Sarkophagen und Wandmalereien der Katakomben wird Orpheus oft stellvertretend für Christus abgebildet.»
2.2. Bruder David in seinem Buch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015)
Ebd. ‹DAS EWIGE LEBEN›, mit Bezug auf das Sonett ‹Sei allem Abschied voran› (Die Sonette 2. Teil, XIII), 226; ebenso in Abschied, der Klang des Lebens:
«Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
dass, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.
Als Menschen wissen wir, wie kein anderes der vergänglichen Lebewesen um den Tod, jenen endlosen Winter. Aber gerade darum kennt unser Herz auch das Geheimnis, ihn zu überstehen: allem Abschied voran zu sein, indem wir im Jetzt leben. Wach um den Tod zu wissen, heißt ihn vorwegnehmen.
Orpheus wird hier zum Beispiel dafür. Es gelang ihm nicht ‒ so der griechische Mythos ‒, Eurydike, seine große Liebe, aus der Unterwelt zurückzubringen, aber umso klangvoller sang er ‒,
wie die Zunge
zwischen den Zähnen, die doch,
dennoch, die preisende bleibt.(Rilke, 9. Duineser Elegie)
Das ist auch unsere Aufgabe, und wir erfüllen sie, indem wir die Vergänglichkeit des Augenblickes durch dankbares Leben zum Klingen bringen.
Sei immer tot in Eurydike ‒, singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.
Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige,
sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.
Im Buch HerzWerk (2025) ist dieses Sonett das Thema im 14. Kp. mit dem Untertitel: ‹Radikales Loslassen lernen›, 108-115. Rilke im Brief an Katharina Kippenberg vom 2. April 1922, 112:
«Kein Wunder, dass Rilke von diesem Sonett sagt, dass er es ‹besonders liebe›. Er nennt es ‹das Gültigste von allen›. ‹Es enthält alle übrigen›, schreibt er, denn in allen Sonetten an Orpheus geht es ja um Wandlung und Verwandlung.»
Auch Bruder David liebt dieses Sonett ganz besonders, siehe das Video Leben in Zeiten der Bedrängnis (2017) ab (06:06) und in Festival «Die Kraft der Visionen» Berlin und Potsdam (1991) das Audio 2.1.: ‹Der Weg zu Fülle und Nichts› ‒ Vortrag und Kanon, sowie die Mitschrift.
Ebd. ‹HINABGESTIEGEN IN DAS REICH DES TODES›, 144:
«Auf der Ikone der Höllenfahrt steht Adam im Dunkel der Unterwelt, der strahlende Christus aber nimmt ihn bei der Hand und zieht ihn ‒ gemeinsam mit unzähligen anderen Verstorbenen, die sich an Adam klammern ‒ empor ans Licht.
Wenn wir aber fragen, wie die vor ihm Verstorbenen die Begegnung mit Jesus Christus im Reich des Todes erlebten, dann sind wir auf dem Holzweg. Wir nehmen dann nämlich wieder eine mythische Aussage wörtlich, und bleiben überdies im Geschichtlichen stecken, obwohl es hier doch um Überzeitliches geht.
Das Anliegen hinter dieser Frage könnte man vielleicht so fassen: Was bedeutet es für ein rechtes Verständnis des Todes, dass Jesus Christus und ungezählte andere unschuldige Opfer vor und nach ihm sterben mussten?
Auf diese Frage gibt ‹Hinabgestiegen in das Reich des Todes› eine klare Antwort: Tod ist nicht das Ende; Tod ist kein Kerker; Tod ist Durchgang, ‹Transitus›, Übergang.»
3. Wegweisendes Retreat mit Bruder David und Vanja Palmers in Flüeli Ranft (14.-18. September 2014) mit dem Thema Einsichten aus Rilkes Dichtung: ‹Gemeinsame Freude an Rilke-Gedichten›, siehe Teil I und Teil II:
Teil I, Seite 50-56 (Montagabend, siehe auch Audio 2-5: 18:10-33:32): Rilke und die Sonette an Orpheus; Orpheus und Eurydike; Orpheus, eine Christus-Figur:
(30:27) «Und im letzten Sonett des 1. Teils, XXVI:
‹Du aber Göttlicher, du, bis zuletzt noch Ertöner›
wendet Rilke sich wieder an Orpheus und bezieht sich auf dieses Zerreißen, sagt aber, dass es sich eigentlich nicht um Zerreißen handelt, sondern um Verteilen: Er wird als Kommunionbrot verteilt sozusagen. Das steht dahinter, da wird wieder aus dem Orpheus die Christus-Figur.» (55)
TeiL II, Seite 124-135 (Dienstagabend, siehe auch Audio 3-6: 07:19-57:25): Biographisches zu Rilke; das Thema der Duineser Elegien; Christus, der Keltertreter; Wie die Abschiedsreden im Johannesevangelium (Joh 13-17) im Sonett ‹Errichtet keinen Denkstein› (Die Sonette 1. Teil, V) durchschwingen.]
______________
[1] Im Buch HerzWerk (2025): ‹Freude finden mit Rainer Maria Rilkes Sonette an Orpheus›: 2. ‹Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung!› (Die Sonette an Orpheus 1. Teil, I): ‹Orpheus und Christus›, 24; siehe auch Leseprobe, 24
[2] John Milton (1608-1674): ‹Il Penseroso›
[3] Bruder David zur Satisfaktionslehre von Anselm von Canterbury (1033-1109) in Kreuz und Erlösung
[4] Sinngemäße Transkription der Passage (19:15-28:30) im Video zur Buchpräsentation des Buches HerzWerk von Bruder David in Zusammenarbeit mit Alexandra Kreuzeder
[5] Ingeborg Schnack: ‹Rainer Maria Rilke: Chronik seines Lebens und seines Werkes› (= Insel-Taschenbuch, 1264), Frankfurt a.M., Insel Verlag 1990, 344f.
[6] Im Buch HerzWerk (2025), 25f.; siehe auch Leseprobe, 25f.
[7] John Milton: ‹Il Penseroso›
[8] Aus dem Brief Rilkes an Ilse Blumenthal-Weiß vom 28. Dezember 1921, Muzot:
«Glauben! ‒ Es gibt keinen, hätte ich fast gesagt. Es gibt nur ‒ die Liebe. Die Forcierung des Herzens, das und jenes für wahr zu halten, die man gewöhnlich Glauben nennt, hat keinen Sinn. Erst muss man Gott irgendwo finden, ihn erfahren, als so unendlich, so überaus, so ungeheuer vorhanden ‒, dann sei's Furcht, sei's Staunen, sei's Atemlosigkeit, sei's am Ende ‒ Liebe, was man dann zu ihm fasst, darauf kommt es kaum noch an, ‒ aber der Glaube, dieser Zwang zu Gott, hat keinen Platz, wo einer mit der Entdeckung Gottes begonnen hat, in der es dann kein Aufhören mehr gibt, mag man an welcher Stelle immer begonnen haben.»
[9] Clemens von Alexandria (um 150-215): ‹Des Clemens von Alexandria ausgewählte Schriften›, Bd 1, übers. v. Otto Stählin (= Bibliothek der Kirchenväter, 2. Reihe, Band 7), Kempten/München 1934,76.; sowie Karin Berhalter, Christus ‒ der andere Orpheus. Morgengedanken. In: Kirche im SWR. https://www.kirche-im-swr.de/beitraege/?id=26218 (Zugriff: August 2025)