LEBENSTHEMEN und SCHLÜSSELBEGRIFFE

LEBENSTHEMEN und SCHLÜSSELBEGRIFFE

Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

[Video 3  Interview mit Bruder David, (01:02-11:55):] «Mir liegt schon sehr am Herzen, einen kleinen Beitrag zu leisten zu dem Dialog zwischen dem Islam und dem Christentum. Ich habe mit anderen Religionen mehr Gelegenheit gehabt, Brücken zu bauen und mit dem Islam noch sehr wenig. Das ist heute ganz besonders wichtig wegen der Flüchtlingsfrage und da ist meine Überzeugung, dass Europa den Islam braucht. Und zwar sind uns Dinge verlorengegangen, die wir bis noch vor nicht allzu langer Zeit allgemein gehabt haben in Europa. 

Ich möchte nur drei aufzählen: Zuerst das ständige Bewusstsein der Gegenwart Gottes. Heutzutage ist das einfach nicht mehr gegeben in unserer Kultur. Man darf natürlich nur Gleiches mit Gleichem vergleichen, nicht das Beste am Islam mit dem Schlechtesten bei uns oder umgekehrt. Aber wenn man Gleiches mit Gleichem vergleicht, dann ist im Islam das Gottesbewusstsein einfach gegeben, und zwar noch ein besonderer Akzent des Gottesbewusstseins: die Schönheit.

Wenn wir bei uns an Gott denken, denken wir vielleicht an Gott den Gütigen oder Heiligen, viele Menschen vor allem an den Richter, der uns ständig richtende,[1] sehr selten wird jemandem in unseren Breitengraden einfallen, an Gott als den Schönen zu denken. Und wir begegnen Gott in der Schönheit. Das haben wir wieder zurückzugewinnen. Wir hatten das einmal, in der Barockzeit zuletzt.

Der zweite Punkt ist das Gebet: Das Gebet stirbt überhaupt schon aus in Europa. Besonders das Gebet zu gewissen Zeiten. Die Angelus-Glocken läuteten in Europa früh am Morgen, mittags und abends und man betete den Angelus. Aber die Glocken hören auf zu läuten, weil sie die Leute stören: in der Frühe will man keine Glocken hören, und wenn sie läuten, wer betet schon den Angelus: das ist uns verloren gegangen, und die Muslime beten fünf Mal am Tag …

Wir haben schon noch Rituale, am 6. Januar das Segnen des Hauses,[2] das ist ein schönes Ritual und bedeutet, dass die Leute bewusst ihr Haus und ihre Familie unter den Segen Gottes stellen. Aber ein tägliches gemeinsames Gebet wie das Angelus-Gebet[3], das ist uns verloren gegangen.

Und ein dritter Punkt ist die Dichtung. Die große Wichtigkeit der Dichtung und der religiösen Dichtung im Islam. Auch wir haben das gehabt, und zwar in hochinteressanter Weise, ich bin dem nachgegangen: Zwischen der ersten und der zweiten Türkenbelagerung Wiens (zwischen 1529 und 1683), der Islam vor den Toren Europas: gerade in dieser Zeit bei uns in Europa, hat die religiöse Dichtung einen Höhepunkt gehabt. Zusammen mit der Barockmusik singen wir immer noch die Lieder aus dieser Zeit, aber die meisten Leute haben die Dichter vergessen, die diese religiösen Lieder geschrieben haben: Paul Gerhardt (1607-1657), Angelus Silesius (1624-1677), Jakob Böhme (1575-1624), Paul Flemming (1609-1640), Martin Luther (1483-1546), ganz große religiöse Dichter. Gerade in dieser Zeit hat sich Europa gegenüber dem Islam verteidigt. Und nun hat sich die Situation umgedreht, und heute brauchen wir den Islam. Das ist meine Überzeugung und ich tue mein Bestes, das Menschen auch mitzuteilen. Wir brauchen diesen Einfluss.»

Johannes Pausch: «Als wir uns darüber unterhalten haben, hast du auch noch angemerkt, das beziehe sich nicht nur auf die Dichtung, sondern auf jede Form von Kreativität. Spiritualität ist ja Kreativität, inspiriert vom Spiritus Creator, dem Schöpfer Geist,[4] und wir sollten uns bewusst machen, dass alle Formen der Kunst und der Kultur ‒»

BD «religiös durchformt sind. Und auch bei uns traditionell religiös durchformt waren, und jetzt nicht mehr sind. Auch da können wir lernen und auch in dieser Hinsicht brauchen wir den Islam und die Inspiration des Islam, dass die höchste Kunst religiöse Kunst ist. Sie braucht nicht religiöse Motive darzustellen, aber die Verbindung zwischen Kunst und Religion ist uns auch verloren gegangen.»

JP «Du hast noch etwas gesagt: ‹Uns ist die Alltagstauglichkeit von Religion abhandengekommen›. Wir gehen vielleicht noch in die Kirche, aber dass unser Leben durchdrungen ist von Religiosität und von Spiritualität, das ist uns abhandengekommen.»

BD «Und wir dürfen nicht sagen, dass die Aufklärung schuld ist. Die Aufklärung war ein großes Geschenk für Europa und die Aufklärung war tief religiös. Die war gegen die institutionelle Kirche und die hat das verdient damals. Aber die Aufklärung ist ein großes Geschenk für uns alle, und das wollen wir nicht rückgängig machen. Aber die Aufklärung war theistisch, und wir haben das verloren. Die Aufklärung war getragen vom Bewusstsein der Heiligkeit der Welt und der Heiligkeit der Schöpfung: dessen müssen wir uns auch bewusstwerden.»

JP «David, die große Frage ist dann natürlich jedes Mal wieder: Wie kann so ein Thema vermittelt werden? Ich nehme an, die Hälfte der Leute, die hier sind, sind sicher hoch motiviert und die andere Hälfte vielleicht nicht.»

BD «Ich glaube fast alle.» (Lachen im Saal)

JP: «Wir müssen nach Wegen suchen, diesen spirituellen Inhalt wieder zu vermitteln.»

BD: «Die Vermittlung, wie ich sie mir vorstelle, ist nicht so, dass man jemandem predigt, sondern dadurch, dass man Menschen kennenlernt. Das ist wirklich nicht leicht. Aber es ist unsere Aufgabe. Wenn wir auch nur den geringsten Verdacht haben, dass vielleicht doch der Islam uns etwas zu geben hat, dann muss man Muslime suchen und sie fragen:

‹Wollt ihr nicht zu uns kommen und mit uns Weihnachten feiern›? Oder ihnen anbieten: ‹Wir hören, dass Sie jetzt Ramadan haben, wir möchten uns ein bisschen dran beteiligen. Wir können es nicht einen Monat lang machen, aber wir fasten mit Ihnen eine Woche lang›.

Warum auch nicht? Oder: die Kinder in der Schule haben ja sehr viele muslimische Schulkollegen und -kolleginnen und die Eltern laden sie ein, gemeinsam Geburtstage zu feiern und religiöse Feste. Das wäre möglich und meiner Meinung nach dringend nötig.»

(15:28) Bruder David am Ende des Gesprächs, zur Ehre von Shams Anwari-Alhosseyni, dem Kalligraphen des Buches 99 Namen Gottes (2019) mit seinen geweihten Händen:

«Es gibt im Grunde nur Gebete,
so sind die Hände uns geweiht,
dass sie nichts schufen, was nicht flehte;
ob einer malte oder mähte,
schon aus dem Ringen der Geräte
entfaltete sich Frömmigkeit.»

R. M. Rilke: ‹Alle, die ihre Hände regen› (Das Stunden-Buch)

«Und ‹Frömmigkeit› ist ein Wort, das für uns heute altmodisch klingt und so viel besagt wie ‹frömmelnd›. Aber Frömmigkeit bedeutet ursprünglich die Haltung aller allen gegenüber im Gotteshaushalt, im Welthaushalt.[5] Es ist eine Übersetzung des lateinischen Wortes ‹Pietas›. Und Pietas war die Liebe der Eltern zu den Kindern, der Kinder zu den Eltern, der Freien zu den Sklaven ‒ die haben auch dazugehört ‒, zu den Tieren, zu den Feldern, zu den Ahnen, zu den Hausgöttern: das alles war ‹Frömmigkeit›. Und die entfaltet sich ganz spontan aus dem Werk unserer Hände. Und in ganz besonderer Weise durch die Kalligraphie, und dafür danke ich ganz herzlich.

Bruder David spricht das Gedicht noch einmal mit Bezug auf das kalligraphische Meisterwerk in der Gestaltung des Buches:

«… selbst in dem Ringen der Geräte
selbst in dem Ringen der Tinte und des Calamus
.»

[Sinngemäß transkribierte Passagen aus Video 3: Interview mit Bruder David (01:02-11:55) und (15:21-18:10) anlässlich der Buchpräsentation 99 Namen Gottes im Europakloster Gut Aich]

[Ergänzend:

1. Audios

1.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Verstehen durch TUN:
(13:56) ‹Alle, die ihre Hände regen› ‒ ‹Es gibt im Grunde nur Gebete› (Rilke: Das Stunden-Buch): Frömmigkeit: ‹Pietas› und Dankbares Leben

1.2. Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Vortrag in Themen des Abends aufgeteilt:
Audio: Muslime kennenlernen!

1.3. Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (2010)
Fragerunde nach dem Vortrag in Wien (27. Oktober 2010):
(30:38) Gewalt im Islam – Muslime persönlich kennenlernen!

2. Texte

2.1. Zwei kurze Einblicke in das Buch von Bruder David in Zusammenarbeit mit dem Kalligraphen Shams Anwari-Alhosseyni 99 Namen Gottes (2019), siehe 49 der AUFERWECKER der Toten …, 105, und 90 der ZURÜCKWEISENDE, der Hindernde, 187:

«Du kannst die Augen schließen, tief einatmen und dir gewahr werden, wie dich eine geheimnisvolle Wirklichkeit, die wir das Leben nennen, belebt. Erinnere dich nun, dass das Große Geheimnis keine unpersönliche, mechanische Wirklichkeit ist, sondern dein Ur-Du, und schon gibt der AUFERWECKER dir einen kleinen Vorgeschmack von der Seligkeit hellwachen Lebens, das deine überzeitliche Bestimmung ist.» (105)

«Wir dürfen nicht vergessen, dass unser tägliches Leben nichts Anderes ist, als immer wieder neue Gelegenheit zur Begegnung mit dem namenlosen Geheimnis, das hinter allen Gottesnamen steht.

‹Kein Schicksal, keine Absage, keine Not ist einfach aussichtslos›,
schreibt Rilke.
‹Irgendwo kann das härteste Gestrüpp es zu Blättern bringen,
zu einer Blüte, zu einer Frucht.
Und irgendwo in Gottes äußerster Vorsehung
wird auch schon ein Insekt sein,
das aus dieser Blüte Reichtum trägt …›

Im Vertrauen auf den ZURÜCKWEISENDEN dürfen wir selber wohl jene Bienen sein, die auch aus den Blüten von Absage und Verweigerung Süßes saugen.» (187)

2.2. ‹Es gibt im Grunde nur Gebete› (Rilke: Das Stundenbuch), das Gedicht in Arbeit Gebet; Kontemplation im Handeln: Ergänzend: 5.; Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht; Dankbarkeit als Schlüsselwort benediktinischer Spiritualität (2019): Benediktinische Wahlsprüche: ‹Ora et labora›

2.3. Das lateinische Wort ‹Pietas› in der Bedeutung von ‹Familiensinn› in Familie

2.4. Der Verlust der Ehrfurcht

Bruder David nach dem Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 in Terrorismus oder Humanismus (5. Februar 2015):

«Was die Terroristen in Paris aufstachelte, war nicht die Pressefreiheit, sondern ihr schamloser Missbrauch: ehrfurchtslose Verletzung religiöser Sensibilität. Wache junge Muslime haben ein gesundes Gefühl für traditionelle Werte ihrer Kultur. Sie sehen sich bedroht, weil unsere Gesellschaft Werte missachtet, die ihnen heilig sind ‒ etwa die Ehrfurcht. Unser Werteverlust muss ihnen dekadent erscheinen ‒ und ist es leider tatsächlich. So spielen wir selber, wenn auch unabsichtlich, einer entrüsteten Jugend radikale Elemente in die Hände.»]

________________ 

[1] Audio In der Liebe gedeihen – Eine Begegnung mit David Steindl-Rast (2025): Maria Harmer trifft Bruder David kurz vor seinem 99. Geburtstag in Wien:
(00:20) Gott ein strenger Richter: Diese Vorstellung hat viele Menschen verletzt: Gemeint ist ‹richten› im Sinn von: ‹Er richtet, was zerbrochen ist, wie Kinder sagen: Der Papa wird’s schon richten› (09:21) Auf seine eigene Endlichkeit angesprochen, antwortet Bruder David mit einem Wort des hl. Johannes vom Kreuz (1542-1591): ‹Am Ende unseres Lebens werden wir von der Liebe gerichtet werden. Die Liebe wird uns zurechtrichten: alles, was noch nicht richtig da war, was uns nicht ganz gelungen ist im Leben. Also wir erwarten nicht einen strengen Richter, sondern einen liebenden Zurechtrichter.›

Siehe auch: Liebe gläubig leben: Ergänzend: 1.4.

[2] Früher zogen am Dreikönigsfest (Epiphanie, 6. Januar) Sternsinger mit Weihrauch von Haus zu Haus und schrieben auf die Haustüre mit geweihter Kreide die Segensbitte C+M+B: ‹Christus mansionem benedicat›‹Christus segne dieses Haus›.

[3] Bruder David in seinem Buch Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹1. Mensch werden: Meine Herzmitte finden und den Zugang dazu, 1926-1936›, 9f.:

«… Eine steinerne Wendeltreppe führt in den ersten Stock hinauf; ich nenne ihn den ‹alten Stock›, weil meine Großmutter und meine Urgroßmutter dort oben wohnen. Im ‹alten Stock› bin ich am liebsten. Dort baut meine Großmutter oft ein Zelt aus einem bunten Tischtuch, das sie über zwei Sessellehnen breitete; da fühle ich mich geborgen und lasse mich von meiner Omi bewirten. Wir staunen gemeinsam über das Tanzen der Sonnenstäubchen, wenn Lichtstrahlen zwischen den schweren Vorhängen ins Zimmer strömen. Wir beten auch gemeinsam. Von meiner Großmutter lerne ich das Vaterunser, das Angelus-Gebet und bald den ganzen Rosenkranz.»

[4] Der Pfingsthymnus ‹Veni creator spiritus› und das Kirchenlied ‹Komm, Schöpfer Geist, kehr bei uns ein›

[5] TAO der Hoffnung (1994)
Audio: Diskussion:
(30:59) Liebe ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit – Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter – (38:46) ‹Wisst ihr das denn nicht›?, sagt Jesus ‒ das ist ja seine Lehrmethode ‒ und wir sagen: ‹Ja wir wissen es!› ‹Aha, ihr wisst es so gut, der
Hausverstand sagt uns das ja schon›! ‹Ah, was für ein Hausverstand ist denn das›? Das ist das Welthaus, das ist der Haushalt, dem wir alle angehören, der Welthaushalt, der Gotteshaushalt, zu dem auch die Tiere und die Pflanzen gehören: Hausverstand ist ein wunderschönes Wort.



Quellenangaben

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